Erneste bemerkte kummervoll:
„Du bist mißtrauisch, Lola: das ist keine schöne Eigenschaft.”
Lola war mißtrauisch, weil sie sich verraten fühlte. Sie war empfindlich, weil sie allein und immer auf der Wacht war. Andere hatten Stützen: das Ansehen eines Vaters, einen Namen, jemand, der sie besuchte. Eine kleine plumpe Person mit Eulenaugen und Brillen davor ging, sooft sie sich irgendwie blamiert hatte, umher und wiederholte: „Ich habe das Wörtchen von. Du hast es nicht, ich aber habe es.” Lola suchte vergeblich nach einer Rache dafür. Da aber begegnete ihr in der Zeitung, daß der Reichstagsabgeordnete, der Vater ihrer ärgsten Feindin, Bankerott gemacht habe. Das Herz klopfte ihr bis an den Hals vor Freude. War’s eine Schande, „international” zu sein, war’s hoffentlich auch eine, Bankerott zu machen! Mit dem Zeilungsblalt lief Lola von einer zur andern, gefolgt von der Tochter des Abgeordneten, die jammerte: „Es ist nicht wahr”, und endlich zu Erneste floh: sie möge Lola Einhalt tun. Aber Lola war unerbittlich. Dafür konnte sie’s, als unerwartet Jennys rote, spießige Mutter bei Tisch saß und das Wort führte, vor Erbitterung und Gram nicht bis zu Ende aushalten, mußte sich in ihr Zimmer retten und einen Weinkrampf durchmachen. ,Nie wird Mai kommen! Die häßlichen, gewöhnlichen Menschen sind wenigstens gut mit ihren Kindern!’
Erneste sah den Krisen Lolas unschlüssig zu. Sie, die Lola liebte, beschämte es, daß sie sie nicht verstand. Manchmal ward sie ungeduldig und wollte mit Erzieherinnenderbheit dazwischenfahren. Aber ihre altjüngferliche Achtung vor den Dingen des Herzens hielt sie zurück. ,Es muß etwas sein … Sie wird damit fertig werden.’ Eine Frage drückte Ernesle; sie fürchtete sich, sie zu stellen. Jetzt sprach sie zu Lola vor anderen in freudig ermunterndem Ton; waren sie aber allein, ward Ernestes Stimme, was sie auch sagen mochte, mitfühlend und beruhigend. Lola entzog sich ihrer Teilnahme, stellte sich früh und abends schlafend und verließ, kaum daß Ernesle sie vertraulich zu stimmen suchte, das Zimmer. Endlich wagte Ernesle, ohne Vorbereitung, ihre Frage:
„Möchtest du noch zum Theater?”
„Zum Thealer?” machte Lola, die Brauen gefallet; und mit gehobenen Schultern:
„Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.”
Auch dort waren die Menschen schwerlich anders, und Lola wußte sich sowenig zur Bühne gehörig wie sonst irgendwohin. Aber Erneste hatte den Atem angehalten; nun traten ihr Tränen der Erleichterung in die Augen.
„Gott sei Dank, Kind! Mein liebes Kind, Gott sei Dank!”
Sie reckte sich an Lola hinauf und küßte sie auf den Mund. Eine ihrer Hände ließ sie segnend über Lolas Kopf schweben.
„Das andere wird alles gut werden”, verhieß sie innig. Lola, in Wut, weil sie gleich weinen mußte, sah kalt zu ihr hinunter. Ernesle trat von ihr weg.
„Du sollst auch eine Belohnung haben” - ganz lustig, nur nicht mehr sentimental. „Wohin möchtest du diesen Sommer lieber: ins Gebirge oder an die See?”
„Ich weiß wirklich nicht.”
„Du wirst dich schon besinnen.”
Aber Lola setzte ihren Ehrgeiz darauf, keine Vorliebe zu verraten; Erneste mußte schließlich selbst wählen; und zu Beginn der Ferien, als die andern alle daheim waren, fuhren Erneste und Lola ins Gebirge.
„Wir müssen viel zusammen Spazierengehen”, halle Erneste gesagt; aber dann zeigte sich’s, daß sie vom Steigen ihre Herzbeschwerden bekam. Lola ließ sie auf einer Bank zurück und eilte weiter, den Passionsweg mit den Bildstöcken hinauf, an der geweihten Quelle und der Einsiedelei vorüber und in den Wald, wo er recht tief, recht wild und menschenfern war, wo im Tannendickicht die kaum ausgetretenen Graspfade und über Schluchten der morsche Steg zu einsamen, schmerzlich stillen Zielen führten. Denn Lola war so glücklos, daß der Anblick eines Menschen sie unsinnig erbitterte.
Sie fühlte sich häßlich: unablässig peinigte sie die Empfindung ihrer zu hohen Stirn, ihres bleichsüchtigen Mundes, ihrer langen Glieder, die in den Gelenken nicht recht heimisch schienen. Ungeschickt und in ihrer Haut unbehaglich, mußte sie sich immerfort betasten, immer wieder feststellen, daß an ihrem in falschen Verhältnissen aufgeschossenen Körper kein Rock und keine Bluse richtig sitze. Sie fühlte ihre Häßlichkeit noch gehoben durch die Begleitung Erncstes, in ihrem Kapotthut, ihren schwarzen Zwirnhandschuhen, ihrem allen Mantel, der schief von ihrer zu hohen Schulter hing. Waren sie beide nicht ein lächerliches Paar? Lola sträubte sich gegen die Verwechslung mit Erneste, und dabei mußte sie gestehen, man könne sie äußerlich ganz gut zur gleichen Klasse rechnen: sie, die nicht von Erneste nur, nein, von allen so weit Getrennte! Begegnete sie Leuten, sah sie entweder scheu weg, oder sie musterte sie frech, wie eine für immer Draußenstehendc, die sich ihrer Ungezogenheit nie zu schämen haben wird. Dennoch hätte sie bei Tisch, wo Erneste sie mit ihren Nachbarn zu reden nötigte, in den ersten jungen Menschen sich fast verliebt. Ihr Stolz verhinderte es: weil sie sich häßlich wußte; und die Erinnerung, daß kein Geschöpf liebenswert sei, keines sie angehe und jede Gemeinschaft nur wieder Gram bringe.
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