– Dies Geschrei, wovon einem die Ohren gellten, und diese ganze Übung kam Anton wie toll und rasend vor, und er schämte sich nicht wenig, da er sich schmeichelte, schon mit Ausdruck lesen zu können, daß er hier erst wieder anfangen sollte, buchstabieren zu lernen, – aber die Reihe, vorzuschreien, kam bald an ihn, denn dies ging wie ein Lauffeuer herum; und nun saß er und stockte, und die ganze schöne Musik geriet auf einmal aus dem Takt. – »Nun fort!« sagte der Inspektor, und als es nicht ging, sah er ihn mit einem Blick der äußersten Verachtung an und sagte: »Dummer Knabe!« und ließ den folgenden weiter buchstabieren. – Anton glaubte in dem Augenblick vernichtet zu sein, da er sich plötzlich in der Meinung eines Menschen, auf dessen Beifall er schon so viel gerechnet hatte, so tief herabgesunken sahe, daß dieser ihm nicht einmal mehr zutrauete, daß er buchstabieren könne.

War ehemals in Braunschweig sein Körper durch die Bürde, die er trug, unterjocht worden, so wurde es itzt noch weit mehr sein Geist, der unter der Last erlag, mit welcher die Worte›dummer Knabe!‹ von dem Inspektor auf ihn fielen.

Allein, diesmal galt bei ihm, was vom Themistokles erzählt wird, da dieser auch einmal in seiner Jugend einen öffentlichen Schimpf erlitt: non fregit eum, sed erexit. – Er strengte sich seit dem Tage, an welchem er diese Demütigung erlitt, noch zehnmal mehr als vorher an, sich bei seinen Lehrern in Achtung zu setzen, um den Inspektor, der ihn so verkannt hatte, gleichsam einst zu beschämen und ihm über das Unrecht, das er von ihm erlitten hatte, Reue zu erwecken.

Der Inspektor trug alle Morgen in den Frühstunden den Lehrbegriff der lutherischen Kirche ganz dogmatisch mit allen Widerlegungen der Papisten sowohl als der Reformierten vor und legte Gesenii Auslegung von Luthers kleinem Katechismus dabei zum Grunde. – Antons Kopf wurde dadurch freilich mit vielem unnützem Zeuge angefüllt, aber er lernte doch Hauptabteilungen und Unterabteilungen machen, er lernte systematisch zu Werke gehen.

Seine nachgeschriebenen Hefte wuchsen immer stärker an, und in weniger als einem Jahre besaß er eine vollständige Dogmatik mit allen Beweisstellen aus der Bibel und einer vollständigen Polemik gegen Heiden, Türken, Juden, Griechen, Papisten und Reformierten verknüpft – er wußte von der Transsubstantiation im Abendmahl, von den fünf Stufen der Erhöhung und Erniedrigung Christi, von den Hauptlehren des Alkorans und den vorzüglichsten Beweisen der Existenz Gottes gegen die Freigeister wie ein Buch zu reden.

Und er redete nun auch wirklich wie ein Buch von allen diesen Sachen. Er hatte nun reichen Stoff zu predigen, und seine Brüder bekamen alle die nachgeschriebenen Hefte von der halsbrechenden Kanzel in der Stube wieder von ihm zu hören.

Zuweilen wurde er des Sonntags zu einem Vetter eingeladen, bei welchem eine Versammlung von Handwerksburschen war, hier mußte er sich vor den Tisch stellen und in dieser Versammlung eine förmliche Predigt mit Text, Thema und Einteilung halten, wo er denn gemeiniglich die Lehre der Papisten von der Transsubstantiation oder die Gottesleugner widerlegte, mit vielem Pathos die Beweise für das Dasein Gottes nacheinander aufzählte und die Lehre vom Ohngefähr in ihrer ganzen Blöße darstellte.

Nun war die Einrichtung in dem Institut, wo Anton unterrichtet wurde, daß die erwachsenen Leute, welche zu Schulmeistern gebildet wurden, sich des Sonntags in alle Kirchen verteilen und die Predigten nachschreiben mußten, die sie dann dem Inspektor zur Durchsicht brachten. – Anton fand also jetzt noch einmal so viel Vergnügen am Predigtnachschreiben, da er sahe, daß er auf die Art mit seinen Lehrern einerlei Beschäftigung trieb, und diese, denen er nun die Predigten zeigte, bewiesen ihm immer mehr Achtung und begegneten ihm beinahe wie ihresgleichen.

Er bekam am Ende einen dicken Band nachgeschriebener Predigten zusammen, die er nun als einen großen Schatz betrachtete, und worunter ihm insbesondre zwei wahre Kleinodien zu sein schienen: die eine war von dem Pastor Uhle, der mit dem Pastor Paulmann wegen der Geschwindigkeit im Sprechen die meiste Ähnlichkeit hatte, in der Ägidienkirche gehalten und handelte vom jüngsten Gericht. – Mit wahrem Entzücken harangierte Anton diese Predigt oft seiner Mutter wieder vor, worin die Zerstörung der Elemente, das Krachen des Weltbaues, das Zittern und Zagen des Sünders, das fröhliche Erwachen der Frommen in einem Kontrast dargestellt wurde, der die Phantasie bis auf den höchsten Grad erhitzte – und dies war eben Antons Sache. Er liebte die kalten Vernunftpredigten nicht. Die zweite Predigt, welche er unter allen vorzüglich schätzte, war eine Abschiedspredigt des Pastors Lesemann, die er in der Kreuzkirche hielt, und worin derselbe fast vom Anfange bis zu Ende durch Tränen und Schluchzen unterbrochen wurde, so beliebt war er bei seiner Gemeine. Das rührende Pathos, womit diese Rede wirklich gehalten wurde, machte auf Antons Herz einen unauslöschlichen Eindruck, und er wünschte sich keine größre Glückseligkeit, als einmal auch vor einer solchen Menge von Menschen, die alle mit ihm weinten, eine solche Abschiedsrede halten zu können.

Bei so etwas war er in seinem Elemente und fand ein unaussprechliches Vergnügen an der wehmütigen Empfindung, worin er dadurch versetzt wurde. Niemand hat wohl mehr die Wonne der Tränen (the joy of grief) empfunden als er bei solchen Gelegenheiten. Eine solche Erschütterung der Seele durch eine solche Predigt war ihm mehr wert als aller andre Lebensgenuß, er hätte Schlaf und Nahrung darum gegeben.

Auch das Gefühl für die Freundschaft erhielt jetzt bei ihm neue Nahrung. Er liebte einige von seinen Lehrern im eigentlichen Verstande und empfand eine Sehnsucht nach ihrem Umgange – insbesondre äußerte sich seine Freundschaft gegen einen derselben namens R ..., der dem äußern Anschein nach ein sehr harter und rauher Mann war, in der Tat aber das edelste Herz besaß, was nur bei einem künftigen Dorfschulmeister gefunden werden kann.

Bei diesem hatte Anton doch eine Privatstunde im Rechnen und Schreiben, welche sein Vater für ihn bezahlte – denn Rechnen und Schreiben war noch das einzige, welches dieser für Anton zu lernen der Mühe wert hielt. – R ... ließ ihn denn bald, weil er schon orthographisch schrieb, eigne Ausarbeitungen machen, die seinen Beifall erhielten, welcher für Anton so schmeichelhaft war, daß er sich endlich erkühnte, diesem Lehrer sein Herz zu entdecken und so offenherzig und freimütig mit ihm zu sprechen, wie er lange mit niemandem hatte sprechen dürfen.

Er entdeckte ihm also seine unüberwindliche Neigung zum Studieren und die Härte seines Vaters, der ihn davon abhielte, und der ihn nichts als ein Handwerk wolle lernen lassen. Der rauhe R ... schien über dies Zutrauen gerührt zu sein und sprach Anton Mut ein, sich dem Inspektor zu entdecken, der ihm vielleicht noch eher zu seinem Endzweck würde behülflich sein können. Das war nun eben der Inspektor, welcher zu Anton, da er beim Buchstabieren nicht vorschreien wollte, mit der verächtlichsten Miene »dummer Knabe!« gesagt hatte, welches er noch nicht vergessen konnte und also noch lange Bedenken trug, einem solchen Manne seine Neigung zum Studieren zu entdecken, der gezweifelt hatte, ob er auch buchstabieren könne.

Indes nahm die Achtung, worin sich Anton in dieser Schule setzte, von Tage zu Tage zu, und er erreichte seinen Wunsch, hier der erste zu sein und die meiste Aufmerksamkeit auf sich gerichtet zu sehn. Dies war freilich eine solche Nahrung für seine Eitelkeit, daß er sich oft schon im Geist als Prediger erblickte, insbesondere, wenn er schwarze Unterkleider trug – dann trat er mit einem gravitätischen Schritt und ernsthafter als sonst einher. –

Am Ende der Woche des Sonnabends wurde immer, nachdem vorher das Lied ›Bis hieher hat mich Gott gebracht‹ gesungen war, von einem der Schüler ein langes Gebet gelesen, – wenn dies an Anton kam, so war das ein wahres Fest für ihn – er dachte sich auf der Kanzel, wo er noch während der letzten Verse des Gesanges seine Gedanken sammelte und nun auf einmal wie der Pastor Paulmann mit aller Fülle der Beredsamkeit in ein brünstiges Gebet ausbrach. – Seine Deklamation bekam also für einen Schulknaben freilich zu viel Pathos, als daß dieses nicht hätte auffallend sein sollen. Der Lehrer ließ ihn also nur selten das Gebet lesen. –

Ja, es entstand zuletzt sogar eine Art von Neid gegen ihn bei den Lehrern. – Einer derselben stellte eine Übung an, wo eine von Hübners biblischen Historien von den Schülern mit eignen Worten mußte wiedererzählt werden. Anton schmückte diese Historie mit aller seiner Phantasie auf eine poetische Art aus und trug sie mit einer Art von rednerischem Schmuck wieder vor – das beleidigte den Lehrer, der am Ende die Bemerkung machte, Anton solle kürzer erzählen. Das künftigemal faßte er also die ganze Erzählung in ein paar Worte zusammen und war in zwei Minuten damit fertig. – Das war dem Lehrer wieder zu kurz und brachte ihn aufs neue auf – endlich ließ er ihn gar keine Historien mit eignen Worten mehr erzählen. – Des Nachmittags fürchteten sich die Lehrer, welche die Katechisation wiederholten, ihn zu fragen, weil er immer mehr als sie nachgeschrieben hatte – er konnte also gar nicht einmal mehr dazu kommen, seine Fähigkeiten zu zeigen, welches doch sein höchster Wunsch war, um Aufmerksamkeit auf sich zu erregen.

Voller Unwillen darüber, daß er immer ungefragt und stumm dasitzen mußte, ging er endlich einmal mit tränenden Augen zum Inspektor, der ihn in den Morgenstunden nun auch öfter gefragt hatte und sein Urteil über ihn geändert zu haben schien, – dieser fragte ihn, was ihm fehle, ob ihm etwa von einem seiner Mitschüler Unrecht geschehen sei, und Anton antwortete: nicht von seinen Mitschülern, sondern von seinen Lehrern sei ihm Unrecht geschehen, diese vernachlässigten ihn, und niemand fragte ihn mehr, wenn er gleich die Sache besser als andre wüßte. Hierin möchte man ihm doch Recht verschaffen!

Der Inspektor suchte ihm das auszureden und entschuldigte die Lehrer mit der Menge der Schüler, von der Zeit an aber fing er an, selbst aufmerksamer auf ihn zu werden, und fragte ihn des Morgens in der Frühstunde öfter als sonst.

In einer Stunde wöchentlich wurde eine Übung mit den Psalmen angestellt, wo ein jeder der Schüler sich Lehren herausziehn mußte; diese wurden auf ein Blatt Papier oder eine Rechentafel geschrieben und dann abgelesen, wobei mancher stark zu schwitzen pflegte.