– Der Inspektor war dabei. Anton schrieb nichts auf. Als aber die Reihe an ihn kam, ging er den ganzen Psalm durch und hielt eine ordentliche Abhandlung oder Predigt darüber, die fast eine halbe Stunde dauerte, so daß der Inspektor selbst am Ende sagte: es sei nun genug; – er solle den Psalm nicht eigentlich erklären, sondern nur einige moralische Lehren herausziehen.
Auf die Weise ging beinahe ein Jahr hin, wo Anton so außerordentliche Fortschritte in seinem Fleiß tat und sich so untadelhaft betrug, daß er seinen Zweck, Aufmerksamkeit auf sich zu erregen, im höchsten Grade erreichte, indem er sich sogar den Neid seiner Lehrer zuzog.
Nun stand er aber auch auf dem entscheidenden Punkte, wo er irgendeine Lebensart wählen sollte, und die Härte seines Vaters, der nun daran arbeitete, ihn bald loszuwerden, nahm von Tage zu Tage gegen ihn zu, so daß die Schule gleichsam ein sichrer Zufluchtsort für ihn vor der Bedrückung und Verfolgung zu Hause war.
Sein geliebter Lehrer R ... wurde indes zu einem Dorfschulmeister befördert, und nun hatte er keinen eigentlichen Freund mehr unter seinen Lehrern. – Dieser riet ihm bei seinem Abschiede noch einmal, sich geradezu an den Inspektor zu wenden – und weil es nun ohnedem die höchste Zeit war, irgendeinen Entschluß zu fassen, so wagte er es eines Tages mit klopfendem Herzen, den Inspektor um Gehör zu bitten, weil er ihm etwas Wichtiges zu sagen habe. – Dieser nahm ihn mit auf seine Stube, und hier wurde Anton freimütiger, erzählte ihm seine Schicksale und entdeckte ihm sein ganzes Herz. – Der Inspektor schilderte ihm die Schwierigkeiten, die Kosten des Studierens, benahm ihm aber demohngeachtet nicht alle Hoffnung, sondern versprach, sich wo möglich für ihn zu verwenden, daß er unentgeltlich eine lateinische Schule besuchen könnte – indes war das alles sehr weit aussehend, weil er von seinen Eltern zu seiner Unterstützung gar nichts, nicht einmal Wohnung und Nahrung hoffen durfte, indem sein Vater noch sechs Meilen hinter Hannover eine kleine Bedienung erhalten hatte und also in kurzem ganz aus Hannover wegziehen mußte.
Indessen hatte der Inspektor mit dem Konsistorialrat Götten, unter dessen Direktion das Schulmeisterinstitut stand, Antons wegen geredet, und dieser ließ ihn zu sich kommen. – Der Anblick dieses ehrwürdigen Greises schlug zuerst Antons Mut darnieder, und seine Knie bebten, da er vor ihm stand – als ihn aber der Greis leutselig bei der Hand faßte und mit sanfter Stimme anredete, fing er an, freimütig zu sprechen und seine Neigung zum Studieren zu entdecken. – Der Konsistorialrat Götten ließ ihn darauf eine von Gellerts geistlichen Oden laut lesen, um zu hören, wie seine Ausrede und Stimme beschaffen sei, wenn er sich dereinst dem Predigtamt widmen wollte. – Darauf versprach er, ihm freien Unterricht zu verschaffen und ihn mit Büchern zu unterstützen; das sei aber auch alles, was er für ihn tun könne. – Anton war so voller Freuden über dieses Anerbieten, daß seine Dankbarkeit gar keine Grenzen hatte, und er nun alle Berge auf einmal überstiegen zu haben glaubte. Denn daß er außer freiem Unterricht und Büchern auch noch Nahrung, Wohnung und Kleider brauche, fiel ihm gar nicht ein.
Triumphierend eilte er nach Haus und verkündigte seinen Eltern sein Glück. – Aber wie sehr wurde seine Freude niedergeschlagen, da sein Vater ihm ganz kaltblütig sagte: er dürfe, wenn er studieren wolle, auf keinen Heller von ihm rechnen – wenn er sich also selbst Brot und Kleider zu verschaffen imstande sei, so habe er gegen sein Studieren weiter nichts einzuwenden. – In einigen Wochen würde er von Hannover wegreisen, und wenn Anton alsdann noch bei keinem Meister wäre, so möchte er sehen, wo er unterkäme und nach Gefallen abwarten, ob einer von den Leuten, die ihm das Studieren so eifrig anrieten, auch für seinen Lebensunterhalt sorgen würde.
Traurig und tiefsinnig ging Anton itzt umher und dachte seinem Schicksal nach. – Der Gedanke zu studieren war fest in seiner Seele, und sollten sich ihm auch noch weit mehr Schwierigkeiten in den Weg setzen – mancherlei Projekte durchkreuzten sich in seinem Kopfe. – Er erinnerte sich, gelesen zu haben, daß es einst in Griechenland einen lehrbegierigen Jüngling gab, der für seinen Unterhalt Holz haute und Wasser trug, um die Zeit, die ihm noch übrig blieb, dem Studieren widmen zu können. – Diesem Beispiele wollte er folgen und war oft schon willens, sich als Tagelöhner auf gewisse Stunden zu verdingen, um die übrige Zeit zu seinem freien Gebrauch zu haben – dann konnte er aber wieder die Schulstunden nicht ordentlich abwarten – so machte ihn alle sein Nachdenken und Überlegung immer nur noch tiefsinniger und unentschloßner. Indes rückte der entscheidende Zeitpunkt immer näher heran, wo er einen Entschluß fassen mußte. – Er sollte nun die Schule, die er bisher besucht hatte, verlassen, um noch eine Zeitlang in die Garnisonschule zu gehen, weil er von dem Garnisonprediger Marquard konfirmiert werden sollte, dessen Vorbereitungs- und Katechisationsstunden er itzt schon zu besuchen anfing, und der wegen seiner Antworten aufmerksam auf ihn geworden war. Allein er würde es von selbst nie gewagt haben, diesem Mann, zu welchem er zuerst gar kein Zutrauen fassen konnte, den Kummer seiner Seele zu entdecken.
Da sich nun für Anton keine solide Aussicht zum Studieren eröffnen wollte, so würde er doch am Ende wahrscheinlich den Entschluß haben fassen müssen, irgendein Handwerk zu lernen, wenn nicht wider Vermuten ein sehr geringfügig scheinender Umstand seinem Schicksal in seinem ganzen künftigen Leben eine andre Wendung gegeben hätte. –
Zweiter Teil
Vorrede
(1786)
Um fernern schiefen Urteilen, wie schon einige über dies Buch gefällt sind, vorzubeugen, sehe ich mich genötigt, zu erklären, daß dasjenige, was ich aus Ursachen, die ich für leicht zu erraten hielt, einen psychologischen Roman genannt habe, im eigentlichsten Verstande Biographie und zwar eine so wahre und getreue Darstellung eines Menschenlebens bis auf seine kleinste Nüancen ist, als es vielleicht nur irgendeine geben kann. –
Wem nun an einer solchen getreuen Darstellung etwas gelegen ist, der wird sich an das anfänglich Unbedeutende und unwichtig Scheinende nicht stoßen, sondern in Erwägung ziehen, daß dies künstlich verflochtne Gewebe eines Menschenlebens aus einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten besteht, die alle in dieser Verflechtung äußerst wichtig werden, so unbedeutend sie an sich scheinen. –
Wer auf sein vergangnes Leben aufmerksam wird, der glaubt zuerst oft nichts als Zwecklosigkeit, abgerißne Fäden, Verwirrung, Nacht und Dunkelheit zu sehen; je mehr sich aber sein Blick darauf heftet, desto mehr verschwindet die Dunkelheit, die Zwecklosigkeit verliert sich allmählich, die abgerißnen Fäden knüpfen sich wieder an, das Untereinandergeworfene und Verwirrte ordnet sich – und das Mißtönende löset sich unvermerkt in Harmonie und Wohlklang auf. –
Der Umstand, wodurch Anton Reisers Schicksal unvermutet eine glücklichere Wendung nahm, war: daß er sich auf der Straße mit ein Paar Jungen balgte, die mit ihm aus der Schule kamen und ihn unterwegs geneckt hatten, welches er nicht länger leiden wollte; indem er sich nun mit ihnen bei den Haaren herumzauste, kam auf einmal der Pastor Marquard dahergegangen – und wie groß war nun Reisers Beschämung und Verwirrung, da ihn die beiden Jungen selbst zuerst aufmerksam darauf machten und ihm mit einer Art von Schadenfreude den Zorn vorstellten, den nun der Pastor Marquard auf ihn werfen würde.
Was? – ich will einst selbst solch ein ehrwürdiger Mann werden, wie daherkömmt – wünsche, daß mir das itzt schon ein jeder ansehen soll, damit sich irgendeiner findet, der sich meiner annimmt und mich aus dem Staube hervorzieht, und muß nun in der Stellung von diesem Manne überrascht werden, bei dem ich konfirmiert werden soll, wo ich Gelegenheit hätte, mich in meinem besten Lichte zu zeigen? – Dieser Mann, was wird er nun von mir denken, wofür wird er mich halten?
Diese Gedanken gingen Reisern durch den Kopf und bestürmten ihn auf einmal so sehr mit Scham, Verwirrung und Verachtung seiner selbst, daß er glaubte in die Erde sinken zu müssen. – Aber er ermannte sich, das Selbstzutrauen arbeitete sich unter der erstickenden Scham wieder hervor und flößte ihm zugleich Mut und Zutrauen gegen den Pastor Marquard ein – er faßte schnell ein Herz, ging geradesweges auf den Pastor Marquard zu und redete ihn auf öffentlicher Straße an, indem er zu ihm sagte, er sei einer von den Knaben, die bei ihm zur Kinderlehre gingen, und der Pastor Marquard möchte doch deswegen keinen Zorn auf ihn werfen, daß er sich eben itzt mit den beiden Jungen dort geschlagen hätte, dies wäre sonst gar seine Art nicht; die Jungen hätten ihn nicht zufrieden gelassen: und es sollte nie wieder geschehen. –
Dem Pastor Marquard war es sehr auffallend, sich auf der Straße von einem Knaben auf die Weise angeredet zu sehen, der sich eben mit ein paar andern Buben herumgebalgt hatte. – Nach einer kleinen Pause antwortete er: es sei freilich sehr unrecht und unschicklich, sich zu balgen, indes hätte das weiter nichts zu sagen, wenn er es künftig unterließe; darauf erkundigte er sich auch nach seinem Namen und Eltern, fragte ihn, wo er bis jetzt in die Schule gegangen wäre usw., und entließ ihn sehr gütig. – Wer war aber froher als Reiser, und wie leicht war ihm ums Herz, da er sich nun wieder aus dieser gefährlichen Situation herausgewickelt glaubte!
Und wie viel froher würde er noch gewesen sein, hätte er gewußt, daß dieser ohngefähre Zufall allen seinen ängstlichen Besorgnissen ein Ende machen und die erste Grundlage seines künftigen Glücks sein würde. – Denn von dem Augenblick an hatte der Pastor Marquard den Gedanken gefaßt, sich näher nach diesem jungen Menschen zu erkundigen und sich seiner tätig anzunehmen, weil er nicht ohne Grund vermutete, daß, sobald des jungen Reisers Betragen gegen ihn nicht Verstellung war, es keine gemeine Denkungsart bei einem Knaben von dem Alter voraussetzte – und daß es nicht Verstellung war, dafür schien ihm seine Miene zu bürgen.
Den Sonntag darauf fragte ihn der Pastor Marquard des Nachmittags in der Kinderlehre öfter wie sonst; und Reiser hatte nun schon gewissermaßen einen seiner Wünsche erreicht, in der Kirche vor dem versammelten Volke wenigstens auf irgendeine Art öffentlich reden zu können, indem er die Katechismusfragen des Pastors mit lauter und vernehmlicher Stimme beantwortete, wobei er sich denn sehr von den übrigen unterschied, indem er richtig akzentuierte, da jene ihre Antworten in dem gewöhnlichen singenden Ton der Schulknaben herbeteten.
Nach geendigter Kinderlehre winkte ihn der Pastor Marquard beiseite und entbot ihn auf den andern Morgen zu sich – welch eine freudige Unruhe bemächtigte sich nun auf einmal seiner Gedanken, da es schien, als ob sich irgendein Mensch einmal näher um ihn bekümmern wollte – denn damit schmeichelte er sich nun freilich, daß der Pastor Marquard durch seine Antworten aufmerksam auf ihn geworden sei; und er nahm sich nun auch vor, Zutrauen zu diesem Manne zu fassen und ihm alle seine Wünsche zu entdecken.
Als er nach einer fast schlaflosen Nacht den andern Morgen zu dem Pastor Marquard kam, fragte ihn dieser zuerst, was für einer Lebensart er sich zu widmen dächte, und bahnte ihm also den Weg zu dem, was er schon selbst vorzubringen im Sinn hatte. Reiser entdeckte ihm sein Vorhaben.
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