Auch ich hatte Mitleid, aber ich durfte diesem Gefühle nicht die Herrschaft über meine Entschlüsse einräumen. Das Herzle bombardierte mich mit bittenden Blicken, und als dies nicht schnell genug wirken wollte, ergriff sie gar meine Hand. Da sagte ich:
»Gut, so mag es sein. Geben wir uns Zeit zum Ueberlegen! Meine Frau war noch niemals mit da drüben. Sie erwartet ganz besonders, den Niagarafall zu sehen. Wir werden also von New York aus mit dem Hudsondampfer nach Albany fahren und von da mit der Bahn nach Buffalo, von wo aus es bis zu den Fällen nur noch eine Stunde ist. In Niagara-Falls wohnen wir auf der kanadischen Seite, und zwar im Clifton-Hotel, wo ich – – –«
»Das kenne ich; das kenne ich sehr gut!« unterbrach er mich. »Da ist man sehr gut aufgehoben. Ein Hotel allerersten Ranges, still, vornehm, mit allen Errungenschaften der Neuzeit ausgestattet und – – –«
»Well!« fiel nun ich ihm in die Rede, um ihm dieses Lob, mit dem er nur sich selbst in das Licht stellen wollte, abzuschneiden. »Wenn Ihr es kennt, so ist es ja gut. Also dort sind wir zu finden.«
»Wann?«
»Das weiß ich jetzt noch nicht. Am besten ist es, Ihr setzt Euch mit der Verwaltung dieses Hauses in Verbindung, daß sie Euch von unserer Ankunft sofortige Nachricht gibt.«
»Richtig! Das ist das Beste, und das werde ich tun!«
Dabei blieb es. Es gab hüben und drüben noch einige höfliche Abschiedsworte, dann war dieser Besuch, der viel größere Wichtigkeit besaß, als selbst ich jetzt dachte, beendet.
Das Herzle konnte nicht ganz mit mir zufrieden sein. Sie ist so sehr zum Mitleid und Erbarmen geneigt, und der ängstliche, gequälte Blick dieses Mannes wollte ihr noch tagelang nicht aus dem Sinne kommen. Sie meinte, daß ich nicht höflich genug und zu abweisend mit ihm verfahren sei.
»Warum tatest du das?« fragte sie.
»Weil er mich belog,« antwortete ich. »Weil er nicht offen und ehrlich war. Weißt du, wer er ist?«
»Ja.«
»Nun, wer?«
»Einer der beiden übriggebliebenen Söhne jener unglücklichen Familie, deren Glieder alle durch Selbstmord sterben.«
»Ja, das ist er allerdings, aber zugleich auch etwas Anderes. Er heißt nicht Enters.«
»Du glaubst, er führt einen falschen Namen?«
»Ja.«
»Hältst ihn also für einen Schwindler, einen Hochstabler?«
»Nein. Grad weil er ein ehrlicher Mann ist, trägt er nicht seinen eigentlichen, richtigen Namen. Er schämt sich desselben. Ich vermute sogar, daß er nur infolge meiner drei Bände ›Winnetou‹ auf diesen Namen verzichtete.«
Sie war so erstaunt hierüber, daß sie mich weiterzufragen vergaß. Darum fuhr ich unveranlaßt fort:
»Hältst du es für möglich, daß ich überzeugt bin, seinen wirklichen Namen zu wissen?«
»Sage ihn!« forderte sie mich auf.
»Dieser Mann heißt nicht anders als Sander.«
Da warf sie mir im höchsten Erstaunen die atemlose Frage hin:
»Welchen Sander meinst du? Den Mörder von Winnetous Vater und Schwester?«
»Ja. Der Mann, der bei uns war, ist sein Sohn.«
»Unmöglich, unmöglich!«
»Gewiß, gewiß!«
»Beweise es!«
»Das ist eigentlich gar nicht nötig. Du müßtest es ebenso schnell und leicht erraten haben wie ich.«
»Wirklich? Bis jetzt erkenne ich nur das Eine, daß du ihn für einen Lügner hältst, weil er sich Enters anstatt Sander nennt.«
»Wie falsch von dir, wie falsch! Wüchsen meine Folgerungen nur aus diesem einen Punkte heraus, so wäre ich ein außerordentlich schlechter Fährtenleser, ein Greenhorn, ein Hans Tapps, und hätte mich meiner Logik wegen rot und blau zu schämen. Ich bitte dich aber, daran zu denken, daß er sich extra einen Vorleser engagierte, um sich sofort Notizen machen zu können. Wie lange ist es wohl her, daß er dies tat?«
»Eine ganz beträchtliche Reihe von Jahren. Das sagte er ja selbst.«
»Schön! Und wozu hat er sich diese Notizen gemacht?«
»Aus rein literarischen Gründen, zu Buchhändlerzwecken. Auch das sagte er selbst.«
»Ganz richtig! Und hier liegt die Lüge, bei welcher die Fährte beginnt, die zu seinem richtigen, wirklichen Namen führt Er selbst hat zugegeben, daß er damals Großhändler in allerlei Schlachtvieh war, und du weißt sehr genau, wann er aufgehört hat, dies zu sein. Oder nicht?«
»Doch! Dieses Geschäft wurde erst im vorigen Jahre verkauft. Das hat er gestern beim Arzte gesagt.«
»Und dennoch schon vor so langen Jahren bereits rein ›buchhändlerische‹ Notizen? Glaubst du das?«
»Nein! Jetzt nicht mehr! Du, jetzt fange auch ich an, klar zu sehen.
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