Nicht nur wurden die hungrigen Wölfe dreister, sondern Heinrich litt auch unter der Schlaflosigkeit. Er entschlummerte unwillkürlich, wie er mit den Decken um die Schultern, dem Beil zwischen den Knien und den Hunden zu beiden Seiten neben dem Feuer hockte. Er erwachte einmal und erblickte vor sich, nicht zwölf Schritt entfernt, einen großen grauen Wolf, einen der größten des Rudels. Als er ihn erblickte, reckte sich das Tier bedächtig wie ein Hund und gähnte ihm ins Gesicht, indem es ihn mit einem Ausdruck anschaute, als sei er nur eine hinausgeschobene Mahlzeit, die bald verzehrt werden würde, und diese Sicherheit zeigte auch das ganze Rudel. Er zählte noch zwanzig Wölfe, die ihn alle hungrig anstarrten oder ruhig im Schnee liefen. Sie erinnerten ihn an Kinder, die um einen gedeckten Tisch herumstehen und nur auf die Erlaubnis zum Essen warten. Und er selber war diese Mahlzeit! Er wunderte sich nur, wie und wann sie beginnen würde.
Wie er so Holz auf das Feuer warf, kam es ihm in den Sinn, daß er seinen Körper noch nie zuvor so bewundert hatte. Er betrachtete das Spiel der Muskeln, er bewunderte die sinnreiche Mechanik der Finger. Beim Schein des Feuers krümmte er sie langsam und wiederholt; bald jeden einzeln, bald alle zusammen spreizte er sie aus und machte damit schnelle Bewegungen des Greifens. Er besah genau die Nägel, betastete bald derb, bald sanft die Fingerspitzen, um das Gefühl in den Nerven zu prüfen. Das alles entzückte ihn, und er fing auf einmal an, diesen so kunstvoll bereiteten Leib liebzugewinnen, der so schön, so glatt, so fein arbeitend ihm gehorchte. Dann warf er einen scheuen Blick auf die Wölfe, die erwartungsvoll im Kreise um ihn herumstanden, und mit einem Schlage fuhr es ihm durch den Sinn, daß dieser wunderbare Leib, dies lebendige Fleisch nichts weiter sei als eine von den hungrigen Tieren heißbegehrte Speise, die sie gierig mit den Zähnen zerfleischen würden, geradeso wie ein Elch, ein Kaninchen auch nur Speise für ihn gewesen wäre.
Einmal fuhr er aus dem Schlummer, der nur einem bösen Traume glich, empor und sah die rötliche Wölfin vor sich. Sie saß nur ein halb Dutzend Schritte von ihm entfernt im Schnee und blickte ihn unverwandt an. Die beiden Hunde ihm zu Füßen winselten und knurrten, aber sie kümmerte sich darum nicht. Sie blickte nur den Mann an, und auch er starrte sie eine Weile an. Es lag keine Drohung in ihrem Blick. Sie schaute ihn nur gleichsam sinnend an, aber er wußte, daß dieser Ausdruck nur eine Folge großen Hungers war. Er war Speise, und sein Anblick erzeugte in ihr die Begier des Appetits. Ihr Maul öffnete sich, der Speichel floß heraus, und sie leckte sich das Maul im angenehmen Gefühl der Vorfreude.
Eine wilde Angst durchzuckte ihn. Er streckte die Hand nach einem brennenden Holzscheit aus, um es nach ihr zu werfen. Allein ehe seine Finger das Wurfgeschoß erfaßt hatten, sprang sie schnell zurück, und er wußte, daß sie es gewohnt gewesen war, mit Feuerbränden beworfen zu werden. Sie hatte beim Wegspringen geknurrt und dabei all ihre weißen Zähne bis zur Wurzel entblößt. Der sinnende Ausdruck war verschwunden und eine boshafte Gier an seine Stelle getreten, die ihm Schauder einflößte. Er blickte auf seine Hand, die noch das brennende Holzscheit hielt, und bemerkte, wie sich die Finger so zart und fein um die ungleiche Oberfläche legten, wie sie sich um das rauhe Holz krümmten und wie der kleine, der dem brennenden Teil des Holzes zu nahe kam, feinfühlig von selber vor der sengenden Glut zurückfuhr und einen kühleren Platz aufsuchte, und im nämlichen Augenblick schaute der Mann wie in einem Gesichte, wie diese feinfühligen, zartbesaiteten Finger von den weißen Zähnen der Wölfin zermalmt wurden. Nein! Nie zuvor hatte er seinen Leib so liebgehabt wie jetzt, da er ihn vielleicht nicht mehr lange sein eigen nennen würde.
Die ganze Nacht scheuchte er das hungrige Rudel mit Feuerbränden zurück. Wenn er unwillkürlich einschlummerte, so weckte ihn das Gewinsel und Geknurr der Hunde. Der Morgen kam, aber zum erstenmal verscheuchte das Licht des Tages die Wölfe nicht mehr. Der Mann wartete vergebens, daß sie sich zurückziehen sollten. Sie blieben im Kreise um ihn und um das Feuer und zeigten eine freche Sicherheit, die seinen durch das Morgenlicht erzeugten Mut erschütterte. Er machte einen verzweifelten Versuch, sich auf den Weg zu machen, allein in dem Augenblick, als er den Schutz des Feuers verließ, sprang der kühnste Wolf auf ihn los, doch zu kurz.
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