– Der Pastor Marquard stellte ihm die Schwierigkeiten vor, sprach ihm aber doch auch zugleich wieder Mut ein und machte den Anfang zur tätigen Ermunterung damit, daß er versprach, ihn durch seinen einzigen Sohn, der die erste Klasse des Lyzeums in Hannover besuchte, in der lateinischen Sprache unterrichten zu lassen, womit auch noch in derselben Woche der Anfang gemacht wurde.
Bei dem allen glaubte Reiser in den Mienen und dem Betragen des Pastor Marquard zu lesen, daß er noch irgend etwas Wichtiges zurückbehielte, welches er ihm zu seiner Zeit sagen würde; in dieser Vermutung wurde er noch mehr durch die geheimnisvollen Ausdrücke des Garnisonküsters bestärkt, dessen Lehrstunden er noch besuchte, und der ihm immer einen Stuhl setzte, wenn er kam, indes die andern auf Bänken saßen. – Dieser pflegte denn wohl, wenn die Stunde aus war, zu ihm zu sagen: Sein Sie ja recht auf Ihrer Hut und denken Sie, daß man genau auf Sie achtgibt. – Es sind große Dinge mit Ihnen im Werke! und dergleichen mehr, wodurch nun Reiser freilich anfing, sich eine wichtigere Person als bisher zu glauben, und seine kleine Eitelkeit mehr wie zu viel Nahrung erhielt, die sich denn oft töricht genug in seinem Gange und in seinen Mienen äußerte, indem er manchmal in seinen Gedanken mit allem Ernst und der Würde eines Lehrers des Volks auf der Straße einhertrat, wie er dies schon in Braunschweig getan hatte, besonders wenn er schwarze Weste und Beinkleider trug. Bei seinem Gange hatte er sich den Gang eines jungen Geistlichen, der damals Lazarettprediger in Hannover und zugleich Konrektor am Lyzeum war, zum Muster genommen, weil dieser in der Art sein Kinn zu tragen etwas hatte, das Reisern ganz besonders gefiel.
Nie kann wohl jemand in irgendeinem Genuß glücklicher gewesen sein, als es Reiser damals in der Erwartung der großen Dinge war, die mit ihm vorgehen sollten. – Dies erhitzte seine Einbildungskraft bis auf einen hohen Grad. Und da nun der Zeitpunkt immer näher heranrückte, wo er zum Abendmahl sollte gelassen werden, so erwachten auch alle die schwärmerischen Ideen wieder, die er sich schon in Braunschweig von dieser Sache in den Kopf gesetzt hatte, wozu noch die Lehrstunden des Garnisonküsters kamen, der denjenigen, die er zum Abendmahl vorbereiten half, dabei Himmel und Hölle auf eine so fürchterliche Art vorstellte, daß seinen Zuhörern oft Schrecken und Entsetzen ankam, welches aber doch mit einer angenehmen Empfindung verknüpft war, womit man das Schreckliche und Fürchterliche gemeiniglich anzuhören pflegt, und er empfand dann wieder das Vergnügen, seine Zuhörer so erschüttert zu haben, welches ihm wonnevolle Tränen auspreßte, die den ganzen Auftritt, wenn er so des Abends in der erleuchteten Schulstube zwischen ihnen stand, noch feierlicher machten.
Auch der Pastor Marquard hielt wöchentlich einige Stunden, worin er diejenigen, die zum Abendmahl gehen sollten, vorbereitete; aber das, was er sagte, kam lange nicht gegen die herzerschütternden Anreden seines Küsters, ob es Reisern gleich zusammenhängender und besser gesagt zu sein schien. – Nichts war für Anton schmeichelhafter, als da der Pastor Marquard einmal den Begriff, daß die Gläubigen Kinder Gottes sind, durch das Beispiel erklärte, wenn er mit irgendeinem aus der Zahl seiner jungen Zuhörer genauer umginge, ihn besonders zu sich kommen ließe und sich mit ihm unterredete, dieser ihm denn auch näher als die übrigen wäre, und so wären die Kinder Gottes ihm auch näher als die übrigen Menschen. Nun glaubte Reiser unter der Zahl seiner Mitschüler der einzige gewesen zu sein, auf den der Pastor Marquard aufmerksamer als auf alle übrigen wäre, – allein so schmeichelhaft auch dies für seine Eitelkeit war, so erfüllte es ihn doch bald nachher wieder mit einer unbeschreiblichen Wehmut, daß nun alle die übrigen an diesem Glück, was ihm allein geworden war, nicht teilnehmen sollten und von dem nähern Umgange mit dem Pastor Marquard gleichsam auf immer ausgeschlossen sein sollten. – Eine Wehmut, die er sich schon in seinen frühesten Kinderjahren einmal empfunden zu haben erinnert, da ihm seine Base in einem Laden ein Spielzeug gekauft hatte, das er in Händen trug, als er aus dem Hause ging; und vor der Haustüre saß ein Mädchen in zerlumpten Kleidern ohngefähr in seinem Alter, das voll Verwunderung über das schöne Stück Spielzeug ausrief: Ach, Herr Gott, wie schön! – Reiser mochte etwa damals sechs bis sieben Jahre alt sein – der Ton des geduldigen Entbehrens, ohngeachtet der höchsten Bewunderung, womit das zerlumpte Mädchen die Worte sagte: Ach, Herr Gott, wie schön! drang ihm durch die Seele. – Das arme Mädchen mußte alle diese Schönheiten so vor sich vorbeitragen sehen und durfte nicht einmal einen Gedanken daran haben, irgendein Stück davon zu besitzen. Es war von dem Genuß dieser köstlichen Dinge gleichsam auf immer ausgeschlossen und doch so nahe dabei – wie gern wäre er zurückgegangen und hätte dem zerlumpten Mädchen das kostbare Spielzeug geschenkt, wenn es seine Base gelitten hätte! – So oft er nachher daran dachte, empfand er eine bittere Reue, daß er es dem Mädchen nicht gleich auf der Stelle gegeben hatte. Eine solche Art von mitleidsvoller Wehmut war es auch, die Reiser empfand, da er sich ausschließungsweise mit den Vorzügen in der Gunst des Pastor Marquard beehrt glaubte, wodurch seine Mitschüler, ohne daß sie es verdient hatten, so weit unter ihn herabgesetzt wurden.
Grade diese Empfindung ist nachher wieder in seiner Seele erwacht, so oft er in der ersten von Virgils Eklogen an die Worte kam: nec invideo usw. Indem er sich in die Stelle des glücklichen Hirten versetzte, der ruhig im Schatten seines Baums sitzen kann, indes der andere sein Haus und Feld mit dem Rücken ansehen muß, war ihm bei dem nec invideo des letzern immer gerade so zumute, als da das zerlumpte Mädchen sagte: »Ach, Herr Gott, wie schön ist das!«
Ich habe hier notwendig in Reisers Leben etwas nahholen und etwas vorweggreifen müssen, wenn ich zusammenstellen wollte, was nach meiner Absicht zusammengehört. Ich werde dies noch öfter tun; und wer meine Absicht eingesehen hat, bei dem darf ich wohl nicht erst dieser anscheinenden Absprünge wegen um Entschuldigung bitten.
Man sieht leicht, daß Anton Reisers Eitelkeit durch die Umstände, welche sich jetzt vereinigten, um ihm seine eigne Person wichtig zu machen, mehr als zu viel Nahrung erhielt. Es bedurfte wieder einer kleinen Demütigung für ihn, und die blieb nicht aus. Er schmeichelte sich nicht ohne Grund, unter allen, die bei dem Pastor Marquard konfirmiert wurden, der erste zu sein. Er saß auch oben an und war gewiß, daß ihm keiner diesen Platz streitig machen würde. Als auf einmal ein junger wohlgekleideter Mensch in seinem Alter und von feiner Erziehung die Lehrstunden des Pastor Marquard mit besuchte, der ihn durch sein feines äußeres Betragen sowohl als durch die vorzügliche Achtung, womit ihm der Pastor Marquard begegnete, ganz in Dunkel setzte, und dem auch sogleich über ihm der erste Platz angewiesen ward.
Reisers süßer Traum, der erste unter seinen Mitschülern zu sein, war nun plötzlich verschwunden. Er fühlte sich erniedrigt, herabgesetzt, mit den übrigen allen in eine Klasse geworfen. – Er erkundigte sich bei dem Bedienten des Pastor Marquard nach seinem fürchterlichen Nebenbuhler und erfuhr, daß er eines Amtmanns Sohn und bei dem Pastor Marquard in Pension sei, auch mit den übrigen zugleich konfirmiert werden würde. Der schwärzeste Neid nahm auf eine Zeitlang in Antons Seele Platz; der blaue Rock mit dem samtnen Kragen, den der Amtmannssohn trug, sein feines Betragen, seine hübsche Frisur schlug ihn nieder und machte ihn mißvergnügt mit sich selbst; aber doch schärfte sich bald wieder das Gefühl bei ihm, daß dies unrecht sei, und er wurde nun noch mißvergnügter über sein Mißvergnügen. Ach, er hätte nicht nötig gehabt, den armen Knaben zu beneiden, dessen Glückssonne bald ausgeschienen hatte. Binnen vierzehn Tagen kam die Nachricht, daß sein Vater wegen Untreue seines Dienstes entsetzt sei. Für den jungen Menschen konnte also auch die Pension nicht länger bezahlt werden, der Pastor Marquard schickte ihn seinen Anverwandten wieder, und Reiser behielt seinen ersten Platz. Er konnte seine Freude wegen der Folgen, die dieser Vorfall für ihn hatte, nicht unterdrücken, und doch machte er sich selber Vorwürfe wegen seiner Freude – er suchte sich zum Mitleid zu zwingen, weil er es für recht hielt – und die Freude zu unterdrücken, weil er sie für unrecht hielt; sie hatte aber demohngeachtet die Oberhand, und er half sich denn am Ende damit, daß er doch nicht wider das Schicksal könne, welches nun den jungen Menschen einmal habe unglücklich machen wollen. Hier ist die Frage: wenn das Schicksal des jungen Menschen sich plötzlich wieder geändert hätte, würde ihn Reiser aus erster Bewegung freiwillig mit lächelnder teilnehmender Miene wieder haben über sich stehen lassen, oder hätte er sich erst mit einer Art von Anstrengung in diese Empfindung versetzen müssen, weil er sie für recht und edel gehalten hätte? – Der Zusammenhang seiner Geschichte mag in der Folge diese Frage entscheiden!
Alle Abend hatte nun Reiser eine lateinische Stunde bei dem Sohn des Pastor Marquard und kam wirklich so weit, daß er binnen vier Wochen ziemlich den Kornelius Nepos exponieren lernte. Welche Wonne war ihm das, wenn denn etwa der Garnisonküster dazu kam und fragte, was die beiden Herren Studenten machten – und als der Pastor Marquard damals gerade seine älteste Tochter an einen jungen Prediger verheiratete, der eines Sonntags nachmittags für ihn die Kinderlehre hielt und dieser auf Reisern immer aufmerksamer zu werden schien, je öfter er ihn antworten hörte: welch ein entzückender Augenblick für Reisern, da derselbe nun nach geendigtem Gottesdienst zum Pastor Marquard kam und der Schwiegersohn des Pastors ihn nun mit der größten Achtung anredete und sagte, es sei ihm gleich in der Kirche, da Reiser ihm zuerst geantwortet, aufgefallen, ob das wohl der junge Mensch sein möchte, von dem ihm sein Schwiegervater so viel Gutes gesagt, und es freue ihn, daß er sich nicht geirrt habe.
In seinem Leben hatte Anton keine solche Empfindung gehabt, als ihm diese achtungsvolle Begegnung verursachte. – Da er nun die Sprache der feinen Lebensart nicht gelernt hatte und sich doch auch nicht gemein ausdrücken wollte, so bediente er sich bei solchen Gelegenheiten der Büchersprache, die bei ihm aus dem Telemach, der Bibel und dem Katechismus zusammengesetzt war, welches seinen Antworten oft einen sonderbaren Anstrich von Originalität gab, indem er z.B. bei solchen Gelegenheiten zu sagen pflegte, er habe den Trieb zum Studieren, der ihn unaufhaltsam mit sich fortgerissen, nicht überwältigen können und wolle sich nun der Wohltaten, die man ihm erzeige, auf alle Weise würdig zu machen und in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit sein Leben bis an sein Ende zu führen suchen.
Indes hatte der Konsistorialrat Götten, an den sich Reiser schon vorher gewandt hatte, für ihn ausgemacht, daß er die sogenannte Neustädter Schule unentgeltlich besuchen könnte. – Allein der Pastor Marquard sagte, das dürfe nun nicht geschehen; er solle, bis er konfirmiert würde, noch von seinem Sohne unterrichtet werden, damit er alsdann sogleich die höhere Schule auf der Altstadt besuchen könne, wo der Direktor sich seiner annehmen wolle; und wegen der Eifersucht, die zwischen den beiden Schulen zu herrschen pflegte, würde er besser tun, wenn er jene nicht zuerst besuchte.
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