Hierauf gründet sich der mächtige Unterschied zwischen dem Ruhm, den Dichter und Philosophen erlangen, und dem, welcher Physikern, Chemikern, Anatomen, Mineralogen, Zoologen, Philologen, Historikern usf. erreichbar ist.
Kapitel V
Paränesen und Maximen307
Weniger noch, als irgendwo, bezwecke ich hier Vollständigkeit; da ich sonst die vielen, von Denkern aller Zeiten aufgestellten, zum Teil vortrefflichen Lebensregeln zu wiederholen haben würde, vom Theognis308 und Pseudo-Salomo309 an, bis auf den Rochefoucauld310 herab; wobei ich dann auch viele, schon breit getretene Gemeinplätze nicht würde vermeiden können. Mit der Vollständigkeit fällt aber auch die systematische Anordnung größtenteils weg. Über beide tröste man sich damit, dass sie, in Dingen dieser Art, fast unausbleiblich die Langeweile in ihrem Gefolge haben. Ich habe bloß gegeben, was mir eben eingefallen ist, der Mitteilung wert schien und, soviel mir erinnerlich, noch nicht, wenigstens nicht ganz und ebenso, gesagt worden ist, also eben nur eine Nachlese zu dem auf diesem unabsehbaren Felde bereits von andern Geleisteten.
Um jedoch in die große Mannigfaltigkeit der hierher gehörigen Ansichten und Ratschläge einige Ordnung zu bringen, will ich sie einteilen in allgemeine, in solche, welche unser Verhalten gegen uns selbst, dann gegen andere, und endlich gegen den Weltlauf und das Schicksal betreffen.
A Allgemeine.
1. Als die oberste Regel aller Lebensweisheit sehe ich einen Satz an, den Aristoteles beiläufig ausgesprochen hat, und zwar in der Nikomachäischen Ethik: »Nicht dem Vergnügen, der Schmerzlosigkeit geht der Vernünftige nach«; oder: »Der Vernünftige geht auf Schmerzlosigkeit; nicht auf Genuss aus.« Die Wahrheit desselben beruht darauf, dass aller Genuss und alles Glück negativer, hingegen der Schmerz positiver Natur ist. Wenn der ganze Leib gesund und heil ist, bis auf irgendeine kleine Wunde, oder sonst schmerzende Stelle, so tritt jene Gesundheit des ganzen weiter nicht ins Bewusstsein, sondern die Aufmerksamkeit ist beständig auf den Schmerz der verletzten Stelle gerichtet und das Behagen der gesamten Lebensempfindung ist aufgehoben. – Ebenso, wenn alle unsere Angelegenheiten nach unserm Sinne gehn, bis auf eine, die unsrer Absicht zu widerläuft, so kommt diese, auch wenn sie von geringer Bedeutung ist, uns immer wieder in den Kopf: wir denken häufig an sie und wenig an alle jene andern wichtigeren Dinge, die nach unserm Sinne gehn. – In beiden Fällen nun ist das Beeinträchtigste der Wille, einmal, wie er sich im Organismus, das andere, wie er sich im Streben des Menschen objektiviert und in beiden sehen wir, dass seine Befriedigung immer nur negativ wirkt und daher gar nicht direkt empfunden wird, sondern höchstens auf dem Wege der Reflexion311 ins Bewusstsein kommt. Hingegen ist seine Hemmung das Positive und daher sich selbst Ankündigende. Jeder Genuss besteht bloß in der Aufhebung dieser Hemmung, in der Befreiung davon, ist mithin von kurzer Dauer.
Hierauf nun also beruht die oben belobte Aristotelische Regel, welche uns anweist, unser Augenmerk nicht auf die Genüsse und Annehmlichkeiten des Lebens zu richten, sondern darauf, dass wir den zahllosen Übeln desselben, so weit es möglich ist, entgehen. Wäre dieser Weg nicht der richtige: so müsste auch Voltaires Ausspruch: das Glück ist nur ein Traum, doch der Schmerz wirklich, so falsch sein, wie er in der Tat wahr ist. Demnach soll auch der, welcher das Resultat seines Lebens, in eudämonologischer Rücksicht, ziehn will, die Rechnung nicht nach den Freuden die er genossen, sondern nach den Übeln, denen er entgangen ist, aufstellen. Ja, die Eudämonologie hat mit der Belehrung anzuheben, dass ihr Name selbst ein Euphemismus312 ist und dass unter »glücklich leben« nur zu verstehen ist »weniger unglücklich«, also erträglich leben. Allerdings ist das Leben nicht eigentlich da, um genossen, sondern um überstanden, abgetan zu werden; dies bezeichnen auch die deutschen Ausdrücke »man muss suchen durchzukommen«, »er wird schon durch die Welt kommen« u. dergl. m.313 Ja es ist ein Trost im Alter, dass man die Arbeit des Lebens hinter sich hat. Demnach nun hat das glücklichste Los der, welcher sein Leben ohne übergroße Schmerzen, sowohl geistige, als körperliche, hinbringt; nicht aber der, dem die lebhaftesten Freuden oder die größten Genüsse zuteil geworden. Wer nach diesen letzteren das Glück seines Lebenslaufes bemessen will, hat einen falschen Maßstab ergriffen. Denn die Genüsse sind und bleiben negativ: dass sie beglücken ist ein Wahn, den der Neid, zu seiner eigenen Strafe, hegt. Die Schmerzen hingegen werden positiv empfunden: daher ist ihre Abwesenheit der Maßstab des Lebensglückes. Kommt zu einem schmerzlosen Zustand noch die Abwesenheit der Langenweile; so ist das irdische Glück im Wesentlichen erreicht: denn das Übrige ist Chimäre. Hieraus nun folgt, dass man nie Genüsse durch Schmerzen, ja, auch nur durch die Gefahr derselben, erkaufen soll; weil man sonst ein Negatives und daher Chimärisches mit einem Positiven und Realen bezahlt. Hingegen bleibt man im Gewinn, wenn man Genüsse opfert, um Schmerzen zu entgehn. In beiden Fällen ist es gleichgültig, ob die Schmerzen den Genüssen nachfolgen, oder vorhergehen. Es ist wirklich die größte Verkehrtheit, diesen Schauplatz des Jammers in einen Lustort verwandeln zu wollen und, statt der möglichsten Schmerzlosigkeit, Genüsse und Freuden sich zum Ziele zu stecken; wie doch so viele tun. Viel weniger irrt, wer mit zu finsterm Blicke diese Welt als eine Art Hölle ansieht und demnach nur darauf bedacht ist, sich in derselben eine feuerfeste Stube zu verschaffen. Der Tor läuft den Genüssen des Lebens nach und sieht sich betrogen: der Weise vermeidet die Übel. Sollte ihm jedoch auch dieses missglücken; so ist es dann die Schuld des Geschicks, nicht die seiner Torheit. So weit es ihm aber glückt, ist er nicht betrogen: denn die Übel, denen er aus dem Wege ging, sind höchst real.
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