Selbst wenn er etwa ihnen zu weit aus dem Wege gegangen sein sollte und Genüsse unnötigerweise geopfert hätte; so ist eigentlich doch nichts verloren: denn alle Genüsse sind chimärisch, und über die Versäumnis derselben zu trauern wäre kleinlich, ja lächerlich.

Das Verkennen dieser Wahrheit, durch den Optimismus begünstigt, ist die Quelle vielen Unglücks. Während wir nämlich von Leiden frei sind, spiegeln unruhige Wünsche uns die Chimären eines Glückes vor, das gar nicht existiert, und verleiten uns sie zu verfolgen: dadurch bringen wir den Schmerz, der unleugbar real ist, auf uns herab. Dann jammern wir über den verlorenen schmerzlosen Zustand, der wie ein verscherztes Paradies hinter uns liegt, und wünschen vergeblich, das Geschehene ungeschehen machen zu können. So scheint es, als ob ein böser Dämon314 uns aus dem schmerzlosen Zustande, der das höchste wirkliche Glück ist, stets herauslockte durch die Gaukelbilder der Wünsche. – Unbesehens glaubt der Jüngling, die Welt sei da, um genossen zu werden; sie sei der Wohnsitz eines positiven Glückes, welches nur die verfehlen, denen es an Geschick gebricht, sich seiner zu bemeistern. Hierin bestärken ihn Romane und Gedichte, wie auch die Gleißnerei315, welche die Welt durchgängig und überall mit dem äußeren Scheine treibt und auf die ich bald zurückkommen werde. Von nun an ist sein Leben eine mit mehr oder weniger Überlegung angestellte Jagd nach dem positiven Glück, welches, als solches, aus positiven Genüssen bestehen soll. Die Gefahren, denen man sich dabei aussetzt, müssen in die Schanze geschlagen werden316. Da führt denn diese Jagd nach einem Wilde, welches gar nicht existiert, in der Regel zu sehr realem, positivem Unglück. Dies stellt sich ein als Schmerz, Leiden, Krankheit, Verlust, Sorge, Armut, Schande und tausend Nöte. Die Enttäuschung kommt zu spät. – Ist hingegen, durch Befolgung der hier in Betracht genommenen Regel, der Plan des Lebens auf Vermeidung der Leiden, also auf Entfernung des Mangels, der Krankheit und jeder Not, gerichtet, so ist das Ziel ein reales: da lässt sich etwas ausrichten und umso mehr, je weniger dieser Plan gestört wird durch das Streben nach der Chimäre des positiven Glücks. Hierzu stimmt auch, was Goethe in den Wahlverwandtschaften317, den, für das Glück der andern stets tätigen Mittler sagen lässt: »Wer ein Übel los sein will, der weiß immer, was er will: wer was Besseres will, als er hat, der ist ganz starblind318 Und dieses erinnert an den schönen französischen Ausspruch: das Bessere ist der Feind des Guten. Ja, hieraus ist sogar der Grundgedanke des Kynismus319 abzuleiten. Denn was bewog die Kyniker zur Verwerfung aller Genüsse, wenn es nicht eben der Gedanke an die mit ihnen, näher oder ferner, verknüpften Schmerzen war, welchen aus dem Wege zu gehen ihnen viel wichtiger schien, als die Erlangung jener. Sie waren tief ergriffen von der Erkenntnis der Negativität des Genusses und der Positivität des Schmerzes; daher sie konsequent alles taten für die Vermeidung der Übel, hierzu aber die völlige und absichtliche Verwerfung der Genüsse nötig erachteten; weil sie in diesen nur Fallstricke sahen, die uns dem Schmerze überliefern.

In Arkadien320 geboren, wie Schiller321 sagt, sind wir freilich alle: d. h. wir treten in die Welt voll Ansprüche auf Glück und Genuss und hegen die törichte Hoffnung, solche durchzusetzen. In der Regel jedoch kommt bald das Schicksal, packt uns unsanft an und belehrt uns, dass nichts unser ist, sondern alles sein, indem es ein unbestrittenes Recht hat, nicht nur auf allen unsern Besitz und Erwerb und auf Weib und Kind, sondern sogar auf Arm und Bein, Auge und Ohr, ja auf die Nase mitten im Gesicht. Jedenfalls aber kommt nach einiger Zeit die Erfahrung und bringt die Einsicht, dass Glück und Genuss eine Fata Morgana322 sind, welche, nur aus der Ferne sichtbar, verschwindet, wenn man herangekommen ist; dass hingegen Leiden und Schmerz Realität haben, sich selbst unmittelbar vertreten und keiner Illusion noch Erwartung bedürfen. Fruchtet nun die Lehre, so hören wir auf, nach Glück und Genuss zu jagen und sind vielmehr darauf bedacht, dem Schmerz und Leiden möglichst den Zugang zu versperren. Wir erkennen alsdann, dass das Beste, was die Welt zu bieten hat, eine schmerzlose, ruhige, erträgliche Existenz ist, und beschränken unsere Ansprüche auf diese, um sie desto sicherer durchzusetzen. Denn um nicht sehr unglücklich zu werden, ist das sicherste Mittel, dass man nicht verlange, sehr glücklich zu sein. Dies hatte auch Goethes Jugendfreund Merck323 erkannt, da er schrieb: »Die geistige Prätension an Glückseligkeit, und zwar an das Maß, das wir uns träumen, verdirbt alles auf dieser Welt. Wer sich ›davon losmachen kann und nichts begehrt, als was er vor sich hat, kann sich durchschlagen‹.« Demnach ist es geraten, seine Ansprüche auf Genuss, Besitz, Rang, Ehre usf. auf ein ganz Mäßiges herabzusetzen; weil gerade das Streben und Ringen nach Glück, Glanz und Genuss es ist, was die großen Unglücksfälle herbeizieht. Aber schon darum ist jenes weise und ratsam, weil sehr unglücklich zu sein gar leicht ist; sehr glücklich hingegen nicht etwa schwer, sondern ganz unmöglich. Mit großem Rechte also singt der Dichter der Lebensweisheit:

Wer den goldenen Mittelweg liebt, der meidet,
um sicher zu sein, das schmutzig zerfallene Haus
ebenso wie den Palast, den neiderweckenden. –
Sehr oft peitschen die Winde die nächtigen Tannen,
die hohen Türme stürzen in wuchtigem Fall,
und gerade die höchsten Berge treffen die Blitze.

Wer aber vollends die Lehre meiner Philosophie in sich aufgenommen hat und daher weiß, dass unser ganzes Dasein etwas ist, das besser nicht wäre und welches zu verneinen und abzuweisen die größte Weisheit ist, der wird auch von keinem Dinge oder Zustand große Erwartungen hegen, nach nichts auf der Welt mit Leidenschaft streben, noch große Klagen erheben über sein Verfehlen irgendeiner Sache: sondern er wird von Platos: keins der menschlichen Dinge ist großer Mühe wert, durchdrungen sein, sowie auch hiervon:

Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen,
Sei nicht in Leid darüber, es ist nichts;
Und hast du einer Welt Besitz gewonnen,
Sei nicht erfreut darüber, es ist nichts.
Vorüber gehn die Schmerzen und die Wonnen,
Geh’ an der Welt vorüber, es ist nichts.
Anwari Soheili324.

Was jedoch die Erlangung dieser heilsamen Einsichten besonders erschwert, ist die schon oben erwähnte Gleißnerei der Welt, welche man daher der Jugend früh aufdecken sollte. Die allermeisten Herrlichkeiten sind bloßer Schein wie die Theaterdekoration, und das Wesen der Sache fehlt.