Sie
waren als ein munterer Knabe oft um mich herum; Sie erklärten mir die
Gegenstände der Gemälde und wußten überhaupt das Kabinett recht gut
auszulegen."
"Ich erinnere mich einer solchen Person, aber in Ihnen hätte ich sie
nicht wiedererkannt."
"Es ist auch schon eine geraume Zeit, und wir verändern uns doch mehr
oder weniger. Sie hatten, wenn ich mich recht erinnere, ein
Lieblingsbild darunter, von dem Sie mich gar nicht weglassen wollten."
"Ganz richtig! es stellte die Geschichte vor, wie der kranke
Königssohn sich über die Braut seines Vaters in Liebe verzehrt."
"Es war eben nicht das beste Gemälde, nicht gut zusammengesetzt, von
keiner sonderlichen Farbe, und die Ausführung durchaus manieriert."
"Das verstand ich nicht und versteh es noch nicht; der Gegenstand ist
es, der mich an einem Gemälde reizt, nicht die Kunst."
"Da schien Ihr Großvater anders zu denken; denn der größte Teil seiner
Sammlung bestand aus trefflichen Sachen, in denen man immer das
Verdienst ihres Meisters bewunderte, sie mochten vorstellen, was sie
wollten; auch hing dieses Bild in dem äußersten Vorsaale, zum Zeichen,
daß er es wenig schätzte."
"Da war es eben, wo wir Kinder immer spielen durften und wo dieses
Bild einen unauslöschlichen Eindruck auf mich machte, den mir selbst
Ihre Kritik, die ich übrigens verehre, nicht auslöschen könnte, wenn
wir auch jetzt vor dem Bilde stünden. Wie jammerte mich, wie jammert
mich noch ein Jüngling, der die süßen Triebe, das schönste Erbteil,
das uns die Natur gab, in sich verschließen und das Feuer, das ihn und
andere erwärmen und beleben sollte, in seinem Busen verbergen muß, so
daß sein Innerstes unter ungeheuren Schmerzen verzehrt wird! Wie
bedaure ich die Unglückliche, die sich einem andern widmen soll, wenn
ihr Herz schon den würdigen Gegenstand eines wahren und reinen
Verlangens gefunden hat!"
"Diese Gefühle sind freilich sehr weit von jenen Betrachtungen
entfernt, unter denen ein Kunstliebhaber die Werke großer Meister
anzusehen pflegt; wahrscheinlich würde Ihnen aber, wenn das Kabinett
ein Eigentum Ihres Hauses geblieben wäre, nach und nach der Sinn für
die Werke selbst aufgegangen sein, so daß Sie nicht immer nur sich
selbst und Ihre Neigung in den Kunstwerken gesehen hätten."
"Gewiß tat mir der Verkauf des Kabinetts gleich sehr leid, und ich
habe es auch in reifern Jahren öfters vermißt; wenn ich aber bedenke,
daß es gleichsam so sein mußte, um eine Liebhaberei, um ein Talent in
mir zu entwickeln, die weit mehr auf mein Leben wirken sollten, als
jene leblosen Bilder je getan hätten, so bescheide ich mich dann gern
und verehre das Schicksal, das mein Bestes und eines jeden Bestes
einzuleiten weiß."
"Leider höre ich schon wieder das Wort Schicksal von einem jungen
Manne aussprechen, der sich eben in einem Alter befindet, wo man
gewöhnlich seinen lebhaften Neigungen den Willen höherer Wesen
unterzuschieben pflegt."
"So glauben Sie kein Schicksal? Keine Macht, die über uns waltet und
alles zu unserm Besten lenkt?"
"Es ist hier die Rede nicht von meinem Glauben, noch der Ort,
auszulegen, wie ich mir Dinge, die uns allen unbegreiflich sind,
einigermaßen denkbar zu machen suche; hier ist nur die Frage, welche
Vorstellungsart zu unserm Besten gereicht. Das Gewebe dieser Welt ist
aus Notwendigkeit und Zufall gebildet; die Vernunft des Menschen
stellt sich zwischen beide und weiß sie zu beherrschen; sie behandelt
das Notwendige als den Grund ihres Daseins; das Zufällige weiß sie zu
lenken, zu leiten und zu nutzen, und nur, indem sie fest und
unerschütterlich steht, verdient der Mensch, ein Gott der Erde genannt
zu werden. Wehe dem, der sich von Jugend auf gewöhnt, in dem
Notwendigen etwas Willkürliches finden zu wollen, der dem Zufälligen
eine Art von Vernunft zuschreiben möchte, welcher zu folgen sogar eine
Religion sei. Heißt das etwas weiter, als seinem eignen Verstande
entsagen und seinen Neigungen unbedingten Raum geben? Wir bilden uns
ein, fromm zu sein, indem wir ohne Überlegung hinschlendern, uns durch
angenehme Zufälle determinieren lassen und endlich dem Resultate eines
solchen schwankenden Lebens den Namen einer göttlichen Führung geben."
"Waren Sie niemals in dem Falle, daß ein kleiner Umstand Sie
veranlaßte, einen gewissen Weg einzuschlagen, auf welchem bald eine
gefällige Gelegenheit Ihnen entgegenkam und eine Reihe von
unerwarteten Vorfällen Sie endlich ans Ziel brachte, das Sie selbst
noch kaum ins Auge gefaßt hatten? Sollte das nicht Ergebenheit in das
Schicksal, Zutrauen zu einer solchen Leitung einflößen?"
"Mit diesen Gesinnungen könnte kein Mädchen ihre Tugend, niemand sein
Geld im Beutel behalten; denn es gibt Anlässe genug, beides
loszuwerden. Ich kann mich nur über den Menschen freuen, der weiß,
was ihm und andern nütze ist, und seine Willkür zu beschränken
arbeitet. Jeder hat sein eigen Glück unter den Händen, wie der
Künstler eine rohe Materie, die er zu einer Gestalt umbilden will.
Aber es ist mit dieser Kunst wie mit allen; nur die Fähigkeit dazu
wird uns angeboren, sie will gelernt und sorgfältig ausgeübt sein."
Dieses und mehreres wurde noch unter ihnen abgehandelt; endlich
trennten sie sich, ohne daß sie einander sonderlich überzeugt zu haben
schienen, doch bestimmten sie auf den folgenden Tag einen Ort der
Zusammenkunft.
Wilhelm ging noch einige Straßen auf und nieder; er hörte Klarinetten,
Waldhörner und Fagotte, es schwoll sein Busen. Durchreisende
Spielleute machten eine angenehme Nachtmusik. Er sprach mit ihnen,
und um ein Stück Geld folgten sie ihm zu Marianens Wohnung. Hohe
Bäume zierten den Platz vor ihrem Hause, darunter stellte er seine
Sänger; er selbst ruhte auf einer Bank in einiger Entfernung und
überließ sich ganz den schwebenden Tönen, die in der rasenden Nacht um
ihn säuselten. Unter den holden Sternen hingestreckt, war ihm sein
Dasein wie ein goldner Traum. "Sie hört auch diese Flöten", sagte er
in seinem Herzen; "sie fühlt, wessen Andenken, wessen Liebe die Nacht
wohlklingend macht; auch in der Entfernung sind wir durch diese
Melodien zusammengebunden, wie in jeder Entfernung durch die feinste
Stimmung der Liebe. Ach! zwei liebende Herzen, sie sind wie zwei
Magnetuhren; was in der einen sich regt, muß auch die andere mit
bewegen, denn es ist nur eins, was in beiden wirkt, eine Kraft, die
sie durchgeht. Kann ich in ihren Armen eine Möglichkeit fühlen, mich
von ihr zu trennen? Und doch, ich werde fern von ihr sein, werde
einen Heilort für unsere Liebe suchen und werde sie immer mit mir
haben.
Wie oft ist mir's geschehen, daß ich, abwesend von ihr, in Gedanken an
sie verloren, ein Buch, ein Kleid oder sonst etwas berührte und
glaubte, ihre Hand zu fühlen, so ganz war ich mit ihrer Gegenwart
umkleidet. Und jener Augenblicke mich zu erinnern, die das Licht des
Tages wie das Auge des kalten Zuschauers fliehen, die zu genießen
Götter den schmerzlosen Zustand der reinen Seligkeit zu verlassen sich
entschließen dürften!—Mich zu erinnern?—Als wenn man den Rausch des
Taumelkelchs in der Erinnerung erneuern könnte, der unsere Sinne, von
himmlischen Banden umstrickt, aus aller ihrer Fassung reißt.—Und ihre
Gestalt—" Er verlor sich im Andenken an sie, seine Ruhe ging in
Verlangen über, er umfaßte einen Baum, kühlte seine heiße Wange an der
Rinde, und die Winde der Nacht saugten begierig den Hauch auf, der aus
dem reinen Busen bewegt hervordrang. Er fühlte nach dem Halstuch, das
er von ihr mitgenommen hatte, es war vergessen, es steckte im vorigen
Kleide. Seine Lippen lechzten, seine Glieder zitterten vor Verlangen.
Die Musik hörte auf, und es war ihm, als wär er aus dem Elemente
gefallen, in dem seine Empfindungen bisher emporgetragen wurden.
Seine Unruhe vermehrte sie, da seine Gefühle nicht mehr von den
sanften Tönen genährt und gelindert wurden. Er setzte sich auf ihre
Schwelle nieder und war schon mehr beruhigt. Er küßte den messingen
Ring, womit man an ihre Türe pochte, er küßte die Schwelle, über die
ihre Füße aus- und eingingen, und erwärmte sie durch das Feuer seiner
Brust. Dann saß er wieder eine Weile stille und dachte sie hinter
ihren Vorhängen, im weißen Nachtkleide mit dem roten Band um den Kopf,
in süßer Ruhe und dachte sich selbst so nahe zu ihr hin, daß ihm
vorkam, sie müßte nun von ihm träumen. Seine Gedanken waren lieblich
wie die Geister der Dämmerung; Ruhe und Verlangen wechselten in ihm;
die Liebe lief mit schaudernder Hand tausendfältig über alle Saiten
seiner Seele; es war, als wenn der Gesang der Sphären über ihm stille
stünde, um die leisen Melodien seines Herzens zu belauschen.
Hätte er den Hauptschlüssel bei sich gehabt, der ihm sonst Marianens
Türe öffnete, er würde sich nicht gehalten haben, würde ins Heiligtum
der Liebe eingedrungen sein. Doch er entfernte sich langsam,
schwankte halb träumend unter den Bäumen hin, wollte nach Hause und
ward immer wieder umgewendet; endlich, als er's über sich vermochte,
ging und an der Ecke noch einmal zurücksah, kam es ihm vor, als wenn
Marianens Türe sich öffnete und eine dunkle Gestalt sich herausbewegte.
Er war zu weit, um deutlich zu sehen, und eh er sich faßte und recht
aufsah, hatte sich die Erscheinung schon in der Nacht verloren; nur
ganz weit glaubte er sie wieder an einem weißen Hause vorbeistreifen
zu sehen. Er stund und blinzte, und ehe er sich ermannte und
nacheilte, war das Phantom verschwunden. Wohin sollt er ihm folgen?
Welche Straße hatte den Menschen aufgenommen, wenn es einer war?
Wie einer, dem der Blitz die Gegend in einem Winkel erhellte, gleich
darauf mit geblendeten Augen die vorigen Gestalten, den Zusammenhang
der Pfade in der Finsternis vergebens sucht, so war's vor seinen Augen,
so war's in seinem Herzen. Und wie ein Gespenst der Mitternacht, das
ungeheure Schrecken erzeugt, in folgenden Augenblicken der Fassung für
ein Kind des Schreckens gehalten wird und die fürchterliche
Erscheinung Zweifel ohne Ende in der Seele zurückläßt, so war auch
Wilhelm in der größten Unruhe, als er, an einen Eckstein gelehnt, die
Helle des Morgens und das Geschrei der Hähne nicht achtete, bis die
frühen Gewerbe lebendig zu werden anfingen und ihn nach Hause trieben.
Er hatte, wie er zurückkam, das unerwartete Blendwerk mit den
triftigsten Gründen beinahe aus der Seele vertrieben; doch die schöne
Stimmung der Nacht, an die er jetzt auch nur wie an eine Erscheinung
zurückdachte, war auch dahin. Sein Herz zu letzen, ein Siegel seinem
wiederkehrenden Glauben aufzudrücken, nahm er das Halstuch aus der
vorigen Tasche. Das Rauschen eines Zettels, der herausfiel, zog ihm
das Tuch von den Lippen; er hob auf und las:
"So hab ich dich lieb, kleiner Narre! Was war dir auch gestern?
Heute nacht komm ich zu dir. Ich glaube wohl, daß dir's leid tut, von
hier wegzugehen; aber habe Geduld; auf die Messe komm ich dir nach.
Höre, tu mir nicht wieder die schwarzgrünbraune Jacke an, du siehst
drin aus wie die Hexe von Endor. Hab ich dir nicht das weiße
Negligè darum geschickt, daß ich ein weißes Schäfchen in meinen
Armen haben will? Schick mir deine Zettel immer durch die alte
Sibylle; die hat der Teufel selbst zur Iris bestellt."
Ende dieses Project BookishMall.com Etextes "Wilhelm Meisters Lehrjahre-Buch 1"
von Johann Wolfgang von Goethe.
.
1 comment