Er verrichtete des Tags seine Geschäfte
pünktlich, entsagte gewöhnlich dem Schauspiel, war abends bei Tische
unterhaltend und schlich, wenn alles zu Bette war, in seinen Mantel
gehüllt, sachte zu dem Garten hinaus und eilte, alle Lindors und
Leanders im Busen, unaufhaltsam zu seiner Geliebten.
"Was bringen Sie?" fragte Mariane, als er eines Abends ein Bündel
hervorwies, das die Alte in Hoffnung angenehmer Geschenke sehr
aufmerksam betrachtete. "Sie werden es nicht erraten", versetzte
Wilhelm.
Wie verwunderte sich Mariane, wie entsetzte sich Barbara, als die
aufgebundene Serviette einen verworrenen Haufen spannenlanger Puppen
sehen ließ. Mariane lachte laut, als Wilhelm die verworrenen Drähte
auseinanderzuwickeln und jede Figur einzeln vorzuzeigen bemüht war.
Die Alte schlich verdrießlich beiseite.
Es bedarf nur einer Kleinigkeit, um zwei Liebende zu unterhalten, und
so vergnügten sich unsre Freunde diesen Abend aufs beste. Die kleine
Truppe wurde gemustert, jede Figur genau betrachtet und belacht.
König Saul im schwarzen Samtrocke mit der goldenen Krone wollte
Marianen gar nicht gefallen; er sehe ihr, sagte sie, zu steif und
pedantisch aus. Desto besser behagte ihr Jonathan, sein glattes Kinn,
sein gelb und rotes Kleid und der Turban. Auch wußte sie ihn gar
artig am Drahte hin und her zu drehen, ließ ihn Reverenzen machen und
Liebeserklärungen hersagen. Dagegen wollte sie dem Propheten Samuel
nicht die mindeste Aufmerksamkeit schenken, wenn ihr gleich Wilhelm
das Brustschildchen anpries und erzählte, daß der Schillertaft des
Leibrocks von einem alten Kleide der Großmutter genommen sei. David
war ihr zu klein und Goliath zu groß; sie hielt sich an ihren Jonathan.
Sie wußte ihm so artig zu tun und zuletzt ihre Liebkosungen von der
Puppe auf unsern Freund herüberzutragen, daß auch diesmal wieder ein
geringes Spiel die Einleitung glücklicher Stunden ward.
Aus der Süßigkeit ihrer zärtlichen Träume wurden sie durch einen Lärm
geweckt, welcher auf der Straße entstand. Mariane rief der Alten, die,
nach ihrer Gewohnheit noch fleißig, die veränderlichen Materialien
der Theatergarderobe zum Gebrauch des nächsten Stückes anzupassen
beschäftigt war. Sie gab die Auskunft, daß eben eine Gesellschaft
lustiger Gesellen aus dem Italienerkeller nebenan heraustaumle, wo sie
bei frischen Austern, die eben angekommen, des Champagners nicht
geschont hätten.
"Schade", sagte Mariane, "daß es uns nicht früher eingefallen ist, wir
hätten uns auch was zugute tun sollen."
"Es ist wohl noch Zeit", versetzte Wilhelm und reichte der Alten einen
Louisdor hin. "Verschafft Sie uns, was wir wünschen, so soll Sie's
mit genießen."
Die Alte war behend, und in kurzer Zeit stand ein artig bestellter
Tisch mit einer wohlgeordneten Kollation vor den Liebenden. Die Alte
mußte sich dazusetzen; man aß, trank und ließ sich's wohl sein.
In solchen Fällen fehlt es nie an Unterhaltung. Mariane nahm ihren
Jonathan wieder vor, und die Alte wußte das Gespräch auf Wilhelms
Lieblingsmaterie zu wenden. "Sie haben uns schon einmal", sagte sie,
"von der ersten Aufführung eines Puppenspiels am Weihnachtsabend
unterhalten; es war lustig zu hören. Sie wurden eben unterbrochen,
als das Ballett angehen sollte. Nun kennen wir das herrliche Personal,
das jene großen Wirkungen hervorbrachte."
"Ja", sagte Mariane, "erzähle uns weiter, wie war dir's zumute?"
"Es ist eine schöne Empfindung, liebe Mariane", versetzte Wilhelm,
"wenn wir uns alter Zeiten und alter unschädlicher Irrtümer erinnern,
besonders wenn es in einem Augenblick geschieht, da wir eine Höhe
glücklich erreicht haben, von welcher wir uns umsehen und den
zurückgelegten Weg überschauen können. Es ist so angenehm,
selbstzufrieden sich mancher Hindernisse zu erinnern, die wir oft mit
einem peinlichen Gefühle für unüberwindlich hielten, und dasjenige,
was wir jetzt entwickelt sind, mit dem zu vergleichen, was wir damals
unentwickelt waren. Aber unaussprechlich glücklich fühl ich mich
jetzt, da ich in diesem Augenblicke mit dir von dem Vergangnen rede,
weil ich zugleich vorwärts in das reizende Land schaue, das wir
zusammen Hand in Hand durchwandern können."
"Wie war es mit dem Ballett?" fiel die Alte ihm ein. "Ich fürchte, es
ist nicht alles abgelaufen, wie es sollte."
"O ja", versetzte Wilhelm, "sehr gut! Von jenen wunderlichen Sprüngen
der Mohren und Mohrinnen, Schäfer und Schäferinnen, Zwerge und
Zwerginnen ist mir eine dunkle Erinnerung auf mein ganzes Leben
geblieben. Nun fiel der Vorhang, die Türe schloß sich, und die ganze
kleine Gesellschaft eilte wie betrunken und taumelnd zu Bette; ich
weiß aber wohl, daß ich nicht einschlafen konnte, daß ich noch etwas
erzählt haben wollte, daß ich noch viele Fragen tat und daß ich nur
ungern die Wärterin entließ, die uns zur Ruhe gebracht hatte.
Den andern Morgen war leider das magische Gerüste wieder verschwunden,
der mystische Schleier weggehoben, man ging durch jene Türe wieder
frei aus einer Stube in die andere, und so viel Abenteuer hatten keine
Spur zurückgelassen. Meine Geschwister liefen mit ihren Spielsachen
auf und ab, ich allein schlich hin und her, es schien mir unmöglich,
daß da nur zwo Türpfosten sein sollten, wo gestern so viel Zauberei
gewesen war. Ach, wer eine verlorne Liebe sucht, kann nicht
unglücklicher sein, als ich mir damals schien!"
Ein freudetrunkner Blick, den er auf Marianen warf, überzeugte sie,
daß er nicht fürchtete, jemals in diesen Fall kommen zu können.
I. Buch, 4. Kapitel
Viertes Kapitel
"Mein einziger Wunsch war nunmehr", fuhr Wilhelm fort, "eine zweite
Aufführung des Stücks zu sehen. Ich lag der Mutter an, und diese
suchte zu einer gelegenen Stunde den Vater zu bereden; allein ihre
Mühe war vergebens. Er behauptete, nur ein seltenes Vergnügen könne
bei den Menschen einen Wert haben, Kinder und Alte wüßten nicht zu
schätzen, was ihnen Gutes täglich begegnete.
Wir hätten auch noch lange, vielleicht bis wieder Weihnachten, warten
müssen, hätte nicht der Erbauer und heimliche Direktor des Schauspiels
selbst Lust gefühlt, die Vorstellung zu wiederholen und dabei in einem
Nachspiele einen ganz frisch fertig gewordenen Hanswurst zu
produzieren.
Ein junger Mann von der Artillerie, mit vielen Talenten begabt,
besonders in mechanischen Arbeiten geschickt, der dem Vater während
des Bauens viele wesentliche Dienste geleistet hatte und von ihm
reichlich beschenkt worden war, wollte sich am Christfeste der kleinen
Familie dankbar erzeigen und machte dem Hause seines Gönners ein
Geschenk mit diesem ganz eingerichteten Theater, das er ehmals in
müßigen Stunden zusammengebaut, geschnitzt und gemalt hatte. Er war
es, der mit Hülfe eines Bedienten selbst die Puppen regierte und mit
verstellter Stimme die verschiedenen Rollen hersagte. Ihm ward nicht
schwer, den Vater zu bereden, der einem Freunde aus Gefälligkeit
zugestand, was er seinen Kindern aus Überzeugung abgeschlagen hatte.
Genug, das Theater ward wieder aufgestellt, einige Nachbarskinder
gebeten und das Stück wiederholt.
Hatte ich das erstemal die Freude der Überraschung und des Staunens,
so war zum zweiten Male die Wollust des Aufmerkens und Forschens groß.
Wie das zugehe, war jetzt mein Anliegen. Daß die Puppen nicht selbst
redeten, hatte ich mir schon das erstemal gesagt; daß sie sich nicht
von selbst bewegten, vermutete ich auch; aber warum das alles doch so
hübsch war und es doch so aussah, als wenn sie selbst redeten und sich
bewegten, und wo die Lichter und die Leute sein möchten, diese Rätsel
beunruhigten mich um desto mehr, je mehr ich wünschte, zugleich unter
den Bezauberten und Zauberern zu sein, zugleich meine Hände verdeckt
im Spiel zu haben und als Zuschauer die Freude der Illusion zu
genießen.
Das Stück war zu Ende, man machte Vorbereitungen zum Nachspiel, die
Zuschauer waren aufgestanden und schwatzten durcheinander. Ich
drängte mich näher an die Türe und hörte inwendig am Klappern, daß man
mit Aufräumen beschäftigt sei.
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