Dann, wie blind und seiner selbst nicht mehr bewußt, wandte es dem Mann den Rücken, durchmaß die ganze Länge der Batterie, beschädigte die Steven und schlug eine Lücke in die Vorderwand. Der Mann hatte sich neben die Treppe geflüchtet, nicht weit von dem zuschauenden Greis, und hielt seine Nothspake bereit. Das schien die Kanone zu merken, und ohne sich die Mühe des Umwendens zu geben, flog sie rücklings mit der Schnelligkeit eines Axthiebs auf den Mann zu, der, eingekeilt in seinen Winkel, verloren war. Die ganze Mannschaft that einen Schrei. Aber der bisher so unbewegliche alte Passagier, rascher als jene gräßlich verkörperte Raschheit selbst, hatte vorstürzend und auf die Gefahr hin, zermalmt zu werden, einen übergebliebenen Ballen falscher Assignate erfaßt und vor die Räder der Kanone geschleudert. Diese entscheidende, halsbrecherische That mit mehr Sicherheit und Genauigkeit auszuführen, wäre selbst einem Solchen nicht gelungen, der mit allen im Buche von Dunosel über »das Exerzieren mit Marinegeschützen« beschriebenen Kunstgriffen vertraut gewesen wäre.
Der Ballen war von durchschlagender Wirkung, wie oft auch ein Kiesel einen Felsblock festhalten oder ein Baumzweig einer Lawine eine andere Richtung geben kann. Die Kanone strauchelte. Der Artillerist seinerseits wußte sofort diesen ungeheuren Vortheil auszubeuten und stemmte seine Eisenstange einem der Hinterräder zwischen die Speichen. Das Geschütz stand still; dann neigte es sich etwas seitwärts. Der Mann benutzte die Stange so lang als Hebel, bis er es ins Schwanken brachte, und endlich, als die schwere Masse mit dem Gedröhne einer herunterfallenden Glocke niedergesunken war, stürzte er blindlings, von Schweiß strömend darüber her, um dem zu Boden geworfenen Scheusal die Schlinge seines Taues um den Hals von Erz zu legen. Es war vorüber. Der Mensch hatte gesiegt, die Ameise gegen den Mastodonten Recht behalten, ein Zwerg den Donner zu seinem Gefangenen gemacht.
Die Soldaten und Seeleute klatschten Beifall. Mit Tauen und Ketten eilte die ganze Schiffsmannschaft herbei, und um ein Handumdrehen stand die Kanone wieder an Ort und Stelle.
Der Artillerist sagte salutirend zum Passagier:
– Mein Herr, Ihnen verdanke ich das Leben.
Der Greis aber hatte seine theilnahmslose Haltung wieder angenommen und antwortete mit keiner Silbe.
VI. Die zwei Wagschalen.
Wohl hatte der Mensch gesiegt, aber dasselbe ließ sich auch von der Kanone behaupten, denn die Gefahr eines unmittelbaren Schiffbruchs war zwar geschwunden, aber die Korvette damit keineswegs gerettet. Die Wirkungen des Unfalls zu beseitigen, schien ein Ding der Unmöglichkeit: An der Schiffsverkleidung zählte man bis zu fünf Lücken, wovon eine sehr beträchtliche beim Bugspriet; zwanzig Kanonen auf dreißig lagen darnieder. Auch das eingefangene, wieder an Ort und Stelle gebrachte Geschütz versagte den Dienst, weil die Knaufschraube verdreht war und man es in Folge dessen nicht mehr hätte richten können. Die Batterie war auf neun Stück zusammengeschmolzen. Ein Leck machte sofortige Abhülfe durch die Pumpen nothwendig. Das Zwischendeck bot jetzt, da man es betreten durfte, einen gräßlichen Anblick. Das Innere eines Käfigs, in dem ein Elephant gewüthet, weist keine größere Verwüstung auf.
Wie viel der Korvette auch daran liegen mußte, nicht erblickt zu werden, so lag die gebieterische Nothwendigkeit der unmittelbaren Rettung doch ungleich näher, und man sah sich gezwungen, zur Beleuchtung des Verdecks an den Brüstungen einige Laternen anzubringen.
Während der ganzen Dauer dieses tragischen Zwischenfalls, wobei die Lebensfrage alles Denken in Anspruch nahm, hatte man sich um die Außenverhältnisse blutwenig gekümmert. Indessen hatte sich der Nebel verdichtet und die Witterung verändert; der Wind war mit dem Schiffe ganz nach Gutdünken umgegangen; die Route war nicht eingehalten worden, und man befand sich nun, von Jersey und Guernesey nicht mehr gedeckt, weiter südlich, als beabsichtigt war. Die See ging höher; mächtige Wellen leckten mit gefahrverkündenden Zungen an den offenen Wunden der Korvette. Das Meer wurde bedrohlich; die Brise artete in Windsbraut aus; es war ein Unwetter, vielleicht auch ein Sturm im Anzug. Ueber die vierte Woge hinaus konnte man nichts mehr unterscheiden.
Während die Seeleute die Beschädigungen im Zwischendeck, soweit dies vorläufig in aller Eile möglich war, ausbesserten, die Lücken beseitigten und die verschont gebliebenen Geschütze wieder in Stand setzten, war der alte Passagier wieder auf das Verdeck gestiegen und lehnte am Mittelmast.
Ihm war eine Bewegung, die in der Nähe stattgefunden, ganz entgangen; der Chevalier von La Vieuville hatte nämlich auf beiden Seiten des Mittelmastes die Marinetruppen in Schlachtordnung aufstellen und die in der Takelage beschäftigten Matrosen durch einen grellen Pfiff auf die Raaen kommandiren lassen. Nun trat Graf du Boisberthelot zu dem Passagier hin; hinter ihm her schritt ein Mann in beschmutzten Kleidern, verstört, athemlos, und doch mit einem Ausdruck der Zufriedenheit auf dem Gesicht; es war der Artillerist, der sich zu so gelegener Zeit als Thierbändiger ausgezeichnet und die Kanone bemeistert hatte.
Der Graf salutirte vor dem »Bauern« und sagte:
– Herr General, hier wäre der Mann.
Der Artillerist blieb aufrecht, mit gesenktem Blick in vorschriftsmäßiger Positur stehen.
– Herr General, setzte Graf du Boisberthelot hinzu, sind Sie nicht der Meinung, in Anbetracht dessen, was der Mann soeben geleistet, könnten seine Vorgesetzten schon etwas für ihn thun?
– Der Meinung bin ich.
– Wollen Sie demnach befehlen, antwortete Boisberthelot.
– Befehlen Sie; Sie sind der Kapitän.
– Sie aber der General, antwortete Boisberthelot. Der Greis betrachtete den Mann; dann sprach er:
– Tritt näher.
Hierauf that der Artillerist einen Schritt vorwärts. Der Greis wendete sich gegen den Grafen du Boisberthelot, nahm das Ludwigskreuz von dessen Brust und heftete es an den Kittel des Kanoniers.
– Hurrah! riefen die Matrosen. Die Marinesoldaten präsentirten das Gewehr. Der Passagier aber fügte, auf den von seinem Glück geblendeten Artilleristen deutend hinzu:
– So, nun führe man ihn zum Tode!
Der Jubel war zur Bestürzung erstarrt. Und mitten in einer Grabesstille erhob der Greis die Stimme und sprach:
– Dieses Schiff ist durch Fahrlässigkeit dem Verderben ausgesetzt worden.
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