Amerika - Roman

Amerika, der erste der großen Romane Franz Kafkas, hat als Schauplatz das Land, dessen Möglichkeiten den europäischen Emigranten zu Beginn des 20. Jahrhunderts tatsächlich noch unbegrenzt erschienen. Der sechzehnjährige Karl Roßmann muß wegen eines Verhältnisses zu einem Dienstmädchen zwangsweise auswandern, doch seine Versuche, sich in der rationalisierten, eigengesetzlichen und unpersönlich grausamen Neuen Welt zurechtzufinden und ein neues Leben zu begründen, scheinen zu scheitern. Wie Josef K. im Prozeß und der Landvermesser K. im Schloß umkreist auch er ein ihm stets unerreichbar bleibendes Ziel. Was aber Amerika vom Prozeß und vom Schloß unterscheidet, ist der weniger düstere, offenere Schluß.

Franz Kafka, geboren am 3. Juli 1883 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Prag, studierte Jura und arbeitete als Anwalt in der »Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt« in Prag. Er starb am 3. Juni 1924 in einem Sanatorium in der Nähe von Wien.

Franz Kafka

Amerika

Roman

Suhrkamp

Amerika, herausgegeben von Max Brod,

erschien erstmals 1927 im Kurt Wolff Verlag, Berlin.

Textgrundlage der vorliegenden Ausgabe ist die

sogenannte Dritte Ausgabe:

Franz Kafka, Gesammelte Werke.

Herausgegeben von Max Brod.

Amerika, Roman. S. Fischer Verlag.

Lizenzausgabe von Schocken Books, New York, 1953

Umschlagfoto: Christine Schneider/zefa/Corbis

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

Erste Auflage dieser Ausgabe 2007

© Schocken Verlag, Berlin, 1935

© Schocken Books Inc., New York City, USA, 1946

Abdruck der Nachworte von Max Brod mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags, Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73305-9

www.suhrkamp.de

Inhalt

Der Heizer

Der Onkel

Ein Landhaus bei New York

Weg nach Ramses

Hotel Occidental

Der Fall Robinson

Ein Asyl

Das Naturtheater von Oklahoma

Anhang

Fragmente

I »Auf! Auf!« rief Robinson

II Ausreise Bruneldas

M[ax] B[rod], Nachwort zur ersten Ausgabe

M[ax] B[rod], Nachwort zur zweiten Ausgabe

M[ax] B[rod], Nachwort zur dritten Ausgabe

Der Heizer

Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.

›So hoch!‹ sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehen dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben.

Ein junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüchtig bekannt geworden war, sagte im Vorübergehen: »Ja, haben Sie denn noch keine Lust, auszusteigen?« »Ich bin doch fertig«, sagte Karl, ihn anlachend, und hob aus Übermut, und weil er ein starker Junge war, seinen Koffer auf die Achsel. Aber wie er über seinen Bekannten hinsah, der ein wenig seinen Stock schwenkend sich schon mit den andern entfernte, merkte er bestürzt, daß er seinen eigenen Regenschirm unten im Schiff vergessen hatte. Er bat schnell den Bekannten, der nicht sehr beglückt schien, um die Freundlichkeit, bei seinem Koffer einen Augenblick zu warten, überblickte noch die Situation, um sich bei der Rückkehr zurechtzufinden, und eilte davon. Unten fand er zu seinem Bedauern einen Gang, der seinen Weg sehr verkürzt hätte, zum erstenmal versperrt, was wahrscheinlich mit der Ausschiffung sämtlicher Passagiere zusammenhing, und mußte Treppen, die einander immer wieder folgten, durch fortwährend abbiegende Korridore, durch ein leeres Zimmer mit einem verlassenen Schreibtisch mühselig suchen, bis er sich tatsächlich, da er diesen Weg nur ein- oder zweimal und immer in größerer Gesellschaft gegangen war, ganz und gar verirrt hatte. In seiner Ratlosigkeit und da er keinen Menschen traf und nur immerfort über sich das Scharren der tausend Menschenfüße hörte und von der Ferne, wie einen Hauch, das letzte Arbeiten der schon eingestellten Maschinen merkte, fing er, ohne zu überlegen, an eine beliebige kleine Tür zu schlagen an, bei der er in seinem Herumirren stockte.

»Es ist ja offen«, rief es von innen, und Karl öffnete mit ehrlichem Aufatmen die Tür. »Warum schlagen Sie so verrückt auf die Tür?« fragte ein riesiger Mann, kaum daß er nach Karl hinsah. Durch irgendeine Oberlichtluke fiel ein trübes, oben im Schiff längst abgebrauchtes Licht in die klägliche Kabine, in welcher ein Bett, ein Schrank, ein Sessel und der Mann knapp nebeneinander, wie eingelagert, standen. »Ich habe mich verirrt«, sagte Karl, »ich habe es während der Fahrt gar nicht so bemerkt, aber es ist ein schrecklich großes Schiff.« »Ja, da haben Sie recht«, sagte der Mann mit einigem Stolz und hörte nicht auf, an dem Schloß eines kleinen Koffers zu hantieren, den er mit beiden Händen immer wieder zudrückte, um das Einschnappen des Riegels zu behorchen. »Aber kommen Sie doch herein!« sagte der Mann weiter, »Sie werden doch nicht draußen stehn!« »Störe ich nicht?« fragte Karl. »Ach, wie werden Sie denn stören!« »Sind Sie ein Deutscher?« suchte sich Karl noch zu versichern, da er viel von den Gefahren gehört hatte, welche besonders von Irländern den Neuankömmlingen in Amerika drohen. »Bin ich, bin ich«, sagte der Mann. Karl zögerte noch. Da faßte unversehens der Mann die Türklinke und schob mit der Türe, die er rasch schloß, Karl zu sich herein. »Ich kann es nicht leiden, wenn man mir vom Gang hereinschaut«, sagte der Mann, der wieder an seinem Koffer arbeitete, »da läuft jeder vorbei und schaut herein, das soll der Zehnte aushalten!« »Aber der Gang ist doch ganz leer«, sagte Karl, der unbehaglich an den Bettpfosten gequetscht dastand. »Ja, jetzt«, sagte der Mann. ›Es handelt sich doch um jetzt‹, dachte Karl, ›mit dem Mann ist schwer zu reden.‹ »Legen Sie sich doch aufs Bett, da haben Sie mehr Platz«, sagte der Mann. Karl kroch, so gut es ging, hinein und lachte dabei laut über den ersten vergeblichen Versuch, sich hinüberzuschwingen.