Verwirklicht werden heißt mit dem Wollen ausgefüllt werden, welches Wollen unausweichbare Schmerzen herbeiführte.

Ist sonach der Charakter der ersten Lebenshälfte unbefriedigte Sehnsucht nach Glück, so ist der der zweiten Besorgnis vor Unglück. Denn mit ihr ist, mehr oder weniger deutlich, die Erkenntnis eingetreten, dass alles Glück chimärisch, hingegen das Leiden real sei. Jetzt wird daher, wenigstens von den vernünftigeren Charakteren, mehr bloße Schmerzlosigkeit und ein unangefochtener Zustand als Genuss angestrebt. – Wenn, in meinen Jünglingsjahren, es an meiner Tür schellte, wurde ich vergnügt: denn ich dachte, nun käme es. Aber in späteren Jahren hatte meine Empfindung, bei demselben Anlass, vielmehr etwas dem Schrecken Verwandtes: ich dachte: »da kommt’s.« – Hinsichtlich der Menschenwelt gibt es für ausgezeichnete und begabte Individuen, die, eben als solche, nicht so ganz eigentlich zu ihr gehören und demnach mehr oder weniger, je nach dem Grad ihrer Vorzüge, allein stehen, ebenfalls zwei entgegengesetzte Empfindungen: in der Jugend hat man häufig die, von ihr verlassen zu sein; in späteren Jahren hingegen die, ihr entronnen zu sein. Die erstere, eine unangenehme, beruht auf Unbekanntschaft, die zweite, eine angenehme, auf Bekanntschaft mit ihr. – Infolge davon enthält die zweite Hälfte des Lebens, wie die zweite Hälfte einer musikalischen Periode weniger Strebsamkeit, aber mehr Beruhigung als die erste, welches überhaupt darauf beruht, dass man in der Jugend denkt, in der Welt sei Wunder was für Glück und Genuss anzutreffen, nur schwer dazu zu gelangen; während man im Alter weiß, dass da nichts zu holen ist, also vollkommen darüber beruhigt, eine erträgliche Gegenwart genießt und sogar an Kleinigkeiten Freude hat. –

Was der gereifte Mann durch die Erfahrung seines Lebens erlangt hat und wodurch er die Welt anders sieht, als der Jüngling und Knabe, ist zunächst Unbefangenheit. Er allererst sieht die Dinge ganz einfach und nimmt sie für das, was sie sind; während dem Knaben und Jüngling ein Trugbild, zusammengesetzt aus selbstgeschaffenen Grillen, überkommenen Vorurteilen und seltsamen Phantasien die wahre Welt bedeckte oder verzerrte. Denn das erste, was die Erfahrung zu tun vorfindet, ist uns von den Hirngespinsten und falschen Begriffen zu befreien, welche sich in der Jugend angesetzt haben. Vor diesen das jugendliche Alter zu bewahren, wäre allerdings die beste Erziehung, wenngleich nur eine negative; ist aber sehr schwer. Man müsste zu diesem Zwecke den Gesichtskreis des Kindes anfangs möglichst enge halten, innerhalb derselben jedoch ihm lauter deutliche und richtige Begriffe beibringen, und erst nachdem es alles darin Gelegene richtig erkannt hätte, denselben allmählich erweitern, stets dafür sorgend, dass nichts Dunkles, auch nichts halb und schief Verstandenes zurückbliebe. Infolge hiervon würden seine Begriffe von Dingen und menschlichen Verhältnissen immer noch beschränkt und sehr einfach, dafür aber deutlich und richtig sein, so dass sie stets nur der Erweiterung, nicht der Berichtigung bedürften, und so fort bis ins Jünglingsalter hinein. Diese Methode erfordert insbesondere, dass man keine Romane zu lesen erlaube, sondern sie durch angemessene Biographien ersetze, wie z. B. die Franklins522, den Anton Reiser von Moritz523 u. dgl. – Wenn wir jung sind, vermeinen wir, dass die in unserm Lebenslauf wichtigen und folgereichen Begebenheiten und Personen mit Pauken und Trompeten auftreten werden: im Alter zeigt jedoch die retrospektive524 Betrachtung, dass sie alle ganz still, durch die Hintertür und fast unbeachtet hereingeschlichen sind.

Man kann ferner, in der bis hierher betrachteten Hinsicht, das Leben mit einem gestickten Stoffe vergleichen, von welchem jeder in der ersten Hälfte seinerzeit die rechte, in der zweiten aber die Kehrseite zu sehen bekäme: letztere ist nicht so schön, aber lehrreicher; weil sie den Zusammenhang der Fäden erkennen lässt. –

Die geistige Überlegenheit, sogar die größte, wird in der Konversation ihr entschiedenes Übergewicht erst nach dem vierzigsten Jahre geltend machen. Denn die Reife der Jahre und die Frucht der Erfahrung kann durch jene wohl vielfach übertroffen, jedoch nie ersetzt werden: sie aber gibt auch dem gewöhnlichsten Menschen ein gewisses Gegengewicht gegen die Kräfte des größten Geistes, solange dieser jung ist. Ich meine hier bloß das Persönliche, nicht die Werte.

Jeder irgend vorzügliche Mensch, jeder, der nur nicht zu den von der Natur so traurig datierten 5/6 der Menschheit gehört, wird nach dem vierzigsten Jahre von einem gewissen Anfluge von Misanthropie525 schwerlich frei bleiben. Denn er hatte, wie es natürlich ist, von sich auf andere geschlossen und ist allmählich enttäuscht worden, hat eingesehen, dass sie entweder von der Seite des Kopfes, oder des Herzens, meistens sogar beider, ihm im Rückstand bleiben und nicht quitt mit ihm werden; weshalb er sich mit ihnen einzulassen gern vermeidet, wie denn überhaupt jeder nach Maßgabe seines inneren Wertes die Einsamkeit, d. h. seine eigene Gesellschaft lieben oder hassen wird.

An einem jungen Menschen ist es, in intellektueller und auch in moralischer Hinsicht ein schlechtes Zeichen, wenn er im Tun und Treiben der Menschen sich recht früh zurechtzufinden weiß, sogleich darin zu Hause ist und, wie vorbereitet, in dasselbe eintritt: es kündet Gemeinheit an. Hingegen deutet, in solcher Beziehung ein befremdetes, stutziges, ungeschicktes und verkehrtes Benehmen auf eine Natur edlerer Art.

Die Heiterkeit und der Lebensmut unserer Jugend beruht zum Teil darauf, dass wir, bergauf gehend, den Tod nicht sehen; weil er am Fuß der andern Seite des Berges liegt. Haben wir aber den Gipfel überschritten, dann werden wir des Todes, welchen wir bis dahin nur vom Hörensagen kannten, wirklich ansichtig, wodurch, da zu derselben Zeit die Lebenskraft zu ebben526 beginnt, auch der Lebensmut sinkt; so dass jetzt ein trüber Ernst den jugendlichen Übermut verdrängt und auch dem Gesichte sich aufdrückt. So lange wir jung sind, mag man uns sagen, was man will, halten wir das Leben für endlos und gehen danach mit der Zeit um. Je älter wir werden, desto mehr ökonomisieren527 wir unsere Zeit. Denn im späteren Alter erregt jeder verlebte Tag eine Empfindung, welche der verwandt ist, die bei jedem Schritt ein zum Hochgericht geführter Delinquent528 hat.

Vom Standpunkte der Jugend aus gesehen, ist das Leben eine unendlich lange Zukunft; vom Standpunkte des Alters aus eine sehr kurze Vergangenheit; so dass es anfangs sich uns darstellt wie die Dinge, wenn wir das Objektivglas des Opernguckers ans Auge legen, zuletzt aber wie hier das Okular529. Man muss alt geworden sein, also lange gelebt haben, um zu erkennen, wie kurz das Leben ist.