Da gewann er Vertrauen zu mir und teilte mir mit, was er sonst Keinem sagte. Ein Bruder und eine Schwester hatten sich bereits das Leben genommen; der Vater ebenso. Die Mutter war vor Gram und Angst gestorben. Eine zweite Schwester schickte ihm jetzt während seiner Auslandstour Briefe nach, daß sie dem unglückseligen Drange unmöglich länger widerstehen könne, und er selbst war nur deshalb Arzt geworden, um, falls kein Anderer helfen könne, vielleicht selbst den Weg der Rettung zu finden.«

»Was ist aus ihm und seiner Schwester geworden?«

»Das weiß ich nicht. Er versprach mir, zu schreiben und mir seine heimatliche Adresse anzugeben, hat dies aber nicht getan. Er war Oesterreicher. Stand es mit diesem Ihrem Amerikaner ebenso traurig?«

»Ob mit ihm selbst, kann ich nicht sagen. Er nannte keine Namen, auch den seinigen nicht, und tat so, als ob er nur von Bekannten spreche, nicht aber von seiner eigenen Familie. Aber der Eindruck, den er auf mich machte, war ein solcher, daß ich ihn für persönlich beteiligt halte. Er hatte so unendlich traurige Augen. Er schien ein guter Mensch zu sein, und es tat mir wirklich aufrichtig leid, ihm keine sichere Hilfe in Aussicht stellen zu können.«

»Aber doch wenigstens Trost?«

»Ja, Rat und Trost. Aber denken Sie sich so eine Fülle von Unheil: Die Mutter hatte Gift genommen. Der Vater war spurlos verschwunden. Von fünf Kindern, die lauter Söhne waren, lebten nur noch zwei. Sie alle sind verheiratet gewesen, aber von ihren Frauen verlassen worden, weil bei ihren Kindern der Drang zum Selbstmord schon im Alter von neun oder zehn Jahren eingetreten ist und sich derart schnell entwickelt hat, daß nur ein einziges von ihnen das Alter von sechzehn Jahren erreichte.«

»Sie sind also alle tot?«

»Ja, alle. Nur die erwähnten beiden Brüder leben noch. Aber sie kämpfen mit dem Mordzwange Tag und Nacht, und ich glaube nicht, daß einer von ihnen so stark sein wird, diesen Dämon in sich zu besiegen.«

»Schrecklich!«

»Ja, schrecklich! Aber ebenso rätselhaft wie schrecklich! Dieser unglückselige Drang existiert nämlich nur erst in der zweiten Generation; vorher war er nicht vorhanden. Leider konnte mir nicht gesagt werden, bei wem er sich zuerst äußerte, ob bei der an Gift gestorbenen Mutter oder bei dem verschollenen Vater. Auch erfuhr ich nicht, ob diese Krankheit etwa seit irgend einem Ereignisse datiert, welches mit großen oder gar unheilvollen seelischen Erschütterungen verbunden war. Das würde doch wenigstens einen Anhalt geben. So aber mußte ich mich darauf beschränken, anstrengende Arbeit für Körper und Geist anzuraten, treue Pflichterfüllung, die mit heiterer, aber ja nicht niedriger Zerstreuung abzuwechseln hat, und vor allen Dingen fortwährende Uebung und Weiterstählung der Charakter- und Willenskräfte, auf die es hier in diesem Falle am meisten anzukommen hat.«

»Haben Sie den Stand dieser unglücklichen Familie erfahren?«

»Ja. Das war ja eine der Hauptfragen, die ich vorzulegen hatte. Der verschollene Vater war Westmann, Squatter, Trapper, Goldsucher und sonst alles Derartige gewesen und hat von Zeit zu Zeit das, was er dabei erübrigte, heimgebracht. Das sind oft ganz ansehnliche Summen gewesen. Er hat die Manie gehabt, Millionär werden zu wollen. Das wurde zwar nicht erreicht, aber reich, ziemlich reich ist die Familie doch geworden. Die fünf Brüder vereinigten sich zu einem Großgeschäft in Pferden, Rindern, Schafen und Schweinen – –«

»Sie hatten also wohl viel mit den großen Schlächtereien zu tun?« unterbrach ich ihn.

»Allerdings.«

»Das konnte bei dieser Veranlagung nur schädlich sein, sehr schädlich!«

»Unbedingt! Massentötung von Schlachtvieh! Warmer Blutdunst! Immerwährender Fleisch- oder gar Kadavergeruch! Hieraus folgende Verhärtung des Mitgefühles! Förmliche Auffütterung und Anmästung jenes innerlichen Dämons! Ich habe das dem Amerikaner ganz offen gesagt und ihn gewarnt. Da teilte er mir mit, daß er das gar wohl gefühlt habe und darum für die beiden Brüder der Ratgeber und Helfer gewesen sei, das Geschäft zu verkaufen. Das sei im vorigen Jahr geschehen, doch ohne daß sich hierauf eine Veränderung oder gar Verringerung des Leidens eingestellt habe. – Doch, da unterhalte ich Sie noch am späten Abend mit Dingen, die Ihnen und mir nur die Nachtruhe verderben können.