– Dies mußte Reiser dem Konsistorialrat Götten selber sagen, um den freien Unterricht, welchen er ihm verschafft hatte, abzulehnen, worüber denn derselbe sehr empfindlich wurde und Reisern sehr hart anredete, ihn aber doch zuletzt wieder mit der Aufmunterung entließ, daß er sich auf andre Weise dennoch seiner annehmen wolle.

So schien nun an Reisers Schicksale, um den sich vorher niemand bekümmert hatte, auf einmal alles teilzunehmen. – Er hörte von Eifersucht der Schulen seinetwegen sprechen. – Der Konsistorialrat Götten und der Pastor Marquard schienen sich gleichsam um ihn zu streiten, wer sich am meisten seiner annehmen wollte. Der Pastor Marquard bediente sich des Ausdrucks, er solle nur dem Konsistorialrat Götten sagen, es wären seinetwegen schon Anstalten getroffen worden und würden noch Anstalten getroffen werden, daß er zu der höhern Schule auf der Altstadt hinlänglich vorbereitet würde, ohne vorher die niedere Schule auf der Neustadt zu besuchen. – Also Anstalten sollten nun seinetwegen getroffen werden, wegen eines Knaben, den seine eigenen Eltern nicht einmal ihrer Aufmerksamkeit wert gehalten hatten.

Mit welchen glänzenden Träumen und Aussichten in die Zukunft dies Reisers Phantasie erfüllt habe, darf ich wohl nicht erst sagen. Insbesondre, da nun noch immer die geheimnisvollen Winke bei dem Garnisonküster und die Zurückhaltung des Pastor Marquard fortdauerte, womit er Reisern etwas Wichtiges zu verschweigen schien. –

Endlich kam es denn heraus, daß der Prinz Carl auf Empfehlung des Pastor Marquard sich des jungen Reisers annehmen und ihm monatlich ... Rtlr. zu seinem Unterhalt aussetzen wolle. – Also war nun Reiser auf einmal allen seinen Besorgnissen wegen der Zukunft entrissen, das süße Traumbild eines sehnlich gewünschten, aber nie gehofften Glückes war, ehe er es sich versehn, wirklich geworden, und er konnte nun seinen angenehmsten Phantasien nachhängen, ohne zu fürchten, daß er durch Mangel und Armut darin gestört werden würde. –

Sein Herz ergoß sich wirklich in Dank gegen die Vorsehung. – Kein Abend ging hin, wo er nicht den Prinzen und den Pastor Marquard in sein Abendgebet mit eingeschlossen hätte – und oft vergoß er im stillen Tränen der Freude und des Danks, wenn er diese glückliche Wendung seines Schicksals überdachte.

Reisers Vater hatte nun auch nichts weiter gegen sein Studieren einzuwenden, sobald er hörte, daß es ihm nichts kosten sollte. Überdem kam die Zeit nun heran, wo er seine kleine Bedienung an einem Ort sechs Meilen von Hannover antreten mußte, und sein Sohn konnte ihm also auf keine Weise mehr zur Last fallen. – Allein nun war die Frage, bei wem Reiser nach der Abreise seiner Eltern wohnen und essen sollte. Der Pastor Marquard schien nicht geneigt zu sein, ihn ganz zu sich ins Haus zu nehmen. Es mußte also drauf gedacht werden, ihn irgendwo bei ordentlichen Leuten unterzubringen. Und ein Hoboist, namens Filter, vom Regiment des Prinzen Carl erbot sich von freien Stücken dazu, Reisern unentgeltlich bei sich wohnen zu lassen. Ein Schuster, bei dem seine Eltern einmal im Hause gewohnt hatten, noch ein Hoboist, ein Hofmusikus, ein Garkoch und ein Seidensticker erboten sich jeder, ihm wöchentlich einen Freitisch zu geben.

Dies verringerte Reisers Freude in etwas wieder, welcher glaubte, daß das, was der Prinz für ihn hergab, zu seinem Unterhalt zureichen würde, ohne daß er an fremden Tischen sein Brot essen dürfte. Auch verringerte dies seine Freude nicht ohne Ursach, denn es setzte ihn in der Folge oft in eine höchst peinliche und ängstliche Lage, so daß er oft im eigentlichen Verstande sein Brot mit Tränen essen mußte. – Denn alles beeiferte sich zwar, auf die Weise ihm Wohltaten zu erzeigen, aber jeder glaubte auch dadurch ein Recht erworben zu haben, über seine Aufführung zu wachen und ihm in Ansehung seines Betragens Rat zu erteilen, der dann immer ganz blindlings sollte angenommen werden, wenn er seine Wohltäter nicht erzürnen wollte. Nun war Reiser gerade von so viel Leuten von ganz verschiedener Denkungsart abhängig, als ihm Freitische gaben, wo jeder drohte, seine Hand von ihm abzuziehen, sobald er seinem Rat nicht folgte, der oft dem Rat eines andern Wohltäters geradezu widersprach. Dem einen trug er sein Haar zu gut, dem andern zu schlecht frisiert, dem einen ging er zu schlecht, dem andern, für einen Knaben, der von Wohltaten leben müsse, noch zu geputzt einher, – und dergleichen unzählige Demütigungen und Herabwürdigungen gab es mehr, denen Reiser durch den Genuß der Freitische ausgesetzt war, und denen gewiß ein jeder junger Mensch mehr oder weniger ausgesetzt ist, der das Unglück hat, auf Schulen durch Freitische seinen Unterhalt zu suchen und die Woche hindurch von einem zum andern herumessen zu müssen.

Dies alles ahndete Reisern dunkel, als die Freitische insgesamt für ihn angenommen und keine Wohltat verschmäht wurde, die ihm nur irgend jemand erweisen wollte. – An dem guten Willen aber pflegt es nie zu fehlen, wenn Leute einem jungen Menschen zum Studieren beförderlich sein zu können glauben – dies erweckt einen ganz besondern Eifer – jeder denkt sich dunkel, wenn dieser Mann einmal auf der Kanzel steht, dann wird das auch mein Werk mit sein. – Es entstand ein ordentlicher Wetteifer um Reisern, und jeder, auch der Ärmste, wollte nun auf einmal zum Wohltäter an ihm werden, wie denn ein armer Schuster sich erbot, ihm alle Sonntagabend einmal zu essen zu geben – dies alles wurde mit Freuden für ihn angenommen und von seinen Eltern mit dem Hoboisten und dessen Frau überrechnet, wie glücklich er nun sei, daß er alle Tage in der Woche zu essen habe, und wie man nun von dem Gelde, das der Prinz hergebe, für ihn sparen könne.

Ach, die glänzenden Aussichten, die sich Reiser von dem Glück, das auf ihn wartete, gemacht hatte, verdunkelten sich nachher sehr wieder. Indes dauerte doch der erste angenehme Taumel, in welchen ihn die tätige Vorsorge und die Teilnehmung so vieler Menschen an seinem Schicksale versetzt hatte, noch eine Weile fort. –

Das große Feld der Wissenschaften lag vor ihm – sein künftiger Fleiß, die nützlichste Anwendung jeder Stunde bei seinem künftigen Studieren war den ganzen Tag über sein einziger Gedanke, und die Wonne, die er darin finden, und die erstaunlichen Fortschritte, die er nun tun und sich Ruhm und Beifall dadurch erwerben würde: mit diesen süßen Vorstellungen stand er auf und ging damit zu Bette – aber er wußte nicht, daß ihm das Drückende und Erniedrigende seiner äußern Lage dies Vergnügen so sehr verbittern würde. Anständig genährt und gekleidet zu sein gehört schlechterdings dazu, wenn ein junger Mensch zum Fleiß im Studieren Mut behalten soll. Beides war bei Reisern der Fall nicht. Man wollte für ihn sparen und ließ ihn während der Zeit wirklich darben.

Seine Eltern reisten nun auch weg, und er zog mit seinen wenigen Habseligkeiten bei dem Hoboisten Filter ein, dessen Frau insbesondre sich schon von seiner Kindheit an seiner mit angenommen hatte. – Es herrschte bei diesen Leuten, die keine Kinder hatten, die größte Ordnung in der Einrichtung ihrer Lebensart, welche vielleicht nur irgendwo stattfinden kann.