Ästhetische, philosophische und politische Schriften
Kleist, Heinrich von
Ästhetische, philosophische und politische Schriften
Heinrich von Kleist
Ästhetische, philosophische und politische Schriften
• Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden
Entstanden um 1799, Erstdruck in: Sämtliche Werke, hg. v. Theophil Zolling, Stuttgart 1885.
• [Über die Aufklärung des Weibes]
Entstanden 1800, Teildruck in: Frankfurter Oder-Zeitung (Frankfurt/Oder), 20./21. November 1934; Erstdruck des ganzen Textes in: Werke, Leipzig 1936.
• Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden
Entstanden 1805/06, Erstdruck in: Nord und Süd (Berlin), Bd. 4, 1878.
• Einleitung [für die Zeitschrift »Germania«]
Entstanden 1809, Erstdruck in: Rudolf Köpke, Heinrich von Kleists politische Schriften und andere Nachträge zu seinen Werken, Berlin (Charisius) 1862.
• Was gilt es in diesem Kriege?
Entstanden 1809, Erstdruck in: Eduard von Bülow, Heinrich von Kleists Leben und Briefe, Berlin 1848.
• Katechismus der Deutschen
Entstanden 1809, Erstdruck in: Sämtliche Werke, hg. v. Theophil Zolling, Stuttgart 1885.
• Gebet des Zoroaster
Erstdruck in: Berliner Abendblätter (Berlin), 1. Jg., 1.10.1810.
• Betrachtungen über den Weltlauf
Erstdruck in: Berliner Abendblätter (Berlin), 1. Jg., 9.10.1810.
• Brief eines Malers an seinen Sohn
Erstdruck in: Berliner Abendblätter (Berlin), 1. Jg., 22.10.1810.
• Allerneuester Erziehungsplan
Erstdruck in: Berliner Abendblätter (Berlin), 1. Jg., 29./31.10. u. 9./10.11.1810.
• Brief eines jungen Dichters an einen jungen Maler
Erstdruck in: Berliner Abendblätter (Berlin), 1. Jg., 6.11.1810.
• Von der Überlegung
Erstdruck in: Berliner Abendblätter (Berlin), 1. Jg., 7.12.1810.
• Fragmente
Erstdruck in: Berliner Abendblätter (Berlin), 1. Jg., 10.12.1810.
• Über das Marionettentheater
Erstdruck in: Berliner Abendblätter (Berlin), 1. Jg., 12.-15.12.1810.
• Literatur
Erstdruck in: Berliner Abendblätter (Berlin), 1. Jg., 29.12.1810.
• Miszellen
Erstdruck in: Berliner Abendblätter (Berlin), 1. Jg., 31.12.1810.
• Ein Satz aus der höheren Kritik
Erstdruck in: Berliner Abendblätter (Berlin), 2. Jg., 2.1.1811.
• Brief eines Dichters an einen anderen
Erstdruck in: Berliner Abendblätter (Berlin), 2. Jg., 5.1.1811.
Heinrich von Kleist
Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, und ungestört, auch unter den größten Drangsalen des Lebens, ihn zu genießen!
An Rühle
Wir sehen die Großen dieser Erde im Besitze der Güter dieser Welt. Sie leben in Herrlichkeit und Überfluß, die Schätze der Kunst und der Natur scheinen sich um sie und für sie zu versammeln, und darum nennt man sie Günstlinge des Glücks. Aber der Unmut trübt ihre Blicke, der Schmerz bleicht ihre Wangen, der Kummer spricht aus allen ihren Zügen.
Dagegen sehen wir einen armen Tagelöhner, der im Schweiße seines Angesichts sein Brot erwirbt; Mangel und Armut umgeben ihn, sein ganzes Leben scheint ein ewiges Sorgen und Schaffen und Darben. Aber die Zufriedenheit blickt aus seinen Augen, die Freude lächelt auf seinem Antlitz, Frohsinn und Vergessenheit umschweben die ganze Gestalt.
Was die Menschen also Glück und Unglück nennen, das sehn Sie wohl, mein Freund, ist es nicht immer; denn bei allen Begünstigungen des äußern Glückes haben wir Tränen in den Augen des erstern, und bei allen Vernachlässigungen desselben, ein Lächeln auf dem Antlitz des andern gesehen.
Wenn also die Regel des Glückes sich nur so unsicher auf äußere Dinge gründet, wo wird es sich denn sicher und unwandelbar gründen? Ich glaube da, mein Freund, wo es auch nur einzig genossen und entbehrt wird, im Innern.
Irgendwo in der Schöpfung muß es sich gründen, der Inbegriff aller Dinge muß die Ursachen und die Bestandteile des Glückes enthalten, mein Freund, denn die Gottheit wird die Sehnsucht nach Glück nicht täuschen, die sie selbst unauslöschlich in unsrer Seele erweckt hat, wird die Hoffnung nicht betrügen, durch welche sie unverkennbar auf ein für uns mögliches Glück hindeutet. Denn glücklich zu sein, das ist ja der erste aller unsrer Wünsche, der laut und lebendig aus jeder Ader und jeder Nerve unsers Wesens spricht, der uns durch den ganzen Lauf unsers Lebens begleitet, der schon dunkel in dem ersten kindischen Gedanken unsrer Seele lag und den wir endlich als Greise mit in die Gruft nehmen werden. Und wo, mein Freund, kann dieser Wunsch erfüllt werden, wo kann das Glück besser sich gründen, als da, wo auch die Werkzeuge seines Genusses, unsre Sinne liegen, wohin die ganze Schöpfung sich bezieht, wo die Welt mit ihren unermeßlichen Reizungen im kleinen sich wiederholt?
Da ist es ja auch allein nur unser Eigentum, es hangt von keinen äußeren Verhältnissen ab, kein Tyrann kann es uns rauben, kein Bösewicht kann es stören, wir tragen es mit in alle Weltteile umher.
Wenn das Glück nur allein von äußeren Umständen, wenn es also vom Zufall abhinge, mein Freund, und wenn Sie mir auch davon tausend Beispiele aufführten; was mit der Güte und Weisheit Gottes streitet, kann nicht wahr sein. Der Gottheit liegen die Menschen alle gleich nahe am Herzen, nur der bei weiten kleinste Teil ist indes der vom Schicksal begünstigte, für den größten wären also die Genüsse des Glücks auf immer verloren. Nein, mein Freund, so ungerecht kann Gott nicht sein, es muß ein Glück geben, das sich von den äußeren Umständen trennen läßt, alle Menschen haben ja gleiche Ansprüche darauf, für alle muß es also in gleichem Grade möglich sein.
Lassen Sie uns also das Glück nicht an äußere Umstände knüpfen, wo es immer nur wandelbar sein würde, wie die Stütze, auf welcher es ruht; lassen Sie es uns lieber als Belohnung und Ermunterung an die Tugend knüpfen, dann erscheint es in schönerer Gestalt und auf sicherem Boden. Diese Vorstellung scheint Ihnen in einzelnen Fällen und unter gewissen Umständen wahr, mein Freund, sie ist es in allen, und es freut mich in voraus, daß ich Sie davon überzeugen werde.
Wenn ich Ihnen so das Glück als Belohnung der Tugend aufstelle, so erscheint zunächst freilich das erste als Zweck und das andere nur als Mittel. Dabei fühle ich, daß in diesem Sinne die Tugend auch nicht in ihrem höchsten und erhabensten Beruf erscheint, ohne darum angeben zu können, wie dieses Verhältnis zu ändern sei.
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