So konnten sie sie denn nicht wieder heraus bekommen. So ist es.«
»Danke dir,« sagte Alice, »es ist sehr interessant. Ich habe nie so viel vom Weißfisch zu hören bekommen.«
»Ich kann dir noch mehr über ihn sagen, wenn du willst,« sagte der Greif, »weißt du, warum er Weißfisch heißt?«
»Ich habe darüber noch nicht nachgedacht,« sagte Alice. »Warum?«
»Darum eben,« sagte der Greif mit tiefer, feierlicher Stimme, »weil man so wenig von ihm weiß. Nun aber mußt du uns auch etwas von deinen Abenteuern erzählen.«
»Ich könnte euch meine Erlebnisse von heute früh an erzählen,« sagte Alice verschämt, »aber bis gestern zurück zu gehen, wäre ganz unnütz, weil ich da jemand Anderes war.«
»Erkläre das deutlich,« sagte die falsche Schildkröte.
»Nein, die Erlebnisse erst,« sagte der Greif in ungeduldigem Tone, »Erklärungen nehmen so schrecklich viel Zeit fort.«
Alice fing also an, ihnen ihre Abenteuer von da an zu erzählen, wo sie das weiße Kaninchen zuerst gesehen hatte. Im Anfange war sie etwas ängstlich, die beiden Thiere kamen ihr so nah, eins auf jeder Seite, und sperrten Augen und Mund so weit auf; aber nach und nach wurde sie dreister. Ihre Zuhörer waren ganz ruhig, bis sie an die Stelle kam, wo sie der Raupe ›Ihr seid alt, Vater Martin‹ hergesagt hatte, und wo lauter andere Worte gekommen waren, da holt die falsche Schildkröte tief Athem und sagte »das ist sehr merkwürdig.«
»Es ist Alles so merkwürdig, wie nur möglich,« sagte der Greif.
»Es kam ganz verschieden!« wiederholte die falsche Schildkröte gedankenvoll. »Ich möchte sie wohl etwas hersagen hören. Sage ihr, daß sie anfangen soll.« Sie sah den Greifen an, als ob sie dächte, daß er einigen Einfluß auf Alice habe.
»Steh' auf und sage her: ›Preisend mit viel schönen Reden‹,« sagte der Greif.
»Wie die Geschöpfe alle Einen kommandiren und Gedichte aufsagen lassen!« dachte Alice, »dafür könnte ich auch lieber gleich in der Schule sein.« Sie stand jedoch auf und fing an, das Gedicht herzusagen; aber ihr Kopf war so voll von dem Hummerballet, daß sie kaum wußte, was sie sagte, und die Worte kamen sehr sonderbar: –
»Preisend mit viel schönen Kniffen seiner Scheeren Werth und Zahl,
Stand der Hummer vor dem Spiegel in der schönen rothen Schal'!
›Herrlich,‹ sprach der Fürst der Krebse, ›steht mir dieser lange Bart!‹
Rückt die Füße mit der Nase auswärts, als er dieses sagt.«
»Das ist anders, als ich's als Kind gesagt habe,« sagte der Greif.
»Ich habe es zwar noch niemals gehört,« sagte die falsche Schildkröte; »aber es klingt wie blühender Unsinn.«
Alice erwiederte nichts; sie setzte sich, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und überlegte, ob wohl je wieder irgend etwas natürlich sein würde.
»Ich möchte es gern erklärt haben,« sagte die falsche Schildkröte.
»Sie kann's nicht erklären,« warf der Greif schnell ein. »Sage den nächsten Vers.«
»Aber das von den Füßen?« fragte die falsche Schildkröte wieder. »Wie kann er sie mit der Nase auswärts rücken?«
»Es ist die erste Position bei'm Tanzen,« sagte Alice aber sie war über Alles dies entsetzlich verwirrt und hätte am liebsten aufgehört.
»Sage den nächsten Vers!« wiederholte der Greif ungeduldig, »er fängt an: ›Seht mein Land!‹«
Alice wagte nicht, es abzuschlagen, obgleich sie überzeugt war, es würde Alles falsch kommen, sie fuhr also mit zitternder Stimme fort: –
»Seht mein Land und grüne Fluten,« sprach ein fetter Lachs vom Rhein;
»Goldne Schuppen meine Rüstung, und mit Austern trink' ich Wein.«
»Wozu sollen wir das dumme Zeug mit anhören,« unterbrach sie die falsche Schildkröte, »wenn sie es nicht auch erklären kann? Es ist das verworrenste Zug, das ich je gehört habe!«
»Ja, ich glaube auch, es ist besser du hörst auf,« sagte der Greif, und Alice gehorchte nur zu gern.
»Sollen wir noch eine Figur von dem Hummerballet versuchen?« fuhr der Greif fort. »Oder möchtest du lieber, daß die falsche Schildkröte dir ein Lied vorsingt?«
»Oh, ein Lied! bitte, wenn die falsche Schildkröte so gut sein will,« antwortete Alice mit solchem Eifer, daß der Greif etwas beleidigt sagte: »Hm! der Geschmack ist verschieden! Singe ihr vor ›Schildkrötensuppe‹, hörst du, alte Tante?«
Die falsche Schildkröte seufzte tief auf und fing an, mit halb von Schluchzen erstickter Stimme, so zu singen: –
»Schöne Suppe, so schwer und so grün,
Dampfend in der heißen Terrin'!
Wem nach einem so schönen Gericht
Wässerte denn der Mund wohl nicht?
Kön'gin der Suppen, du schönste Supp'!
Kön'gin der Suppen, du schönste Supp'!
Wu–underschöne Su–uppe!
Wu–underschöne Su–uppe!
Kö–önigin der Su–uppen,
Wunder-wunderschöne Supp'!
Schöne Suppe, wer fragt noch nach Fisch,
Wildpret oder was sonst auf dem Tisch?
Alles lassen wir stehen zu p
Reisen allein die wunderschöne Supp',
Preisen allein die wunderschöne Supp'!
Wu–underschöne Su–uppe!
Wu–underschöne Su–uppe!
Kö–önigin der Su–uppen,
Wunder-wunderschöne Supp'!«
»Den Chor noch einmal!« rief der Greif, und die falsche Schildkröte hatte ihn eben wieder angefangen, als ein Ruf: »Das Verhör fängt an!« in der Ferne erscholl.
»Komm schnell!« rief der Greif, und Alice bei der Hand nehmend lief er fort, ohne auf das Ende des Gesanges zu warten.
»Was für ein Verhör?« keuchte Alice bei'm Rennen; aber der Greif antwortete nichts als: »Komm schnell!« und rannte weiter, während schwächer und schwächer, vom Winde getragen, die Worte ihnen folgten: –
»Kö–önigin der Su–uppen,
Wunder-wunderschöne Supp'!«
Elftes Kapitel.
Wer hat die Kuchen gestohlen?
Der König und die Königin der Herzen saßen auf ihrem Throne, als sie ankamen, und eine große Menge war um sie versammelt – allerlei kleine Vögel und Thiere, außerdem das ganze Pack Karten: der Bube stand vor ihnen, in Ketten, einen Soldaten an jeder Seite, um ihn zu bewachen; dicht bei dem Könige befand sich das weiße Kaninchen, eine Trompete in einer Hand, in der andern eine Pergamentrolle. Im Mittelpunkte des Gerichtshofes stand ein Tisch mit einer Schüssel voll Torten: sie sahen so appetitlich aus, daß der bloße Anblick Alice ganz hungrig darauf machte. – »Ich wünschte, sie machten schnell mit dem Verhör und reichten die Erfrischungen herum.« Aber dazu schien wenig Aussicht zu sein, so daß sie anfing, Alles genau in Augenschein zu nehmen, um sich die Zeit zu vertreiben.
Alice war noch nie in einem Gerichtshofe gewesen, aber sie hatte in ihren Büchern davon gelesen und bildete sich was Rechtes darauf ein, daß sie Alles, was sie dort sah, bei Namen zu nennen wußte. »Das ist der Richter,« sagte sie für sich, »wegen seiner großen Perücke.«
Der Richter war übrigens der König, und er trug die Krone über der Perücke, es sah nicht aus, als sei es ihm bequem, und sicherlich stand es ihm nicht gut.
»Und jene zwölf kleinen Thiere da sind vermuthlich die Geschworenen,« dachte Alice. Sie wiederholte sich selbst dies Wort zwei bis drei Mal, weil sie so stolz darauf war; denn sie glaubte, und das mit Recht, daß wenig kleine Mädchen ihres Alters überhaupt etwas von diesen Sachen wissen würden.
Die zwölf Geschworenen schrieben alle sehr eifrig auf Schiefertafeln. »Was thun sie?« frage Alice den Greifen in's Ohr. »Sie können ja noch nichts aufzuschreiben haben, ehe das Verhör beginnt.«
»Sie schreiben ihre Namen auf,« sagte ihr der Greif in's Ohr, »weil sie bange sind, sie zu vergessen, ehe das Verhör zu Ende ist.«
»Dumme Dinger!« fing Alice entrüstet ganz laut an; aber sie hielt augenblicklich inne, denn das weiße Kaninchen rief aus: »Ruhe im Saal!« und der König setzte seine Brille auf und blickte spähend umher, um zu sehen, wer da gesprochen habe.
Alice konnte ganz deutlich sehen, daß alle Geschworne »dumme Dinger!« auf ihre Tafeln schrieben, und sie merkte auch, daß Einer von ihnen nicht wußte, wie es geschrieben wird, und seinen Nachbar fragen mußte. »Die Tafeln werden in einem schönen Zustande sein, wenn das Verhör vorüber ist!« dachte Alice.
Einer der Geschwornen hatte einen Tafelstein, der quiekste. Das konnte Alice natürlich nicht aushalten, sie ging auf die andere Seite des Saales, gelangte dicht hinter ihn und fand sehr bald eine Gelegenheit, den Tafelstein fortzunehmen. Sie hatte es so schnell gethan, daß der arme kleine Geschworne (es war Wabbel) durchaus nicht begreifen konnte, wo sein Griffel hingekommen war; nachdem er ihn also überall gesucht hatte, mußte er sich endlich entschließen, mit einem Finger zu schreiben, und das war von sehr geringem Nutzen, da es keine Spuren auf der Tafel zurückließ.
»Herold, verlies die Anklage!« sagte der König.
Da blies das weiße Kaninchen drei Mal in die Trompete, entfaltete darauf die Pergamentrolle und las wie folgt: –
»Coeur-Königin, sie buk Kuchen,
Juchheisasah, juchhe!
Coeur-Bube kam, die Kuchen nahm.
Wo sind sie nun? O weh!«
»Gebt euer Urtheil ab!« sprach der König zu den Geschwornen.
»Noch nicht, noch nicht!« unterbrach ihn das Kaninchen schnell. »Da kommt noch Vielerlei erst.«
»Laßt den ersten Zeugen eintreten!« sagte der König, worauf das Kaninchen drei Mal in die Trompete blies und ausrief: »Erster Zeuge!«
Der erste Zeuge war der Hutmacher. Er kam herein, eine Tasse in der Hand und in der andern ein Stück Butterbrot haltend. »Ich bitte um Verzeihung, Eure Majestät, daß ich das mitbringe; aber ich war nicht ganz fertig mit meinem Thee, als nach mir geschickt wurde.«
»Du hättest aber damit fertig sein sollen,« sagte der König. »Wann hast du damit angefangen?«
Der Hutmacher sah den Faselhasen an, der ihm in den Gerichtssaal gefolgt war, Arm in Arm mit dem Murmelthier. »Vierzehnten März, glaube ich war es,« sagte er.
»Funfzehnten,« sagte der Faselhase.
»Sechzehnten,« fügte das Murmelthier hinzu.
»Nehmt das zu Protokoll,« sagte der König zu den Geschwornen, und die Geschwornen schrieben eifrig die drei Daten auf ihre Tafeln, addirten sie dann und machten die Summe zu Groschen und Pfennigen.
»Nimm deinen Hut ab,« sagte der König zum Hutmacher.
»Es ist nicht meiner,« sagte der Hutmacher.
»Gestohlen!« rief der König zu den Geschwornen gewendet aus, welche sogleich die Thatsache notierten.
»Ich halte sie zum Verkauf,« fügte der Hutmacher als Erklärung hinzu, »ich habe keinen eigenen. Ich bin ein Hutmacher.«
Da setzte sich die Königin die Brille auf und fing an, den Hutmacher scharf zu beobachten, was ihn sehr blaß und unruhig machte.
»Gieb du deine Aussage,« sprach der König, »und sei nicht ängstlich, oder ich lasse dich auf der Stelle hängen.«
Dies beruhigte den Zeugen augenscheinlich nicht; er stand abwechselnd auf dem linken und rechten Fuße, sah die Königin mit großem Unbehagen an, und in seiner Befangenheit biß er ein großes Stück aus seiner Theetasse statt aus seinem Butterbrot.
Gerade in diesem Augenblick spürte Alice eine seltsame Empfindung, die sie sich durchaus nicht erklären konnte, bis sie endlich merkte, was es war: sie fing wieder an zu wachsen, und sie wollte sogleich aufstehen und den Gerichtshof verlassen; aber nach weiterer Ueberlegung beschloß sie zu bleiben, wo sie war, so lange sie Platz genug hatte.
»Du brauchtest mich wirklich nicht so zu drängen,« sagte das Murmelthier, welches neben ihr saß. »Ich kann kaum athmen.«
»Ich kann nicht dafür,« sagte Alice bescheiden, »ich wachse.«
»Du hast kein Recht dazu, hier zu wachsen,« sagte das Murmelthier.
»Rede nicht solchen Unsinn,« sagte Alice dreister; »Du weißt recht gut, daß du auch wächst.«
»Ja, aber ich wachse in vernünftigem Maßstabe,« sagte das Murmelthier, »nicht auf so lächerliche Art.« Dabei stand es verdrießlich auf und ging an die andere Seite des Saales.
Die ganze Zeit über hatte die Königin unablässig den Hutmacher angestarrt, und gerade als das Murmelthier durch den Saal ging, sprach sie zu einem der Gerichtsbeamten: »Bringe mir die Liste der Sänger im letzten Concerte!« Worauf der unglückliche Hutmacher so zitterte, daß ihm beide Schuhe abflogen.
»Gieb deine Aussage,« wiederholte der König ärgerlich, »oder ich werde dich hinrichten lassen, ob du dich ängstigst oder nicht.«
»Ich bin ein armer Mann, Eure Majestät,« begann der Hutmacher mit zitternder Stimme, »und ich hatte eben erst meinen Thee angefangen – nicht länger als eine Woche ungefähr – und da die Butterbrote so dünn wurden – und es Teller und Töpfe in den Thee schneite.«
»Teller und Töpfe – was?« fragte der König.
»Es fing mit dem Thee an,« erwiederte der Hutmacher.
»Natürlich fangen Teller und Töpfe mit einem T an. Hältst du mich für einen Esel? Rede weiter!«
»Ich bin ein armer Mann,« fuhr der Hutmacher fort, »und seitdem schneite Alles – der Faselhase sagte nur –«
»Nein, ich hab's nicht gesagt!« unterbrach ihn der Faselhase schnell.
»Du hast's wohl gesagt!« rief der Hutmacher.
»Ich läugne es!« sagte der Faselhase.
»Er läugnet es!« sagte der König: »laßt den Theil der Aussage fort.«
»Gut, auf jeden Fall hat's das Murmelthier gesagt –« fuhr der Hutmacher fort, indem sich ängstlich umsah, ob es auch läugnen würde; aber das Murmelthier läugnete nichts, denn es war fest eingeschlafen. »Dann,« sprach der Hutmacher weiter, »schnitt ich noch etwas Butterbrot –«
»Aber was hat das Murmelthier gesagt?« fragte einer der Geschwornen.
»Das ist mir ganz entfallen,« sagte der Hutmacher.
»Aber es muß dir wieder einfallen,« sagte der König, »sonst lasse ich die köpfen.«
Der unglückliche Hutmacher ließ Tasse und Butterbrot fallen und ließ sich auf ein Knie nieder.
1 comment