– Und damit sind wir bei der ernsthafteren Frage angelangt: was bedeutet es, wenn ein wirklicher Philosoph dem asketischen Ideale huldigt, ein wirklich auf sich gestellter Geist wie Schopenhauer, ein Mann und Ritter mit erzenem Blick, der den Mut zu sich selber hat, der allein zu stehn weiß und nicht erst auf Vordermänner und höhere Winke wartet? – Erwägen wir hier sofort die merkwürdige und für manche Art Mensch selbst faszinierende Stellung Schopenhauers zur Kunst: denn sie ist es ersichtlich gewesen, um derentwillen zunächst Richard Wagner zu Schopenhauer übertrat (überredet dazu durch einen Dichter, wie man weiß, durch Herwegh), und dies bis zu dem Maße, daß sich damit ein vollkommner theoretischer Widerspruch zwischen seinem früheren und seinem späteren ästhetischen Glauben aufriß – ersterer zum Beispiel in »Oper und Drama« ausgedrückt, letzterer in den Schriften, die er von 1870 an herausgab. Insonderheit änderte Wagner, was vielleicht am meisten befremdet, von da an rücksichtslos sein Urteil über Wert und Stellung der Musik selbst: was lag ihm daran, daß er bisher aus ihr ein Mittel, ein Medium, ein »Weib« gemacht hatte, das schlechterdings eines Zweckes, eines Manns bedürfe, um zu gedeihn – nämlich des Dramas! Er begriff mit einem Male, daß mit der Schopenhauerschen Theorie und Neuerung mehr zu machen sei in majorem musicae gloriam – nämlich mit der Souveränität der Musik, so wie sie Schopenhauer begriff: die Musik abseits gestellt gegen alle übrigen Künste, die unabhängige Kunst an sich, nicht, wie diese, Abbilder der Phänomenalität bietend, vielmehr die Sprache des Willens selbst redend, unmittelbar aus dem »Abgrunde« heraus, als dessen eigenste,[844] ursprünglichste, unabgeleitetste Offenbarung. Mit dieser außerordentlichen Wertsteigerung der Musik, wie sie aus der Schopenhauerschen Philosophie zu erwachsen schien, stieg mit einem Male auch der Musiker selbst unerhört im Preise: er wurde nunmehr ein Orakel, ein Priester, ja mehr als ein Priester, eine Art Mundstück des »An-sich« der Dinge, ein Telephon des Jenseits – er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes – er redete Metaphysik: was Wunder, daß er endlich eines Tages asketische Ideale redete?...
6
Schopenhauer hat sich die Kantische Fassung des ästhetischen Problems zunutze gemacht – obwohl er es ganz gewiß nicht mit Kantischen Augen angeschaut hat. Kant gedachte der Kunst eine Ehre zu erweisen, als er unter den Prädikaten des Schönen diejenigen bevorzugte und in den Vordergrund stellte, welche die Ehre der Erkenntnis ausmachen: Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit. Ob dies nicht in der Hauptsache ein Fehlgriff war, ist hier nicht am Orte zu verhandeln; was ich allein unterstreichen will, ist, daß Kant, gleich allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des Künstlers (des Schaffenden) aus das ästhetische Problem zu visieren, allein vom »Zuschauer« aus über die Kunst und das Schöne nachgedacht und dabei unvermerkt den »Zuschauer« selber in den Begriff »schön« hineinbekommen hat. Wäre aber wenigstens nur dieser »Zuschauer« den Philosophen des Schönen ausreichend bekannt gewesen! – nämlich als eine große persönliche Tatsache und Erfahrung, als eine Fülle eigenster starker Erlebnisse, Begierden, Überraschungen, Entzückungen auf dem Gebiete des Schönen! Aber das Gegenteil war, wie ich fürchte, immer der Fall: und so bekommen wir denn von ihnen gleich von Anfang an Definitionen, in denen, wie in jener berühmten Definition, die Kant vom Schönen gibt, der Mangel an feinerer Selbst-Erfahrung in Gestalt eines dicken Wurms von Grundirrtum sitzt. »Schön ist«, hat Kant gesagt, »was ohne Interesse gefällt.« Ohne Interesse! Man vergleiche mit dieser Definition jene andre, die ein wirklicher »Zuschauer« und Artist gemacht hat – Stendhal, der das Schöne einmal une promesse [845] de bonheur nennt. Hier ist jedenfalls gerade das abgelehnt und ausgestrichen, was Kant allein am ästhetischen Zustande hervorhebt: le désintéressement. Wer hat recht, Kant oder Stendhal? – Wenn freilich unsre Ästhetiker nicht müde werden, zugunsten Kants in die Waagschale zu werfen, daß man unter dem Zauber der Schönheit sogar gewandlose weibliche Statuen »ohne Interesse« anschauen könne, so darf man wohl ein wenig auf ihre Unkosten lachen – die Erfahrungen der Künstler sind in bezug auf diesen heiklen Punkt »interessanter«, und Pygmalion war jedenfalls nicht notwendig ein »unästhetischer Mensch«. Denken wir um so besser von der Unschuld unsrer Ästhetiker, welche sich in solchen Argumenten spiegelt, rechnen wir es zum Beispiel Kant zu Ehren an, was er über das Eigentümliche des Tastsinns mit landpfarrermäßiger Naivität zu lehren weiß! – Und hier kommen wir auf Schopenhauer zurück, der in ganz andrem Maße als Kant den Künsten nahestand und doch nicht aus dem Bann der Kantischen Definition herausgekommen ist: wie kam das? Der Umstand ist wunderlich genug: das Wort »ohne Interesse« interpretierte er sich in der allerpersönlichsten Weise, aus einer Erfahrung heraus, die bei ihm zu den regelmäßigsten gehört haben muß. Über wenig Dinge redet Schopenhauer so sicher wie über die Wirkung der ästhetischen Kontemplation: er sagt ihr nach, daß sie gerade der geschlechtlichen »Interessiertheit« entgegenwirke, ähnlich also wie Lupulin und Kampfer; er ist nie müde geworden, dieses Loskommen vom »Willen« als den großen Vorzug und Nutzen des ästhetischen Zustandes zu verherrlichen. Ja man möchte versucht sein zu fragen, ob nicht seine Grundkonzeption von »Willen und Vorstellung«, der Gedanke, daß es eine Erlösung vom »Willen« einzig durch die »Vorstellung« geben könne, aus einer Verallgemeinerung jener Sexual-Erfahrung ihren Ursprung genommen habe. (Bei allen Fragen in betreff der Schopenhauerschen Philosophie ist, anbei bemerkt, niemals außer acht zu lassen, daß sie die Konzeption eines sechsundzwanzigjährigen Jünglings ist; so daß sie nicht nur an dem Spezifischen Schopenhauers, sondern auch an dem Spezifischen jener Jahreszeit des Lebens Anteil hat.) Hören wir zum Beispiel eine der ausdrücklichsten Stellen unter den zahllosen, die er zu Ehren des ästhetischen Zustandes geschrieben hat (Welt als Wille und Vorstellung I 231), hören wir den Ton heraus, das Leiden,[846] das Glück, die Dankbarkeit, mit der solche Worte gesprochen worden sind. »Das ist der schmerzenslose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries; wir sind, für jenen Augenblick, des schnöden Willensdrangs entledigt, wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still«... Welche Vehemenz der Worte! Welche Bilder der Qual und des langen Überdrusses! Welche fast pathologische Zeit-Gegenüberstellung »jenes Augenblicks« und des sonstigen »Rads des Ixion«, der »Zuchthausarbeit des Wollens«, des »schnöden Willensdrangs«! – Aber gesetzt, daß Schopenhauer hundertmal für seine Person recht hätte, was wäre damit für die Einsicht ins Wesen des Schönen getan? Schopenhauer hat eine Wirkung des Schönen beschrieben, die Willen-kalmierende – ist sie auch nur eine regelmäßige? Stendhal, wie gesagt, eine nicht weniger sinnliche, aber glücklicher geratene Natur als Schopenhauer, hebt eine andre Wirkung des Schönen hervor: »das Schöne verspricht Glück«, ihm scheint gerade die Erregung des Willens (»des Interesses«) durch das Schöne der Tatbestand. Und könnte man nicht zuletzt Schopenhauer selber einwenden, daß er sehr mit Unrecht sich hierin Kantianer dünke, daß er ganz und gar nicht die Kantsche Definition des Schönen Kantisch verstanden habe – daß auch ihm das Schöne aus einem »Interesse« gefalle, sogar aus dem allerstärksten, allerpersönlichsten Interesse: dem des Torturierten, der von seiner Tortur loskommt?... Und, um auf unsre erste Frage zurückzukommen, »was bedeutet es, wenn ein Philosoph dem asketischen Ideale huldigt?« – so bekommen wir hier wenigstens einen ersten Wink: er will von einer Tortur loskommen. –
7
Hüten wir uns, bei dem Wort »Tortur« gleich düstere Gesichter zu machen: es bleibt gerade in diesem Falle genug dagegenzurechnen, genug abzuziehn – es bleibt selbst etwas zu lachen. Unterschätzen wir es namentlich nicht, daß Schopenhauer, der die Geschlechtlichkeit in der Tat als persönlichen Feind behandelt hat (einbegriffen deren Werkzeug, das Weib, dieses »instrumentum diaboli«), Feinde nötig hatte, um guter Dinge zu bleiben; daß er die grimmigen galligen schwarzgrünen[847] Worte liebte; daß er zürnte, um zu zürnen, aus Passion; daß er krank geworden wäre, Pessimist geworden wäre (– denn er war es nicht, so sehr er es auch wünschte) ohne seine Feinde, ohne Hegel, das Weib, die Sinnlichkeit und den ganzen Willen zum Dasein, Dableiben. Schopenhauer wäre sonst nicht dageblieben, darauf darf man wetten, er wäre davongelaufen: seine Feinde aber hielten ihn fest, seine Feinde verführten ihn immer wieder zum Dasein, sein Zorn war, ganz wie bei den antiken Zynikern, sein Labsal, seine Erholung, sein Entgelt, sein Remedium gegen den Ekel, sein Glück. So viel in Hinsicht auf das Persönlichste am Fall Schopenhauers; andrerseits ist an ihm noch etwas Typisches – und hier erst kommen wir wieder auf unser Problem. Es besteht unbestreitbar, solange es Philosophen auf Erden gibt und überall, wo es Philosophen gegeben hat (von Indien bis England, um die entgegengesetzten Pole der Begabung für Philosophie zu nehmen), eine eigentliche Philosophen-Gereiztheit und -Ranküne gegen die Sinnlichkeit – Schopenhauer ist nur deren beredtester und, wenn man das Ohr dafür hat, auch hinreißendster und entzückendster Ausbruch –; es besteht insgleichen eine eigentliche Philosophen-Voreingenommenheit und -Herzlichkeit in bezug auf das ganze asketische Ideal, darüber und dagegen soll man sich nichts vormachen. Beides gehört, wie gesagt, zum Typus; fehlt beides an einem Philosophen, so ist er – dessen sei man sicher – immer nur ein »sogenannter«. Was bedeutet das? Denn man muß diesen Tatbestand erst interpretieren: an sich steht er da, dumm in alle Ewigkeit, wie jedes »Ding an sich«. Jedes Tier, somit auch la bête philosophe, strebt instinktiv nach einem Optimum von günstigen Bedingungen, unter denen es seine Kraft ganz herauslassen kann und sein Maximum im Machtgefühl erreicht; jedes Tier perhorresziert ebenso instinktiv und mit einer Feinheit der Witterung, die »höher ist als alle Vernunft«, alle Art Störenfriede und Hindernisse, die sich ihm über diesen Weg zum Optimum legen oder legen könnten (– es ist nicht sein Weg zum »Glück«, von dem ich rede, sondern sein Weg zur Macht, zur Tat, zum mächtigsten Tun, und in den meisten Fällen tatsächlich sein Weg zum Unglück). Dergestalt perhorresziert der Philosoph die Ehe samt dem, was zu ihr überreden möchte – die Ehe als Hindernis und Verhängnis auf seinem Wege zum Optimum. Welcher große Philosoph war bisher verheiratet?[848] Heraklit, Plato, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Schopenhauer – sie waren es nicht; mehr noch, man kann sie sich nicht einmal denken als verheiratet. Ein verheirateter Philosoph gehört in die Komödie, das ist mein Satz: und jene Ausnahme Sokrates – der boshafte Sokrates hat sich, scheint es, ironice verheiratet, eigens um gerade diesen Satz zu demonstrieren. Jeder Philosoph würde sprechen, wie einst Buddha sprach, als ihm die Geburt eines Sohns gemeldet wurde: »Râhula ist mir geboren, eine Fessel ist mir geschmiedet« (Râhula bedeutet hier »ein kleiner Dämon«); jedem »freien Geiste« müßte eine nachdenkliche Stunde kommen, gesetzt, daß er vorher eine gedankenlose gehabt hat, wie sie einst demselben Buddha kam – »eng bedrängt«, dachte er bei sich, »ist das Leben im Hause, eine Stätte der Unreinheit; Freiheit ist im Verlassen des Hauses«: »dieweil er also dachte, verließ er das Haus«. Es sind im asketischen Ideale so viele Brücken zur Unabhängigkeit angezeigt, daß ein Philosoph nicht ohne ein innerliches Frohlocken und Händeklatschen die Geschichte aller jener Entschlossnen zu hören vermag, welche eines Tages Nein sagten zu aller Unfreiheit und in irgendeine Wüste gingen: gesetzt selbst, daß es bloß starke Esel waren und ganz und gar das Gegenstück eines starken Geistes.
1 comment