Unterweilen, wenn er trotz dessen Warnung an Spätherbstnachmittagen, die Mütze in der Hand, mit heißen Wangen durch das Hoftor stürzte, hat wohl der Alte ihn gescholten: »Was ist? Du hast den Wolf gesehen!« und »Komm mir so allein nicht wieder, Junker Hinrich!« Dann hat der Bube nur gelacht: »Brumme nicht, Owe Heikens! Komm und laß uns nun die Grube richten!« Und dann ist der Alte doch nur zu gern mit ihm gegangen.
Der Vater mochte, soweit er darum wußte, dies alles so geschehen lassen; denn obwohl ihm das Gut zu freier Erbverfügung stand, so war doch nach Haus-und Landesbrauch der Erstgeborene allzeit als künftiger Gutsherr angesehen worden, auch mag der Knabe selber solchen Sinns gewesen sein; die Bauern aber und die Hofesleute sind, je mehr die Brüder aufgewachsen, des nur immer froher worden. Zwar ist der Junker Hinrich, wie auch sonst die meisten seines Stammes, jach zur Tat gewesen; der Bibelspruch, das »Selig sind die Sanftmütigen«, den bei der Einsegnung der beiden Brüder der Geistliche ihm auf den Weg gab, hat dagegen nicht verschlagen wollen. Denn nicht lange danach war es, an einem Novembernachmittage die Dämmerung fiel schon herab, und noch immer suchte er nach seinem weißen Leibhund, den er seit Mittag schon vermißte. Grollend war er aus dem Torweg und bis zum Abstieg vorgeschritten. »Tiras! Tiras!« schrie er; dann ließ er durch die Finger einen gellen Pfiff erschallen; und alsbald, da er sich lauschend vorgebeugt, kam es wie Klagelaute drunten aus der Heide. Da lief er in das hohe Kraut hinab, dem Schalle folgend, der wieder und immer näher ihm entgegendrang, und schon erkannte er einen von den Knechten, der trug das große Tier auf seinen Armen. »Was soll das?« rief er. »Laß den Hund zu Boden!«
Das Tier aber streckte winselnd den Kopf nach seinem Herrn. »Es geht nicht«, sagte der Knecht; »unten am Moorloch hat er im Fuchseisen festgesessen.«
Der Junker stieß einen Fluch aus und wuchtete in der Faust den dicken Knotenstock, womit er es vorhin dem Hunde zugedacht hatte. »Wo ist Hans Christoph?« frug er. »Er sollt es fortnehmen; schon vor Mittag hatt ich's ihm geheißen.«
»Der Junge ist was vergeßlich, Herr; ich denk, er ist wohl schon zu Hof gegangen.«
Als der Junker nach der wunden Pfote faßte, schrie das Tier erbärmlich. »Vorwärts«, rief er dem Knechte zu; »wir wollen auch zu Hof!«
Der Junge Hans Christoph aber stand noch droben vor dem Torhaus und ein süßes zehnjähriges Dirnlein neben ihm. »Was willst du denn so spät noch?« frug er; »es wird ja balkendunkel, eh du wieder heim im Dorf bist; und hörst du? Es kommt Unwetter aus Nordwest!«
»Ja«, sagte sie und nickte mit ihrem blonden Köpfchen, »ich fürcht mich auch; aber ich trag hier Schriften, die so spät erst fertig worden; mein Vater hat sie für euren alten Herrn geschrieben, und du könntest sie ihm wohl bringen; ich scheu mich so vor ihm.«
Aber Hans Christoph antwortete nicht; mit entsetzten Augen starrte er auf den kleinen Zug, der eben jetzt den Heidestieg hinaufkam; denn in erschreckender Deutlichkeit baumelte das vergessene Eisen an der Hand des voraufgehenden Knechtes; darüber erblickte er den weißen Hund, der gleich einem wunden Wild auf dessen Armen lag. Und schon waren sie oben, und der Junker stand mit grimmem, schier verzerrtem Antlitz vor dem Jungen.
»Herr! Ach, Herr!« Im Schrecken suchte der des Junkers Arm zu fassen; aber schon hatte der schwere Stock des Jungen Kopf getroffen, daß er lautlos auf den Boden fiel.
Ein Schrei des blonden Dirnleins hat die Stille unterbrochen: »Pfui, pfui, der böse Junker!« Einen Augenblick noch hat sie groß und angstvoll zu ihm aufgeschaut; dann, unter stürzenden Tränen die Schriften, die sie noch in Händen hatte, von sich werfend, ist sie den Seitenstieg hinabgerannt, der um die Gebäude nach dem Dorfe führte.
Der Junker Hinrich, der wie leblos dagestanden, ist plötzlich aufgefahren: »Bärbe! Bärbe!«, denn er pflegte mit dem Kinde sonst manch gütig Wort zu reden; dann aber, da sie ihn nicht hörte, hat er sich über den wimmernden Jungen auf den Boden hingeworfen, Haar und Wangen ihm gestreichelt und ihn letzlich mit dem Knechte nach seiner Kammer und auf sein eigen Bett getragen.
Die dicke Ausgeberin, die mit der Magd schon vor der Küchentür gestanden, ist emsig hinterhergetrabt: »Nun, Junker, da habt Ihr Sauberes angerichtet; da draußen nichts als Nacht und Unwetter, und der Chirurgus meilenweit da drüben in der Stadt!«
Der Junker hat kein Wort darauf erwidert, aber er ist fort und nach dem Hof hinabgerannt; und kaum eine Stunde später hat er auf seines Vaters großem Rappen vor dem Stadttor angehalten. Als aber nach vielem Rufen ihm geöffnet worden, war auf den dunklen Gassen groß Gewimmel und Gejauchze; war doch am Nachmittage von gesamten Zimmerleuten aus Stadt und Amt der neue Galgen vor dem Ostertor in Präsenz des worthabenden Bürgermeisters aufgerichtet und ihnen dann frei Bier in großen Tonnen vom Magistrat verabreicht worden; da haben die anderen Gewerke auch nicht trocken sitzen wollen, und sind auf den Abend viel lustiger Leute in der Stadt gewesen.
An einem Häuschen, das sich auch im Dunkeln durch die im Winde klappernden Becken kenntlich machte, hatte der Junker seinen Rappen angebunden. »Holla, Frau Meisterin, ist denn Ihr Mann noch auf den Beinen?«
Die alte Frau, die mit einem qualmenden Lämpchen im Hausflur vor ihm stand, gab keine Antwort; mit verstürztem Antlitz wandte sie sich um und lief in eine Kammer. »He, Nikolaus, Nikolaus!« hörte er sie rufen, »der Junker von Grieshuus steht draußen!«
Aber der Junker stand schon in der Kammer und vor der Bettstatt, wo der Amtschirurgus schnarchend und voll süßen Bieres auf den Kissen lag. Da haben er und die Frau Meisterin den trunkenen Mann mit gütlichen Worten sanft gerüttelt, bis die müde Seele wie aus eines Brunnens Tiefe an die Oberwelt gelangte; als aber die mageren Beine nicht aus der Bettstatt vorwärts wollten, hat der Junker zur Ermunterung mit seiner Peitsche hin und her geklatscht und, als die Frau darüber schier verschrocken worden, dem Manne selbst in Wams und Hosen helfen müssen. »So, Meister Nikolaus, Er braucht heut keine Sporen; und soll der Ritt ihm gut vergolten werden!« Dann hat er ihm den Mantel umgeworfen und den Hut aufs Haupt gestülpt: »Nun das Verbandzeug und das Apostalipflaster!«
Und eh er sich's versehen, hat der Amtschirurgus hinter dem Junker hoch zu Roß gesessen, die Knie aufgezogen, die Hände um des Reiters Leib geklammert.
»Ade, Frau Meisterin!« Und unter des Junkers Sporen ist der hochbeinige Rappe durch die dunklen Gassen hingeflogen, dann durch das Tor und über die Felder in die Nacht hinaus. Als sie, schon nahe an Grieshuus, bei der Kirche im Dorf vorüberbrausten, hat der Küster, der eben von einer Hochzeit kam, ein »Alle guten Geister!« ausgestoßen und gemeinet, daß ein Hexenpaar an ihm vorbeifliege; denn der Mantel des Amtschirurgus hat wie ein Weiberrock im Wind gestanden.
Und endlich klapperten des Rappen Hufen in der Torfahrt von Grieshuus.
»Da bring ich ihn, Greth-Lise!« rief der Junker fröhlich, als er den hageren Chirurgus vorab in die Kammer schob.
»Still, still, Junker Hinrich!« Und die wackere Alte, welche eben des Jungen Kopf mit Wasser kühlte, winkte dem Eintretenden abwehrend mit der Hand: »Hier liegt ein Kranker, den Ihr selbst gemacht habt.«
Da warf der Junker sich vor dem Jungen an die Bettstatt: »Hans Christoph, verklag mich nicht da oben! Wir wollen's noch bei Lebzeit wettzumachen suchen!« Der Bursche aber richtete sich stöhnend auf dem Ellenbogen in die Höhe, so daß die Füße mit den groben Nagelschuhen, die man nicht abgenommen hatte, aus den Decken fuhren. »Junkherr«, sagte er bittend, »dann lasset unsern Tiras auch von dem Balbierer doktern!«
»Den Tiras?« – Dem Junker wollte die Stimme nicht recht aus der Kehle, und eine Weile hat er ihm nur eifrig zugenickt. »Ja, ja, Hans Christoph, auch den Tiras!«
Und danach hat der Amtschirurgus, dem der Nachtwind allen Dunst vom Hirn gefeget, sein barmherzig Werk verrichtet; an dem Jungen erst, dann an dem Hunde; und an beiden ist die Kunst des Mannes nicht zuschanden worden.
Zwar hat der Herrensohn noch manche Nacht im Wechsel mit der unermüdlichen Greth-Lise Krankenwacht gehalten; als aber eines Morgens der weiße Hund mit Sprüngen in die Kammer tobte und dann der Junker rief: »Tiras, hallo, so gib Hans Christoph doch die Pfote!«, da hat der Junge vor Freuden hell aufgelacht und ist nach ein paar Tagen selbst vom Lager aufgestanden.
Nur nach dem blonden Dirnlein hat der Junker Hinrich noch manch ein Mal vergebens ausgeschaut, auch unterweilen sich verdrossen abgewandt, wenn statt ihrer ein verhutzelt Männlein mit Schriftwerk in der Hand den Anberg zu Grieshuus hinaufgestiegen ist.
– – Von dem jüngeren Zwillingsbruder, welcher derzeit in der Klosterschule zu Bordesholm gesessen, ist solcherlei Gewalttat niemals kundgeworden; als man später ihm davon berichtet, hat er zu beidem, was vor und nach geschehen, den Kopf geschüttelt und nur gesagt: »Er weiß nicht, was uns ziemet.« Zu dem Bruder selber hat er nie ein Wort davon geredet.
Auf der Universität zu Leipzig, die er bald danach beschritten, hat er seine Juridica und Humaniora mit Fleiß traktiert, auch sich in allen Dingen wohl verhalten, insonders bei der welschen Kleiderhoffart, die dort arg im Schwange ging, ein jedes Übermaß vermieden. Gleichwohl, da er eines Sonntagnachmittages während der Vakanzzeit mit dem Bruder durch das Dorf hinabschritt, reckten alle Bauern nebst Kindern und Gesinde den Hals aus Tür und Fenstern, um dem gelehrten Herrn in seiner Alamodekleidung, mit dem weißgepuderten Kopfe, Kniebändern und Manschetten, nachzuschauen. Als später Junker Hinrich den Weg allein zurückschritt, im grauen Wams, die Ledermütze mit der Falkenfeder auf dem dunkeln, kurzgestutzten Haar, da waren es nur die jungen Dirnen, welche möglichst weit die Augen auftaten; nur waren sie in die Tiefe des dunkeln Flurs zurückgetreten oder bargen sich hinter der offenen Haustür und sahen heimlich durch den Spalt, solange es irgend reichen mochte.
Es wäre nicht not gewesen, der Junker Hinrich hatte kein Auge für die Dirnen; sowenig, daß die jungen Knechte, die sich des doch hätten getrösten mögen, von ihm zu sagen pflegten, der Junker sei wohl schon ein Kerl; nur in dem einen nicht!
Um ein paar Jahre später hat gleichwohl auch ihm seine Stunde schlagen müssen; eine schicksalsschwere, die letzte seines Hauses angebrochen ist.
– – Jene arge Zeit war damals über unser Land gekommen, deren Greuel unter dem Namen des »Polackenkrieges« noch lange beim Bierkrug wie am Spinnrad im Gedächtnis blieben. Zwar unser Herzog führte keinen Krieg, er redete zum Frieden: aber von den Streitenden war der junge schwedische Kriegsfürst seiner Tochter Mann, der mißtrauische Dänenkönig war der Mitregent der Lande und schonte weder diese noch den Herzog, seinen Schwestersohn. Nicht dessen drückende Brandschatzung war indes das Schlimmste; aber ihm zu Hülfe überschwemmte fremdes Volk das Land: Kaiserliche und Brandenburger, am gefürchtetsten die Polen, unter denen Türken und Tataren mitzogen; sie plünderten und vergewaltigten und erschlugen, so sie es vermochten, was sich widersetzte.
Unter den trotz solchen Schreckens Couragierten zählte ein altes verbissenes Männlein, das zeit seines Lebens mehr die Feder als die Waffen geführt hatte. In seinen besten Jahren ein herzoglicher Kornschreiber, hatte er noch vor Schluß des Mannesalters eine städtische Waise zur Ehe einzufangen verstanden und seit diesem einträglichen Geschäfte seinen beschwerlichen Dienst quittiert. Er hatte drunten in der Stadt sich in dem Erbhaus seines Weibes eingerichtet, nach eigenem Behagen dem Schreibwerk obliegend, das ihm von Kirchen-oder Gasthausvorstehern oder andern mit der Feder ungewandten Bürgern genugsam angetragen wurde. Aber die Frau verstarb im ersten Kindbett und ließ ihm statt ihrer eine Tochter, deren spätere Schönheit man weder der Mutter noch dem überlebenden Vater nachzurechnen wußte. Diesem selber aber, so gern er sonst abends in der Schenke seine Weisheit ausgeboten hatte, war seitdem die Stadt verleidet worden; sei es ob so plötzlicher Verwaisung seines Hauses, sei es wegen Haders mit der Sippe seines Weibes, die das Neugeborene nicht in seinen Händen lassen wollte.
Nun war es schon über ein Jahrzehnt, daß abseit des Dorfes unterhalb Grieshuus sich zur Verwunderung der Bauern ein städtisch Männlein angesiedelt hatte, das Sommer und Winter in spitzem Hut und einem Vielfraßpelze in die Kirche ging.
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