Aber das Gemach war leer, als er hineintrat, und nur die Hunde gingen spürend darin hin und wider.

 

Am Sonntage danach war, wie immer, das schwere herrschaftliche Fuhrwerk mit den roten Rädern an der Kirche aufgefahren; die Rappen standen angebunden an den Eisenringen der Kapellenmauer. Drinnen hielt der Pastor eine scharfe Predigt wider die Schwarmgeister und Wiedertäufer, die drüben in der Stadt aufs neue ihr Unwerk auszubreiten suchten; er schien sie gar leibhaftig vor sich zu haben, denn er riß das schwarze Käppchen von seinem grauen Haupt und dräuete damit in die volle Kirche hinunter. Der alte Herr von Grieshuus in seinem Patronatsstuhl droben vor dem Altar nickte eifrig seinem Pastor zu; die Bauern aber saßen mit schläfrigen Gesichtern; was kümmerten sie alle Schwarmgeister? Die Schatzung und das fremde Kriegsvolk saßen ihnen fühlbarer auf dem Nacken. Selbst für den stattlichen Junker an des Vaters Seite schien dieses Kanzelfeuer ganz verloren; seine Augen gingen immer wieder nach einem der Gestühlte unten, bis es wie Nebel ihm zerrann oder bis aus blauen Augen ein scheuer Blick zu ihm hinüberflog.

Als endlich am Schluß des Gottesdienstes der Pastor vor dem Altar die Kollekte verlesen und die Gemeinde ihr »Amen« respondiert hatte, blieb noch alles in den Kirchenständen, während die Herrschaft in die Kirche hinab und zwischen denselben dem Ausgange zuschritt. Der alte Herr aber ließ diesmal seinen Junker vor sich hergehen und streifte mit einem finsteren Blick das blonde Mädchen, das an der Seite seines alten Jägers sich von ihrem Sitz erhoben hatte.

Draußen in seinem Wagen hieß er den Fuhrknecht warten, bis der Pastor aus der Kirche trat; dann winkte er diesen heran und drückte ihm die Hand, und die Leute, welche jetzt, der Abfahrt ihrer Herrschaft harrend, zwischen den Gräbern umherstanden, hörten ihn dabei sagen: »Hol der Teufel alle Rottengeister, Pastor! Aber komm Er auf den Nachmittag zu mir; ein guter Trunk ist etwan auch noch in dem Keller!«

– – Zu Grieshuus warf am Nachmittage die Wintersonne ihre schrägen Strahlen durch das Fenster über dem Hauptportale, während drinnen im Kamin die großen Scheite loderten. Aber der Hausherr war noch allein; das sonst bleiche Antlitz des alten Junkers war gerötet; mit aufgestützter Faust stand er an dem breiten Eichentisch, von dem es hieß, er sei einst mit dem Hause hier hineingebaut, und die freie Hand fuhr unruhig über das kurzgeschorene Haupthaar. Auf dem Tische neben einem halbgefüllten Glase lag ein grob gedrucktes Blatt; es war die königliche Konstitution »von dem Amte und der Potestät der Kirchen wider die Unbußfertigen«, welche umlängst auch in dem herzoglichen Teile publiziert war. Der Kirchenbann, der bis zur Sühne von dem Abendmahl und von dem Platz in der Gemeinde ausschloß, war längst zwar eingeführt; aber das neuere Gesetz gab nähere Vorschrift über den Vollzug und wie dadurch die Lücken der weltlichen Gerechtigkeit zu füllen seien.

Der Junker hatte vorhin das Blatt aus der Hand gelegt; jetzt griff er wiederum danach; er schien zu grübeln, wie er es in seinem Dienst verwenden könne.

Schon mehrmals hatte es von draußen an der Tür gepocht, ohne daß ein Ruf darauf erfolgt war; jetzt wurde sie gleichwohl geöffnet, und der Gutsherr fuhr aus seinem Sinnen auf: »Er ist es, Pastor? Gut, daß Er gekommen ist.«

Nachdem derselbe dann ein zweites Glas gefüllt und der Pastor ihm daraus Bescheid getan hatte, schritt letzterer zu einem kleinen Tische an dem Mittelfenster, schüttete aus einem Kästchen die in Buchs geschnitzten Figuren eines Schachspiels und stellte sie auf die in die Tischplatte eingelegten Felder, ein schweigend übernommenes Amt, das er bei seinen Besuchen stets zu üben pflegte.

Auch heute ließ der Hausherr ihn gewähren, und bald saßen beide sich gegenüber der geistliche Herr im schwarzen Talar, das gleichfarbige Käppchen auf dem dünnen Haare, das an den hageren Schläfen niederhing; der andre im bequemen Hauskleid, das er oft zur Seite schlug, als ob es ihn beklemme; der Wein stand neben ihnen, und der Junker stürzte oft sein Glas hinunter. Aber sein Spiel war nicht wie sonst, wo er nach kurzer Weile dem Pastor ein »Viktoria!« zuzurufen pflegte; heut hatte er schon mehrmals auf bescheidene Erinnerung desselben seinen Zug zurückgenommen; aber immer wieder schob er Bauern und Offiziere unachtlich über die Felder und faßte sie, als ob er sie zerbrechen möchte.

»Mein Herr Patron«, sagte der Pastor, »wälzt wichtigere Dinge in Gedanken; Eure Dame steht abermals im Schach!«

Da schob der Junker das Tischlein von sich, daß die Figuren durcheinanderstürzten. »Das Spiel ein andermal! Ich hab mit Ihm zu reden, Pastor!«

Er war aufgestanden, und bald wanderten beide im Zwiegespräche auf und ab. Der Geistliche hatte mehr und mehr das Haupt erhoben, seine Antworten wurden kurz und sparsam; sicher und bedächtig schritt er an der Seite des immer lauter redenden Patrons. »Und seh Er es nicht an«, rief dieser, »wes Standes und Geschlechts der Sünder sei! Bete Er, wie vorgeschrieben, von der Kanzel über ihm und kündige ihm dann Bann und Gottes Zorn vor sitzender Gemeinde!«

»Ihr vergesset«, sprach der andere, »daß auch, so Euer Sohn der Sünder wäre, die Ladung durch den Küster und die Vermahnung in Gegenwart der Kirchenvorsteher vorangehen müßte, was Euch wohl kaum anstehen dürfte.«

»Ei was! Vermahnet hab ich selber!« rief der Herr von Grieshuus; »wenn's der Patron tut, braucht es nicht der Bauerntölpel!« Und als von der anderen Seite keine Antwort darauf erfolgte, fügte er hinzu: »Ich weiß ja, Er versteht's; mach Er's nur wie um letzte Ostern der Magister in der Stadt! Es war dort auch ein Bube, der gegen den Vater seine Faust gehoben hatte.«

Da sagte der Priester: »Das hat Junker Hinrich nimmermehr getan!«

Aber der Hausherr schrie: »Gegen alle seine Väter hat er die Faust gehoben; aber die unten in den Särgen liegen, können's nicht; darum muß ich ihr Recht verwahren!«

»Tuet es!« sagte der Pastor; »ich kann es Euch nicht verwehren.«

Der Edelmann hatte seinen Krückstock aus der Ecke gerissen und stieß damit heftig auf den Boden. »Verwehren, sagt Er? Er soll mir helfen, Pastor, wie es gegen Patron und Kirche Seine gottverfluchte Schuldigkeit!«

Der Redende war so laut geworden, daß im Unterhause das Gesinde auf den Schwellen stand; die naskluge Binnermagd hatte sich schon vordem hinaufgeschlichen und lag mit dem Ohr am Schlüsselloch.

Der geistliche Herr mochte auf jene Worte seines Patrones nur das Haupt geschüttelt haben; denn dieser hub aufs neue an: »Er wird's gar nicht verstanden haben, Pastor: zu seinem Ehgemahl will er das Weibsbild machen! Gleich nach der Kirchen, heut am Vormittage, da, wo Er itzo steht, hat mir der Junker von Grieshuus das ins Gesicht geworfen!«

»Das sieht ihm gleich«, sagte der Pastor; »Euer Sohn ist weder ein Gotteslästerer noch ein Jungfernschänder.«

Ein zornig Lachen entfuhr dem alten Herrn: »Ein Jungfernschänder? – – Er ist kein Edelmann; Er versteht's nicht Pastor: ein ganz Geschlecht von makellosen Rittern will er schänden!«

Da frug der geistliche Herr fast leise, daß es des Edelmannes Ohr nur kaum erreichte: »Hat unser Herr Martinus solches auch verschuldet, da er des Ritters Tochter in seine Kammer brachte?«

Aber der Junker schrie: »Laß Er mir den Martinus aus dem Spiel und red Er, ob man auf Ihn rechnen kann! Bedenk Er auch, der Sünder möchte so die leichtste Buße tragen!«

Fast drohend hatte er diese letzten Worte ausgestoßen; doch der Pastor antwortete: »Wider eine christliche Ehe hat die Kirche keine Buße; das andere aber ist meines gnädigen Herrn Patrones Sache, in welche ich nicht hineinzureden habe.«

Als diese Worte von dem Ohr der horchenden Dirne aufgefangen waren, hatten die Schritte drinnen sich der Tür genähert, und sie war eilig die Treppe, die sie hinaufgeschlichen, wieder hinabgeflogen. Bald auch wurde im Unterhause von droben auf dem Vorplatze der Kratzfuß und Empfehl des Pastors hörbar; die Dirne aber sah noch aus dem Seitenflügel, wie droben der alte Herr das eine Fenster aufstieß und mit braunrotem Angesicht dem Pastor nachschaute, der mit hastig spitzen Schritten über die Stapfsteine durch den schlammigen Hof hinausschritt.

– – »Ja, und die Beine zitterten ihm«, erzählte sie abends in der Gesindestube, »ein paarmal trat er nebenweg, daß ihm der Unflat um die schwarzen Strümpfe spritzte«

Die andern lachten; nur Hans Christoph, der mit dem lohbraunen Hassan am Kachelofen saß, hieß sie ihr allzu loses Maul in Obacht nehmen; aber sie fand zu guten Rückhalt hier, denn der Fuhrknecht und die übrigen Dirnen wollten wissen, was droben in der Herrenstube abgehandelt worden. Da hob sie ihre Stumpfnase und rief: »Hör du nur zu, Hans Christoph; du kannst's für deinen Junker profitieren!« Und als die andern drängten: »Nur frisch und schütt den Eimer aus!«, setzte sie sich bedachtsam dem langen Fuhrknecht auf den Schoß und sagte: »Geduld! Erst als der Junker sich in Blust geredet, hab ich's verstehen können!«

Doch als sie endlich vollends ausgeschüttet hatte und ihre blanken Augen in die Runde laufen ließ, harrte sie umsonst des dankbaren Geplauders, das sie nach solchem Anlaß einzuheimsen pflegte. Hans Christoph streichelte schweigend den breiten Hundenacken; die Dirnen mochten des schmucken Junkers denken, und weshalb sein Auge nicht eben wohl auf sie gefallen sei; nur der Fuhrknecht, nachdem er eine Weile mit dem Finger an seiner Nase auf und ab gefahren war, sagte nachdenklich: »Darum denn auch! Da der Herr mich vorhin rufen ließ, bewahre mich der Heiland! ich dacht, er wollte mich zum Pferdejungen degradieren; und war doch nur, daß ich morgen den alten Landgerichtsnotar von drüben aus der Stadt bestellen sollte.«

»Den Landgerichtsnotar? Soll der auch predigen?« rief die Dirne. Aber in demselben Augenblicke ließ sie sich von seinen Knien gleiten, denn die dicke Ausgeberin Greth-Lise war eingetreten, und es wurde ganz stille; der Fuhrknecht zog ein versiegeltes Schreiben aus der Tasche, betrachtete die Aufschrift, als ob er sie lesen könne, und steckte es dann bedächtig wieder ein.

 

Als die Schlehen blühten, ist einmal wieder Friede geschlossen worden; auf und ab im Lande läuteten die Glocken, und das Gemenge fremder Völker verlor sich allgemach. Auch von der kleinen Dorfkirche unterhalb Grieshuus scholl das Geläute; aber eines Nachmittages, da es auf den anderen Türmen schwieg, begann es abermals. Nicht dem kurzen Frieden galt es, den mit unfriedlichem Herzen die Menschen in falsche Worte faßten; es galt dem, den kein Streiter noch gebrochen hat.

Von Grieshuus herunter kam ein Leichenzug; auf dem Deckel des Sarges hatte der kunstreiche Schmied des Dorfes das Wappen in Kupfer ausgeschlagen, denn der alte Herr von Grieshuus lag darunter. In dem offenen Wagen, der dann folgte, saßen die beiden Brüder, der Junker Hinrich und der herzogliche Rat; aber der letztere hatte es eilig; zu Gottorf gab es itzt überviel zu schlichten und zu richten; und während sie in dem Gruftgewölbe an des Vaters Sarg das letzte Amen sprachen, hielt drüben vor dem Kruge schon der Reitknecht sein und seines Herrn Pferd am Zügel.

Wie beim Verlöbnistanz zu Kiel, so waren auch heute zwischen den Brüdern der Worte wenige gewesen; nur als dann auf dem Kirchhofe der jüngere sich verabschiedete, sprach er, wie beiläufig, zu dem anderen: »Du weißt, des Vaters Testament ist jüngsthin auf dem Landgerichte hinterleget worden?«

Herr Hinrich aber stutzte »Ein Testament? Wozu denn das? Mir ist nichts kundgeworden.«

Der herzogliche Rat hatte flüchtig seine Hand gestreift. »So will ich sorgen, daß terminus zur Publikation alsbald hier anberaumet werde.«

Dann schritt er auf dem Steig dem Kruge zu und ritt mit seinem Knecht davon.

In unruhigem Brüten war der Bruder stehengeblieben, während unter dem wiederbeginnenden Läuten ein zweiter, schlichter Sarg herzugetragen wurde; nur der alte Jäger Owe Heikens und ein weinendes Mädchen gingen hinterher. Aber die Leute auf dem Kirchhofe drängten sich auch zu dieser offenen Gruft; auch den der Tod in diese Lade hingestreckt hatte, lockte es sie begraben zu helfen. Und auch über ihn sprach der Pastor: »Und zur Erde sollst du wieder werden!« Als aber, da der schwere Schaufelwurf vom Sarge widerdröhnte, mit selbigem ein heller Wehlaut von der Gruft erscholl, da drängte sich die hohe Gestalt des Junkers Hinrich durch die Menge, und als sodann auch hier das letzte Vaterunser war gesprochen worden, nahm er vor aller Angesicht die Tochter des Begrabenen an seine Brust und hielt sie so unbeweglich, bis er den Pastor schon drunten auf dem Wege nach seinem Hause zu schreiten sah. »Komm!« sprach er leise zu dem schönen Mädchen, daß nur neben ihm ein altes Weib es hörte, die schier verwirrt zu ihm emporsah; und als ob jedes von ihnen wußte, daß sie beide eines Sinnes seien, folgten sie Hand in Hand dem geistlichen Herrn in sein Haus. Da sprach der Junker: »Ehrwürden, wir bitten, verlobet uns einander, daß diese hier an meinem Herzen ihre Heimat habe!«

Und die Hände des alten Priesters legten zitternd sich auf ihre Häupter.

Drüben von dem Kirchhof aber schritt Owe Heikens, mehr als einmal mit dem Kopfe schüttelnd, seinem Hause an den Eichen zu.

 

Die schon anberaumte Hochzeit des Junkers Detlev, welche durch die letzte Kriegszeit wider allen Brauch verzögert war, wurde durch das Trauerjahr aufs neue hinausgerückt; anders bei dem älteren Bruder: hier hatte der Tod zu raschem Ehebündnis getrieben.

Hinter den Eichen von Grieshuus, noch oberhalb der Niederung des Flusses, war in einem Lindenkranz ein Meierhof gelegen; einst zu einem später niedergelegten Gut gehörig und aus diesem einer Base von des Junkers Mutter zugekommen, war er von letzterer in ihrem Testamente diesem als ihrem Patenkinde zugeschrieben. Bisher hatte ein Pächter darauf gesessen; aber die Pacht war mit dem Herbste abgelaufen; seit Monaten wirtschaftete Hans Christoph dort, den noch der alte Herr zu dem Behuf dem Sohne überlassen hatte.

In dieses Haus war Junker Hinrich mit seinem jungen Weibe eingezogen. »Trete nur fest auf!« hatte er zu ihr gesprochen, da er nach der Trauung sie vom Wagen hob; »das hier ist mein; und nun – durch Gottes Gnade – unser!«

Noch heute, in des Erzählers Tagen, zeigt man in jener Gegend auf einem Vorsprung eine alte Linde, die trotz des völlig ausgehöhlten Stammes noch eine mächtige Krone in den Lüften wiegt; hier habe man derzeit die beiden schönen Menschen oftmals stehen sehen, wie sie Hand in Hand über das weite Flußtal hinausschauten, während der Sommerwind in ihren blonden Haaren wehte; auch abends wohl, dem Schrei der wilden Schwäne horchend, die im Sternenschein dem Wasser zuflogen.

– – Zu Anfang im Augustmonat nach der Hochzeit war es, als Junker Hinrich zur Testamentseröffnung nach Grieshuus hinüberritt. In dem großen, seit Jahren unbenutzten Saale, oben in einem Vorsprung nach der Dorfseite, traf er nur den Landgerichtsnotar und dessen Schreiber; vergebens suchten seine Augen nach dem Bruder. Statt dessen war ein schwarzer Herr mit gepuderter Perücke hereingetreten: »Der herzogliche Rat sei, ihm zuleide, durch häufende Geschäfte abgehalten«; und hatte sodann eine in aller Form Rechtens auf ihn ausgestellte Vollmacht auf dem Tische vor den Gerichtspersonen ausgebreitet.

Der Herr war einer von des Rates Unterbeamten, und die Formalien wurden für richtig angenommen. Danach wurden im Beisein der so Beteiligten die Siegel gelöst und das Testament verlesen.