Dieses Bedenken wird stets ein Gewicht auf die negative Schale legen und uns anraten, in wichtigen Dingen, ohne Not, nichts zu tun: das Ruhende nicht bewegen. Ist man aber einmal zum Entschluss gekommen und hat Hand ans Werk gelegt, so dass jetzt alles seinen Verlauf zu nehmen hat und nur noch den Ausgang abzuwarten steht; dann ängstige man sich nicht durch stets erneuerte Überlegung des bereits Vollzogenen und durch wiederholtes Bedenken der möglichen Gefahr; vielmehr entschlage man der Sache sich jetzt gänzlich, halte das ganze Gedankenfach derselben verschlossen, sich mit der Überzeugung beruhigend, dass man alles zu seiner Zeit reiflich erwogen habe. Diesen Rat erteilt auch das italienische Sprichwort, welches Goethe übersetzte »Du, sattle gut und reite getrost« – wie denn beiläufig gesagt, ein großer Teil seiner unter der Rubrik »Sprichwörtlich« gegebenen Gnomen384 übersetzte italienische Sprichwörter sind. – Kommt dennoch ein schlimmer Ausgang, so ist es, weil alle menschlichen Angelegenheiten dem Zufall und dem Irrtum unterliegen. Dass Sokrates, der Weiseste der Menschen, um nur in seinen eigenen, persönlichen Angelegenheiten das Richtige zu treffen oder wenigstens Fehltritte zu vermeiden, eines warnenden Dämonions385 bedurfte, beweist, dass hierzu kein menschlicher Verstand ausreicht. Daher ist jener, angeblich von einem Papste herrührende Ausspruch, dass von jedem Unglück, das uns trifft, wir selbst, wenigstens in irgend etwas, die Schuld tragen, nicht unbedingt und in allen Fällen wahr: wiewohl bei weitem in den meisten. Sogar scheint das Gefühl hiervon viel Anteil daran zu haben, dass die Leute ihr Unglück möglichst zu verbergen suchen und, so weit es gelingen will, eine zufriedene Miene aufsetzen. Sie besorgen, dass man vom Leiden auf die Schuld schließen werde.

12. Bei einem unglücklichen Ereignis, welches bereits eingetreten, als nicht mehr zu ändern ist, soll, man sich nicht einmal den Gedanken, dass dem anders sein könnte, noch weniger den, wodurch es hätte abgewendet werden können, erlauben: denn gerade er steigert den Schmerz ins Unerträgliche; so dass man damit zum sich selbst Peinigenden wird. Vielmehr mache man es wie der König David386, der, so lange sein Sohn krank daniederlag, Jehova387 unablässig mit Bitten und Flehen bestürmte; als er aber gestorben war, ein Schnippchen schlug und nicht weiter daran dachte. Wer aber dazu nicht leichtsinnig genug ist, flüchte sich auf den fatalistischen388 Standpunkt, indem er sich die große Wahrheit verdeutlicht, dass alles, was geschieht, notwendig eintritt, also unabwendbar ist.

Bei allen dem ist diese Regel einseitig; Sie taugt zwar zu unserer unmittelbaren Erleichterung und Beruhigung bei Unglücksfällen: allein wenn an diesen, wie doch meistens, unsere eigene Nachlässigkeit oder Verwegenheit, wenigstens zum Teil schuld ist, so ist die wiederholte schmerzliche Überlegung, wie dem hätte vorgebeugt werden können, zu unserer Witzigung389 und Besserung also für die Zukunft, eine heilsame Selbstzüchtigung. Und gar offenbar begangene Fehler sollen wir nicht, wie wir doch pflegen, vor uns selber zu entschuldigen oder zu beschönigen oder zu verkleinern suchen, sondern sie uns eingestehen und in ihrer ganzen Größe deutlich uns vor Augen bringen, um den Vorsatz, sie künftig zu vermeiden, fest fassen zu können. Freilich hat man sich dabei den großen Schmerz der Unzufriedenheit mit sich selbst anzutun: aber der Mensch wird nicht erzogen, ohne dass er gestraft wird.390

13. In allem, was unser Wohl und Wehe betrifft, sollen wir die Phantasie im Zügel halten: also zuvörderst keine Luftschlösser bauen; weil diese zu kostspielig sind, indem wir gleich darauf sie unter Seufzern wieder einzureißen haben. Aber noch mehr sollen wir uns hüten, durch das Ausmalen bloß möglicher Unglücksfälle unser Herz zu ängstigen. Wenn nämlich diese ganz aus der Luft gegriffen, oder doch sehr weit hergeholt wären; so würden wir beim Erwachen aus einem solchen Traume gleich wissen, dass alles nur Gaukelei391 gewesen, daher uns der besseren Wirklichkeit umso mehr freuen und allenfalls eine Warnung gegen ganz entfernte, wiewohl mögliche Unglücksfälle daraus entnehmen. Allein, mit dergleichen spielt unsere Phantasie nicht leicht: ganz müßiger weise baut sie höchstens heitere Luftschlösser. Der Stoff zu ihren finstern Träumen sind Unglücksfälle, die uns, wenn auch aus der Ferne, doch einigermaßen wirklich bedrohen: diese vergrößert sie, bringt ihre Möglichkeit viel näher, als sie in Wahrheit ist, und malt sie auf das Fürchterlichste aus. Einen solchen Traum können wir beim Erwachen nicht sogleich abschütteln, wie den heitern: denn diesen widerlegt alsbald die Wirklichkeit und lässt höchstens eine schwache Hoffnung im Schoße der Möglichkeit übrig. Aber haben wir uns den schwarzen Phantasien überlassen, so haben sie uns Bilder nahe gebracht, die nicht so leicht wieder weichen: denn die Möglichkeit der Sache im Allgemeinen steht fest, und den Maßstab des Grades derselben vermögen wir nicht jederzeit anzulegen: sie wird nun leicht zur Wahrscheinlichkeit, und wir haben uns der Angst in die Hände geliefert. Daher also sollen wir die Dinge, welche unser Wohl und Wehe betreffen, bloß mit dem Auge der Vernunft und der Urteilskraft betrachten, folglich trockener und heller Überlegung mit bloßen Begriffen in abstracto392 operieren. Die Phantasie soll dabei aus dem Spiele bleiben: denn urteilen kann sie nicht, sondern bringt bloße Bilder vor die Augen, welche das Gemüt unnützer- und oft sehr peinlicherweise bewegen. Am strengsten sollte diese Regel abends beobachtet werden. Denn wie die Dunkelheit uns furchtsam macht und uns überall Schreckensgestalten erblicken lässt, so wirkt, ihr analog, die Undeutlichkeit der Gedanken; weil jede Ungewissheit Unsicherheit gebiert: deshalb nehmen des Abends, wenn die Abspannung Verstand und Urteilskraft mit einer subjektiven Dunkelheit überzogen hat, der Intellekt müde und verwirrt ist und den Dingen nicht auf den Grund zu kommen vermag, die Gegenstände unserer Meditation, wenn sie unsere persönlichen Verhältnisse betreffen, leicht ein gefährliches Aussehen an und werden zu Schreckbildern. Am meisten ist dies der Fall nachts im Bette, als wo der Geist völlig abgespannt und daher die Urteilskraft ihrem Geschäfte gar nicht mehr gewachsen, die Phantasie aber noch rege ist. Da gibt die Nacht allem und jedem ihren schwarzen Anstrich. Daher sind unsere Gedanken vor dem Einschlafen, oder gar beim nächtlichen Erwachen, meistens fast ebenso arge Verzerrungen und Verkehrungen der Dinge, wie die Träume es sind, und dazu, wenn sie persönliche Angelegenheiten betreffen, gewöhnlich pechschwarz, ja entsetzlich. Am Morgen sind dann alle solche Schreckbilder, so gut wie die Träume, verschwunden; dies bedeutet das spanische Sprichwort: die Nacht ist gefärbt, weiß ist der Tag. Aber auch schon abends, sobald das Licht brennt, sieht der Verstand wie das Auge nicht so klar, wie bei Tage: daher diese Zeit nicht zur Meditation ernster, zumal unangenehmer Angelegenheiten geeignet ist. Hierzu ist der Morgen die rechte Zeit; wie er es denn überhaupt zu allen Leistungen ohne Ausnahme, sowohl den geistigen wie den körperlichen, ist.