Von tausend Täuschungen und Torheiten ist man zurückgekommen; das aktive Leben ist meistens abgetan, man hat nichts mehr zu erwarten, hat keine Pläne und Absichten mehr; die Generation, der man eigentlich angehört, lebt nicht mehr; von einem fremden Geschlecht umgeben, steht man schon objektiv und wesentlich allein. Dabei hat der Flug der Zeit sich beschleunigt, und geistig möchte man sie noch benutzen. Denn, wenn nur der Kopf seine Kraft behalten hat; so machen jetzt die vielen erlangten Kenntnisse und Erfahrungen, die allmählich vollendete Durcharbeitung aller Gedanken und die große Übungsfertigkeit aller Kräfte das Studium jeder Art interessanter und leichter, als jemals. Man sieht klar in tausend Dingen, die früher noch wie im Nebel lagen: man gelangt zu Resultaten und fühlt seine ganze Überlegenheit. Infolge langer Erfahrung hat man aufgehört, von den Menschen viel zu erwarten; da sie, im ganzen genommen nicht zu den Leuten gehören, welche bei näherer Bekanntschaft gewinnen: vielmehr weiß man, dass, von seltenen Glücksfällen abgesehen, man nichts antreffen wird, als sehr defekte Exemplare der menschlichen Natur, welche es besser ist, unberührt zu lassen. Man ist daher den gewöhnlichen Täuschungen nicht mehr ausgesetzt, merkt jedem bald an, was er ist und wird selten den Wunsch fühlen, nähere Verbindung mit ihm einzugehen. Endlich ist auch, zumal wenn man an der Einsamkeit eine Jugendfreundin erkennt, die Gewohnheit der Isolation374 und des Umganges mit sich selbst hinzugekommen und zur zweiten Natur geworden. Demnach ist jetzt die Liebe zur Einsamkeit welche früher dem Geselligkeitstriebe erst abgerungen werden musste, eine ganz natürliche und einfache: man ist in der Einsamkeit wie der Fisch im Wasser. Daher fühlt jede vorzügliche, folglich den übrigen unähnliche, mithin allein stehende Individualität sich, durch diese ihr wesentliche Isolation, zwar in der Jugend gedrückt, aber im Alter erleichtert.

Denn freilich wird dieses wirklichen Vorzugs des Alters jeder immer nur nach Maßgabe seiner intellektuellen Kräfte teilhaft, also der eminente Kopf vor allen, jedoch in geringerem Grade wohl jeder. Nur höchst dürftige und gemeine Naturen werden im Alter noch so gesellig sein, wie ehedem: sie sind der Gesellschaft, zu der sie nicht mehr passen, beschwerlich, und bringen es höchstens dahin, toleriert zu werden, während sie ehemals gesucht waren.

An dem dargelegten, entgegengesetzten Verhältnisse zwischen der Zahl unserer Lebensjahre und dem Grade unserer Geselligkeit lässt sich auch noch eine teleogische375 Seite herausfinden. Je jünger der Mensch ist, desto mehr hat er noch, in jeder Beziehung, zu lernen: nun hat ihn die Natur auf den wechselseitigen Unterricht verwiesen, welchen jeder im Umgange mit seinesgleichen empfängt und in Hinsicht auf welchen die menschliche Gesellschaft eine große Bell-Lancaster’sche Erziehungsanstalt376 genannt werden kann; da Bücher und Schulen künstliche, weil vom Plane der Natur abliegende Anstalten sind. Sehr zweckmäßig also besucht er die natürliche Unterrichtsanstalt desto fleißiger, je jünger er ist.

Nichts ist in jeder Beziehung glücklich sagt Horaz, und »Kein Lotus ohne Stengel« lautet ein indisches Sprichwort: so hat denn auch die Einsamkeit, neben so vielen Vorteilen, ihre kleinen Nachteile und Beschwerden; die jedoch, im Vergleich mit denen der Gesellschaft, gering sind, daher wer etwas rechtes an sich selber hat, es immer leichter finden wird, ohne die Menschen auszukommen, als mit ihnen. – Unter jenen Nachteilen ist übrigens einer, der nicht so leicht, wie die übrigen, zum Bewusstsein gebracht wird, nämlich dieser: wie durch anhaltend fortgesetztes Zuhausebleiben unser Leib so empfindlich gegen äußere Einflüsse wird, dass jedes kühle Lüftchen ihn krankhaft affiziert377; so wird, durch anhaltende Zurückgezogenheit und Einsamkeit, unser Gemüt so empfindlich, dass wir durch die unbedeutendsten Vorfälle, Worte, wohl gar durch bloße Mienen, uns beunruhigt, oder gekränkt, oder verletzt fühlen; während der, welcher stets im Getümmel bleibt, dergleichen gar nicht beachtet.

Wer nun aber, zumal in jüngeren Jahren, so oft ihn auch schon gerechtes Missfallen an den Menschen in die Einsamkeit zurückgescheucht hat, doch die Öde derselben, auf die Länge, zu ertragen nicht vermag, dem rate ich, dass er sich gewöhne, einen Teil seiner Einsamkeit, in die Gesellschaft mitzunehmen, also dass er lerne, auch in der Gesellschaft, in gewissem Grade, allein zu sein, demnach, was er denkt, nicht sofort den andern mitzuteilen, und andererseits mit dem, was sie sagen, es nicht genau zu nehmen, vielmehr, moralisch wie intellektuell, nicht viel davon zu erwarten und daher, hinsichtlich ihrer Meinungen, diejenige Gleichgültigkeit in sich zu befestigen, die das sicherste Mittel ist, um stets eine lobenswerte Toleranz zu üben. Er wird alsdann, obwohl mitten unter ihnen, doch nicht so ganz in ihrer Gesellschaft sein, sondern hinsichtlich ihrer sich mehr rein objektiv verhalten. Dies wird ihn vor zu genauer Berührung mit der Gesellschaft, und dadurch vor jeder Besudlung, oder gar Verletzung schützen. Man kann auch die Gesellschaft einem Feuer vergleichen, an welchem der Kluge sich in gehöriger Entfernung wärmt, nicht aber hineingreift, wie der Tor, der dann, nachdem er sich verbrannt hat, in die Kälte der Einsamkeit flieht und jammert, dass das Feuer brennt.

10. Neid ist dem Menschen natürlich: dennoch ist er ein Laster und Unglück zugleich. Der Neid der Menschen zeigt an, wie unglücklich sie sich fühlen; ihre beständige Aufmerksamkeit auf fremdes Tun und Lassen, wie sehr sie sich langweilen. Wir sollen daher ihn als den Feind unseres Glückes betrachten und als einen bösen Dämon zu ersticken suchen. Hierzu leitet uns Seneca an mit den schönen Worten: Unser Zustand ist uns dienlich, wenn wir ihm mit keinem andern vergleichen: wer es aber nicht erleiden kann, dass ein ariderer378 glücklicher ist, wird niemals glücklich sein – und wiederum: Wenn du siehst, wie vielen es besser geht als dir, denke auch an die, denen es schlechter geht: also wir sollen öfter die betrachten, welche schlimmer daran sind, als wir, denn die, welche besser daran zu sein scheinen. Sogar wird, bei eingetretenen, wirklichen Übeln, uns den wirksamsten, wiewohl aus derselben Quelle mit dem Neide fließenden Trost die Betrachtung größerer Leiden, als die unsrigen sind, gewähren, und nächstdem der Umgang mit solchen, die mit uns im selben Falle sich befinden, mit den Genossen des Unglücks.

Soviel von der aktiven Seite des Neides. Von der passiven ist zu erwägen, dass kein Hass so unversöhnlich ist, wie der Neid; daher wir nicht unablässig und eifrig bemüht sein sollten, ihn zu erregen, vielmehr besser täten, diesen Genuss, wie manchen andern, der gefährlichen Folgen wegen, uns zu versagen, – Es gibt drei Aristokratien379: 1. die der Geburt und des Ranges; 2. die Geldaristokratie; 3. die geistige Aristokratie. Letztere ist eigentlich die vornehmste, wird auch dafür anerkannt, wenn man ihr nur Zeit lässt: hat doch schon Friedrich der Große380 gesagt: Geniale Menschen stehen so hoch wie Monarchen381, und zwar zu seinem Hofmarschall382, der Anstoß daran nahm, dass, während Minister und Generäle an der Marschallstafel aßen, Voltaire an einer Tafel Platz nehmen sollte, an welcher bloß regierende Herren und ihre Prinzen saßen. – Jeder dieser Aristokratien ist umgeben von einem Heer ihrer Neider, welche gegen jeden ihr Angehörigen heimlich erbittert und, wenn sie ihn nicht zu fürchten haben, bemüht sind, ihm auf mannigfaltige Weise zu verstehen zu geben, »du bist nichts mehr, als wir!« Aber gerade diese Bemühungen verraten ihre Überzeugung vom Gegenteil. Das von den Beneideten dagegen anzuwendende Verfahren besteht im Fernhalten aller dieser Schar Angehörigen und im möglichsten Vermeiden jeder Berührung mit ihnen, so dass sie durch eine weite Kluft abgetrennt bleiben; wo aber dies nicht angeht, im höchst gelassenen Ertragen ihrer Bemühungen, deren Quelle sie ja neutralisiert383: – auch sehen wir dasselbe durchgängig angewandt. Hingegen werden die der einen Aristokratie Angehörigen sich mit denen einer der beiden andern meistens gut und ohne Neid vertragen; weil jeder seinen Vorzug gegen den der andern in die Wage legt.

11. Man überlege ein Vorhaben reiflich und wiederholt, ehe man dasselbe ins Werk setzt, und selbst nachdem man alles auf das Gründlichste durchdacht hat, räume man noch der Unzulänglichkeit aller menschlichen Erkenntnis etwas ein, infolge welcher es immer noch Umstände geben kann, die zu erforschen oder vorherzusehen unmöglich ist und welche die ganze Berechnung unrichtig machen könnten.