Komm schnell.«

»Jeder sagt hier, komm schnell,« dachte Alice, indem sie ihm langsam nachging, »so viel bin ich in meinem Leben nicht hin und her kommandirt worden, nein, in meinem ganzen Leben nicht!«

Sie brauchten nicht weit zu gehen, als sie schon die falsche Schildkröte in der Entfernung sahen, wie sie einsam und traurig auf einem Felsenriffe saß; und als sie näher kamen, hörte Alice sie seufzen, als ob ihr das Herz brechen wollte. Sie bedauerte sie herzlich. »Was für einen Kummer hat sie?« fragte sie den Greifen, und der Greif antwortete, fast in denselben Worten wie zuvor: »Es ist Alles ihre Einbildung, das; sie hat keinen Kummer nicht. Komm schnell!«

Sie gingen also an die falsche Schildkröte heran, die sie mit thränenschweren Augen anblickte, aber nichts sagte.

»Die kleine Mamsell hier,« sprach der Greif, »sie sagt, sie möchte gern deine Geschichte wissen, sagt sie.«

»Ich will sie ihr erzählen,« sprach die falsche Schildkröte mit tiefer, hohler Stimme; »setzt euch beide her und sprecht kein Wort, bis ich fertig bin.«

Gut, sie setzten sich hin und Keiner sprach mehre Minuten lang. Alice dachte bei sich: »Ich begreife nicht, wie sie je fertig werden kann, wenn sie nicht anfängt.« Aber sie wartete geduldig.

»Einst,« sagte die falsche Schildkröte endlich mit einem tiefen Seufzer, »war ich eine wirkliche Schildkröte.«

Auf diese Worte folgte ein sehr langes Schweigen, nur hin und wieder unterbrochen durch den Ausruf des Greifen »Hjckrrh!« und durch das heftige Schluchzen der falschen Schildkröte. Alice wäre beinah aufgestanden und hätte gesagt: »Danke sehr für die interessante Geschichte!« aber sie konnte nicht umhin zu denken, daß doch noch etwas kommen müsse; daher blieb sie sitzen und sagte nichts.

»Als wir klein waren,« sprach die falsche Schildkröte endlich weiter, und zwar ruhiger, obgleich sie noch hin und wieder schluchzte, »gingen wir zur Schule in der See. Die Lehrerin war eine alte Schildkröte – wir nannten sie Mamsell Schalthier –«

»Warum nanntet ihr sie Mamsell Schalthier?« fragte Alice.

»Sie schalt hier oder sie schalt da alle Tage, darum,« sagte die falsche Schildkröte ärgerlich; »du bist wirklich sehr dumm.«

»Du solltest dich schämen, eine so dumme Frage zu thun,« setzte der Greif hinzu, und dann saßen beide und sahen schweigend die arme Alice an, die in die Erde hätte sinken mögen. Endlich sagte der Greif zu der falschen Schildkröte: »Fahr' zu, alte Kutsche! Laß uns nicht den ganzen Tag warten!« Und sie fuhr in folgenden Worte fort:

»Ja, wir gingen zur Schule, in der See, ob ihr es glaubt oder nicht –«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich es nicht glaubte,« unterbrach sie Alice.

»Ja, das hast du,« sagte die falsche Schildkröte.

»Halt den Mund!« fügte der Greif hinzu, ehe Alice antworten konnte. Die falsche Schildkröte fuhr fort.

»Wir gingen in die allerbeste Schule; wir hatten vier und zwanzig Stunden regelmäßig jeden Tag.«

»Das haben wir auf dem Lande auch,« sagte Alice, »darauf brauchst du dir nicht so viel einbilden.«

»Habt ihr auch Privatstunden außerdem?« fragte die falsche Schildkröte etwas kleinlaut.

»Ja,« sagte Alice, »Französisch und Klavier.«

»Und Wäsche?« sagte die falsche Schildkröte.

»Ich dächte gar!« sagte Alice entrüstet.

»Ah! dann gehst du in keine wirklich gute Schule,« sagte die falsche Schildkröte sehr beruhigt. »In unserer Schule stand immer am Ende der Rechnung, ›Französisch, Klavierspielen, Wäsche – extra.‹«

»Das könnt ihr nicht sehr nöthig gehabt haben,« sagte Alice, »wenn ihr auf dem Grund des Meeres wohntet.«

»Ich konnte keine Privatstunden bezahlen,« sagte die falsche Schildkröte mit einem Seufzer. »Ich nahm nur den regelmäßigen Unterricht.«

»Und was war das?« fragte Alice.

»Legen und Treiben, natürlich, zu allererst,« erwiederte die falsche Schildkröte; »Und dann die vier Abtheilungen vom Rechnen: Zusehen, Abziehen, Vervielfraßen und Stehlen.«

»Ich habe nie von Vervielfraßen gehört,« warf Alice ein. »Was ist das?«

Der Greif erhob beide Klauen voller Verwunderung. »Nie von Vervielfraßen gehört« rief er aus. »Du weißt, was Verhungern ist? vermuthe ich.«

»Ja,« sagte Alice unsicher, »es heißt – nichts – essen – und davon – sterben.«

»Nun,« fuhr der Greif fort, »wenn du nicht verstehst, was Vervielfraßen ist, dann bist du ein Pinsel.«

Alice hatte allen Muth verloren, sich weiter danach zu erkundigen, und wandte sich daher an die falsche Schildkröte mit der Frage: »Was hattet ihr sonst noch zu lernen?«

»Nun, erstens Gewichte,« erwiederte die falsche Schildkröte, indem sie die Gegenstände an den Pfoten aufzählte, »Gewichte, alte und neue, mit Seeographie; dann Springen – der Springelehrer war ein alter Stockfisch, der ein Mal wöchentlich zu kommen pflegte, er lehrte uns Pfoten Reiben und Unarten, meerschwimmig Springen, Schillern und Imponiren.«

»Wie war denn das?« fragte Alice.

»Ich kann es dir nicht selbst zeigen,« sagte die falsche Schildkröte, »ich bin zu steif. Und der Greif hat es nicht gelernt.«

»Hatte keine Zeit,« sagte der Greif; »ich hatte aber Stunden bei dem Lehrer der alten Sprachen. Das war ein alter Barsch, ja, das war er.«

»Bei dem bin ich nicht gewesen,« sagte die falsche Schildkröte mit einem Seufzer, »er lehrte Zebräisch und Greifisch, sagten sie immer.«

»Das that er auch, das that er auch, und besonders Laßsein,« sagte der Greif, indem er ebenfalls seufzte, worauf beide Thiere sich das Gesicht mit den Pfoten bedeckten.

»Und wie viel Schüler wart ihr denn in einer Klasse?« sagte Alice, die schnell auf einen andern Gegenstand kommen wollte.

»Zehn den ersten Tag,« sagte die falsche Schildkröte, »neun den nächsten, und so fort.«

»Was für eine merkwürdige Einrichtung!« rief Alice aus.

»Das ist der Grund, warum man Lehrer hält, weil sie die Klasse von Tag zu Tag leeren.«

Dies war ein ganz neuer Gedanke für Alice, welchen sie gründlich überlegte, ehe sie wieder eine Bemerkung machte. »Den elften Tag müssen dann Alle frei gehabt haben?«

»Natürlich!« sagte die falsche Schildkröte.

»Und wie wurde es den zwölften Tag gemacht?« fuhr Alice eifrig fort.

»Das ist genug von Stunden,« unterbrach der Greif sehr bestimmt: »erzähle ihr jetzt etwas von den Spielen.«

 

Zehntes Kapitel.

 

Das Hummerballet.

Die falsche Schildkröte seufzte tief auf und wischte sich mit dem Rücken ihrer Pfote die Augen. Sie sah Alice an und versuchte zu sprechen, aber ein bis zwei Minuten lang erstickte lautes Schluchzen ihre Stimme. »Sieht aus, als ob sie einen Knochen in der Kehle hätt',« sagte der Greif und machte sich daran, sie zu schütteln und auf den Rücken zu klopfen. Endlich erhielt die falsche Schildkröte den Gebrauch ihrer Stimme wieder, und während Thränen ihre Wangen herabflossen, erzählte sie weiter.

»Vielleicht hast du nicht viel unter dem Wasser gelebt –« (»Nein,« sagte Alice) – »und vielleicht hast du nie die Bekanntschaft eines Hummers gemacht –« (Alice wollte eben sagen: »ich kostete einmal,« aber sie hielt schnell ein und sagte: »Nein, niemals«) – »du kannst dir also nicht vorstellen, wie reizend ein Hummerballet ist.«

»Nein, in der That nicht,« sagte Alice, »was für eine Art Tanz ist es?«

»Nun,« sagte der Greif, »erst stellt man sich in eine Reihe am Strand auf –«

»In zwei Reihen!« rief die falsche Schildkröte. »Seehunde, Schildkröten, Lachse, und so weiter; dann, wenn alle Seesterne aus dem Wege geräumt sind –«

»Was gewöhnlich einige Zeit dauert,« unterbrach der Greif.

»– geht man zwei Mal vorwärts –«

»Jeder einen Hummer zum Tanze führend!« rief der Greif.

»Natürlich,« sagte die falsche Schildkröte: »zwei Mal vorwärts, wieder paarweis gestellt –«

»– wechselt die Hummer, und geht in derselben Ordnung zurück,« fuhr der Greif fort.

»Dann, mußt du wissen,« fiel die falsche Schildkröte ein, »wirft man die –«

»Die Hummer!« schrie der Greif mit einem Luftsprunge.

»– so weit in's Meer, als man kann –«

»Schwimmt ihnen nach!« kreischte der Greif.

»Schlägt einen Purzelbaum im Wasser!« rief die falsche Schildkröte indem sie unbändig umhersprang.

»Wechselt die Hummer wieder!« heulte der Greif mit erhobener Stimme.

»Zurück an's Land, und – das ist die ganze erste Figur,« sagte die falsche Schildkröte, indem ihre Stimme plötzlich sank; und beide Thiere, die bis dahin wie toll umhergesprungen waren, setzten sich sehr betrübt und still nieder und sahen Alice an.

»Es muß ein sehr hübscher Tanz sein,« sagte Alice ängstlich.

»Möchtest du eine kleine Probe sehen?« fragte die falsche Schildkröte.

»Sehr gern,« sagte Alice.

»Komm, laß uns die erste Figur versuchen!« sagte die falsche Schildkröte zum Greifen. »Wir können es ohne Hummer, glaube ich. Wer soll singen?«

»Oh, singe du!« sagte der Greif. »Ich habe die Worte vergessen.«

So fingen sie denn an, feierlich im Kreise um Alice zu tanzen; zuweilen traten sie ihr auf die Füße, wenn sie ihr zu nahe kamen; die falsche Schildkröte sang dazu, sehr langsam und traurig, Folgendes: –

 

Zu der Schnecke sprach ein Weißfisch: »Kannst du denn nicht schneller gehen?

Siehst du denn nicht die Schildkröten und die Hummer alle stehn?

Hinter uns da kommt ein Meerschwein, und es tritt mir auf den Schwanz;

Und sie warten an dem Strande, daß wir kommen zu dem Tanz.

Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst du kommen zu dem Tanz?

Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst du kommen zu dem Tanz?«

»Nein, du kannst es nicht ermessen, wie so herrlich es wird sein,

Nehmen sie uns mit den Hummern, werfen uns in's Meer hinein!«

Doch die Schnecke thät nicht trauen. »Das gefällt mir doch nicht ganz!

Viel zu weit, zu weit! ich danke – gehen nicht mit euch zum Tanz!

Nein, ich kann, ich mag, ich will nicht, kann nicht kommen zu dem Tanz!

Nein, ich kann, ich mag, ich will nicht, mag nicht kommen zu dem Tanz!«

 

Und der Weißfisch sprach dagegen: »'s kommt ja nicht drauf an, wie weit!

Ist doch wohl ein andres Ufer, drüben auf der andren Seit'!

Und noch viele schöne Küsten giebt es außer Engelland's;

Nur nicht blöde, liebe Schnecke, komm' geschwind mit mir zum Tanz!

Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst du kommen zu dem Tanz?

Willst du denn nicht, willst du denn nicht, willst nicht kommen zu dem Tanz?«

 

»Danke sehr, es ist sehr, sehr interessant, diesem Tanze zuzusehen,« sagte Alice, obgleich sie sich freute, daß er endlich vorüber war; »und das komische Lied von dem Weißfisch gefällt mir so!«

»Oh, was die Weißfische anbelangt,« sagte die falsche Schildkröte, »die – du hast sie doch gesehen?«

»Ja,« sagte Alice, »ich habe sie oft gesehen, bei'm Mitt –« sie hielt schnell inne.

»Ich weiß nicht, wer Mitt sein mag,« sagte die falsche Schildkröte, »aber da du sie so oft gesehen hast, so weißt du natürlich, wie sie aussehen?«

»Ja ich glaube,« sagte Alice nachdenklich, »sie haben den Schwanz im Maule, – und sind ganz mit geriebener Semmel bestreut.«

»Die geriebene Semmel ist ein Irrthum,« sagte die falsche Schildkröte; »sie würde in der See bald abgespült werden. Aber den Schwanz haben sie im Maule, und der Grund ist« – hier gähnte die falsche Schildkröte und machte die Augen zu. – »Sage ihr Alles das von dem Grunde,« sprach sie zum Greifen.

»Der Grund ist,« sagte der Greif, »daß sie durchaus im Hummerballet mittanzen wollten. So wurden sie denn in die See hinein geworfen. So mußten sie denn sehr weit fallen. So kamen ihnen denn die Schwänze in die Mäuler.