Nie mehr schlüpfte sie am Morgen zu Erneste ins Bett und weckte sie mit einem Gedicht, das die Anrede „Herzmama” enthielt! ,Wenn die Kinder klein sind, brauchen sie uns.’ War das wirklich alles in der Liebe der Kinder? Nein, nein! Und doch war Ernesle von einer verdrießlichen Ahnung erfaßt worden, als eines Tages Lola nicht mehr unter ihrem waagerecht ausgestreckten Arm stehen konnte.
Ganz leicht machte nun die Herangewachsene sich los: so leicht, als habe sie sich innerlich nie bei Ernesle gefühlt! Zwar durfte man nicht ungerecht werden: sie hatte das Leben vor sich und wandle sich ihm zu; und dann war wirklich viel Fremdes in ihr, das man nicht begriff und das einem Sorge machen konnte. Schon immer war Erneste ängstlich berührt, beinahe eingeschüchtert worden durch die Anzeichen der fremden Herkunft bei Lola. Die auffallenden Äußerungen des Kindes zuerst, seine eigenartigen Vergehen und daß es eigentlich niemals Kameraden gehabt hatte. Dann seine etwas frühen kleinen Verliebtheiten; nun, sie waren schwärmerisch und rein und mochten hingehen. Endlich aber diese schlimme Lust nach dem Thealer: oh, etwas ganz Schlimmes war da in Lola entstanden, aus Keimen, die Erneste trotz aller Fliege dieser Seele nicht hatte ersticken können. Wi e unheimlich ihr’s damals zumut gewesen war! und wie kummerschwer sie nun die Entfremdung zwischen ihnen beiden wachsen und die Trennung sich nähern sah!
,Warum ist sie so? Was hat sie mir vorzuwerfen? Denkt sie doch noch ans Theater?’ Auch andere Mädchen in Lolas Alter, und grade die Besseren, wußte Erneste, hatten ihre scheuen und eigenwilligen Zeilen, standen immer im Begriff, in Ohnmacht zu fallen - dies geschah Lola nie —, waren schwach, erregbar und lief. Lola aber war gar zu unergründlich, und in ihrer Verschlossenheil spürte man etwas Bitteres, Feindseliges. Hatte sie zu klagen: warum eröffnete sie sich nicht ihrer alten Freundin? ,Früh genug bleiben wir allein im Leben. Noch hat sie eine, der sie alles
ist. Aber die Jugend trumpft auf ihre Selbständigkeit. Später wird sie an mich denken.’ Gereizt vom einsamen Grübeln, war Erneste nahe daran, Lola ein recht schlimmes Später zu wünschen, damit sie an sie denke. Dann wurden Lolas Schritte vernehmlich, und noch bevor sie in der Tür stand, hatte Erneste ihr alles abgebeten.
„Bist du nun genug umhergelaufen?” fragte sie munter. „Setzt du dich nun gemütlich zur alten Erneste?”
Dabei stellte sie sich ganz mit ihrer Häkelei beschäftigt und sprach nur in Pausen.
„Weißt du wohl, woran ich eben erinnert wurde? An das seidene Kleidchen, in dem du damals aus Amerika kamst. Dies da hat eine ähnliche Farbe, und die Ärmel sind auch wieder so. Was alles zwischen den beiden Kleidern liegt, nicht?”
Lola sah mit einer Falte zwischen den Augen vom Buch auf, wartete, was sie solle, und las weiter.
„Du kamst zu einer Zeit, als ich sehr einsam und traurig war”, sagte Erneste nach einer Weile.
„Beliebt?” fragte Lola; und Erneste sprach, trotz ihrer Scham, den Satz noch einmal.
„So?” machte Lola, ungeduldig, weil sie einen Augenblick von sich selbst fort und über jemand anderen nachdenken mußte.
„Ach ja, du warst das erste Jahr immer in Trauer.”
Sie sah noch in die Luft: ob sie weiterfragen müsse. Wozu ; und sie kehrte zum Buch zurück.
„Wenn man so allein geblieben ist wie ich damals, dann ist das Herz vorbereitet. Drum gewann ich dich, die du auch allein warst, gleich sehr lieb”, sagte Erneste einfach. Nach einer Pause, da Lola sich nicht regte;
„Nun, ganz vergessen wirst du die alte Erneste wohl niemals.”
Ein stockendes Selbstgespräch.
„Solltest du einst ein Kind zu erziehen haben: Ja, dann denkst du gewiß an mich… Du mußt es selbst erziehen … Bei Bousseau - hier den ,Emile’ wollen wir zusammen lesen - steht folgendes: ,Wenn ein Vater Kinder zeugt und ernährt, leistet er damit erst ein Drittel seiner Aufgabe … Wer die Vaterpflichten nicht erfüllen kann, hat kein Recht, Vater zu werden. Weder Armut noch Arbeiten noch menschliche Rücksichten entheben ihn der Pflicht, seine Kinder selbst zu ernähren und zu erziehen. Leser, ihr könnt mir glauben, jedem, der ein Herz hat und so heilige Pflichten versäumt, sage ich voraus, daß er über seinen Fehler lange Zeit bittere Tränen vergießen und sich nie trösten wird.’ “
Erneste sah vom Buch auf: Lola saß blaß da und sah sie durchdringend an. Plötzlich, klar, rasch und eintönig:
„Meinst du etwa meinen Vater?”
Erneste öffnete erschreckt den Mund und konnte nicht sprechen. Sie wehrte mit der Hand ab.
„Meinst du etwa meinen Vater?” wiederholte Lola. Rosig bis über die Stirn brachte Erneste hervor:
„Um Gottes willen, Kind, was fällt dir ein! Ich habe von uns gesprochen, von dir und mir. Ich halle dich in meinen Gedanken ja immer für mein eigen!”
Lola prüfte sie noch immer: nein, Erneste hatte wohl nicht an Pai gedacht. Wi e sie sich aufregte! Welch seltsamer Ton: ich halle dich für mein eigen. Lola stutzte; aber dann verglich sie unwillkürlich das an Ernestes verwachsenem Körper schlechtsitzende Kleid mit ihrem eigenen, das sie auch immer vergeblich zurechlzog; und sie sah weg.
Erneste beugte sich über ihre Häkelei und sann erschüttert: ,Sie kann glauben, daß ich ihr wehe tun will? Armes Kind! Armes Kind!’
Etwas später stellte sie eine Frage, und als Lola nicht verstanden hatte, klopfte Erneste auf den Tisch und bemerkte streng:
„Wenn du beim Lesen die Finger in die Ohren steckst, kannst du mich allerdings nicht verstehen. Sprich übrigens französisch!”
Und sie führten zur Übung ein langes, gleichgültiges Gespräch. •
Nein, wahrhaft liebenswerte Wesen gab es nur auf andern Sternen; in ihrer Nähe suchte Lola sie nicht. Eines Tages aber fand sie einen jungen Vogel, der vergeblich ins Gebüsch zu flattern versuchte, und nahm den aus dem Nest Gefallenen mit nach Hause.
„Was ist das überhaupt für ein Tier?” sagte Erneste.
„Das ist ganz gleich”, erklärte Lola. „Ich habe ihn gern.”
„In der Stadt wollen wir gleich im Buch nachsehen.”
„Nein, bitte nicht! Von welcher Gattung er ist und alles übrige kümmert mich nicht.
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