Und da muß ich der Wahrheit die Ehre geben, indem ich gestehe, viel, sehr viel von diesen beiden Männern gelernt zu haben, trotz ihrer Einsilbigkeit und trotz der Kürze der Zeit, die wir bei ihnen verweilten. Denn aus ihrem Munde kam kein einziges Wort, welches nicht seinen besonderen Wert besaß. Oft hatte ein einziger Satz den Wert einer ganzen, vollen Lebenserfahrung. Diese beiden Häuptlinge glichen Giganten, welche große, vielzentnerschwere Gedanken aus den Felsenbergen brechen und hinab in die Ebene rollen lassen, damit die dortigen kleinen Menschen daran Arbeit für ihre feineren Werkzeuge finden. Es war ein sehr schöner, wenn auch sehr ernster Abend, der unser Denken, Fühlen, Wissen und Wollen bereicherte und gewiß, solange wir leben, uns im Gedächtnis bleiben wird.
Es war grad Mitternacht, als wir uns trennten. Wir hatten nicht etwa die ganze Zeit bis dahin im Zimmer gesessen, sondern uns einen Tisch mit Stühlen auf die Plattform stellen lassen. Da saßen wir nach dem Essen, um dem vor unserm Auge niederstürzenden Niagara einen seiner Gedanken nach dem andern zu entringen. Erst im letzten Augenblick, als wir uns verabschieden wollten, erfuhren wir, daß Athabaska und Algongka schon morgen abreisen würden und uns also ihren letzten Abend geschenkt hatten. Daran war das Herzle mit ihren Blumen schuld!
Keiner von Beiden ahnte, daß wir Deutsche seien, noch weniger aber, daß wir dasselbe Reiseziel hatten wie sie. Sie fragten nicht nach unserer Adresse; sie schwiegen darüber, ob sie ein Wiedersehen wünschten oder nicht. Aber als ich ihnen meine Hände reichte, wurden diese von ihnen länger festgehalten, als eigentlich gebräuchlich ist. Dann trat Athabaska so nahe an meine Frau heran, wie möglich war, ohne ihre Gestalt zu berühren, legte beide Hände an ihren Kopf, zog ihn noch näher an sich und drückte seine Lippen auf ihr Haar.
»Athabaska segnet Euch!« sagte er.
Algongka folgte diesem Bespiele und sprach dabei dieselben Worte, die aus dem Herzen kamen. Das hörte man den beiden Männern an, und das ersah man auch aus der Schnelligkeit, mit der sie dann in ihrer Wohnung verschwanden.
Diese Wohnung lag so ziemlich in der Mitte der Zimmerreihe, die unsere aber, deren Tür wir offen gelassen hatten, am Ende derselben. Wir mußten also, um nach der letzteren zu kommen, an dem neben uns liegenden Raum der Gebrüder Enters vorüber. Als wir uns diesem näherten, sahen wir, daß er erleuchtet war. Zwar stand die Tür nicht offen wie die unsere, aber die Klappen der Jalousie waren geöffnet, und es drang nicht nur das Licht heraus, sondern auch der laute Klang zweier Stimmen, die grad in diesem Augenblick sich in Erregung zu befinden schienen. Die Brüder waren schon heut zurückgekehrt. Sie schritten, sich zankend, in ihrer Stube auf und ab. Wir gingen selbstverständlich nicht vorüber, sondern wir blieben an ihrer Tür stehen und hörten, daß Hariman soeben sprach:
»– – also wiederhole ich: Schrei nicht so! Wir wohnen bekanntlich nicht allein in diesem Hotel!«
»Der Teufel hole es, dieses Clifton-House! Kein Mensch hält uns für voll! Uebrigens bezahlen wir dieses Zimmer, und ich kann also hier schreien, so laut es mir beliebt! Der Alte kann es nicht mehr hören; er ist fort. Sein Name ist ausgestrichen. May aber steht noch immer nicht da. Das paßt mir schlecht! Wie lange soll man da warten! Jetzt, wo wir heut wieder hörten, wie sehr es mit der Devils pulpit5 eilt! Kommen wir auch nur einen halben Tag zu spät, so verlieren wir Summen, deren Höhe sich jetzt gar nicht bestimmen läßt!«
Der so sprach, war Sebulon. Hariman antwortete:
»Das befürchte ich allerdings auch. Aber können wir fortgehen, ohne die Ankunft dieses für uns hochwichtigen deutschen Ehepaares abgewartet zu haben?«
»Warum nicht? Wenigstens Einer von uns Beiden kann fort, um Kiktahan Schonka6 festzuhalten, bis der Andere ihm folgt! Aber das ist es doch gar nicht, was mich so erregt, sondern mich ärgert deine sogenannte Ehrlichkeit, die mir in unsern Verhältnissen so wahnsinnig vorkommt, daß es mir geradezu unmöglich ist, sie zu begreifen! Ja, wir wollen und müssen den Nugget-tsil und das ›Dunkle‹ oder meinetwegen auch ›Finstere Wasser‹ kennen lernen, und dieser Deutsche ist der Einzige, der imstande ist, uns diese Orte zu zeigen. Aber das ist noch lange kein Grund, ihm so, wie du willst, mit ganz besonderer Liebe zugetan zu sein!«
»Wer hat hiervon gesprochen? Ich nicht! Ich habe nur Ehrlichkeit verlangt, keine besondere Liebe!«
»Pshaw! Ehrlichkeit gegen den Mörder unsers Vaters!«
»Das ist er nicht! Vater war selbst daran schuld, daß er in dieser Weise zugrunde ging! Und er holt uns nach, uns alle, uns alle! Nur wir Beiden sind noch übrig. Und wenn wir nicht ehrlich sind, geht es mit uns in doppelter Eile zu Ende! Ich hoffe und hoffe noch immer auf Rettung! Die aber ist nur dann möglich, wenn das Geschehene Verzeihung findet. Und auch hier ist der Deutsche der Einzige, der sie gewähren kann; die Andern sind ja tot! Siehst du das nicht ein?«
Sebulon antwortete nicht gleich. Es wurde für kurze Zeit still. Wir hörten ein Räuspern, welches aber schon mehr wie Schluchzen klang. Von wem kam das? Von Hariman? Von Sebulon? Dann sagte der Letztere, aber mehr klagend als erregt:
»Es ist fürchterlich, geradezu fürchterlich, wie das innerlich schreit und lockt, wie es treibt und schiebt, wie es drängt und drängt, immer weiter, immer weiter! Ich wollte, ich wäre schon tot!«
»Ich auch, ich auch!«
Wieder trat eine Pause ein, nach welcher wir Sebulon sagen hörten:
»Es rechnet in mir, es rechnet.
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