So bildet sich demnach schon in den Kinderjahren die feste Grundlage unserer Weltansicht, mithin auch das Flache, oder Tiefe, derselben, sie wird später ausgeführt und vollendet; jedoch nicht im Wesentlichen verändert. Also infolge dieser rein objektiven und dadurch poetischen Ansicht, die dem Kindesalter wesentlich ist und davon unterstützt wird, dass der Wille noch lange nicht mit seiner vollen Energie auftritt, verhalten wir uns, als Kinder, bei weitem mehr rein erkennend als wollend. Daher der ernste, schauende Blick mancher Kinder, welchen Raphael514 zu seinen Engeln, zumal denen der Sixtinischen Madonna515, so glücklich benutzt hat. Eben dieserhalb sind denn auch die Kinderjahre so selig, dass die Erinnerung an sie stets von Sehnsucht begleitet ist. – Während wir nun, mit solchem Ernst, dem ersten anschaulichen Verständnis der Dinge obliegen, ist andererseits die Erziehung bemüht, uns Begriffe beizubringen. Allein Begriffe liefern nicht das eigentlich Wesentliche: vielmehr liegt dieses, also der Fonds516 und die echte Gestalt aller unserer Erkenntnisse, in der anschaulichen Auffassung der Welt. Diese aber kann nur von uns selbst gewonnen, nicht auf irgend eine Weise uns beigebracht werden. Daher kommt, wie unser moralischer, so auch unser intellektueller Wert nicht von außen in uns, sondern geht aus der Tiefe unseres eignen Wesens hervor, und können keine Pestalozzische517 Erziehungskünste aus einem geborenen Tropf einen denkenden Menschen bilden: nie! er ist als Tropf geboren und muss als Tropf sterben. – Aus der beschriebenen, tiefsinnigen Auffassung der ersten anschaulichen Außenwelt erklärt sich denn auch, warum die Umgebungen und Erfahrungen unserer Kindheit sich so fest dem Gedächtnis einprägen. Wir sind nämlich ihnen ungeteilt hingegeben gewesen, nichts hat uns dabei zerstreut und wir haben die Dinge, welche vor uns standen, angesehen, als wären sie die einzigen ihrer Art, ja überhaupt allein vorhanden. Später nimmt uns die dann bekannte Menge der Gegenstände Mut und Geduld. – Wenn man nun hier sich zurückrufen will, dass nämlich das objektive Dasein aller Dinge, d.h. ihr Dasein in der bloßen Vorstellung, ein durchweg erfreuliches, hingegen ihr subjektiv Dasein, als welches im Wollen besteht, mit Schmerz und Trübsal stark versetzt ist, so wird man als kurzen Ausdruck der Sache auch wohl den Satz gelten lassen: alle Dinge sind herrlich zu sehn, aber schrecklich zu sein. Dem Obigen nun zufolge sind in der Kindheit, die Dinge uns viel mehr von der Seite des Sehens, also der Vorstellung, der Objektivität, bekannt, als von der Seite des Seins, welche die des Willens ist Weil nun jene die erfreuliche Seite der Dinge ist, die subjektive und schreckliche uns aber noch unbekannt bleibt; so hält der junge Intellekt alle jene Gestalten, welche Wirklichkeit und Kunst ihm vorführen, für eben so viele glückselige Wesen: er meint, so schön sie zu sehn sind, und noch viel schöner, wären sie zu sein. Demnach liegt die Welt vor ihm, wie ein Eden518: dies ist das Arkadien, in welchem wir alle geboren sind. Daraus entsteht etwas später der Durst nach dem wirklichen Leben, der Drang nach Taten und Leiden, welcher uns ins Weltgetümmel treibt. In diesem lernen wir dann die andere Seite der Dinge kennen, die des Seins, d.i. des Wollens, welches bei jedem Schritte durchkreuzt wird. Dann kommt allmählich die große Enttäuschung heran, nach deren Eintritt heißt es: das Alter der Hoffnungen ist vorüber: und doch geht sie noch immer weiter, wird immer vollständiger. Demzufolge kann man sagen, dass in der Kindheit das Leben sich uns darstellt wie eine Theaterdekoration von weitem gesehen; im Alter, wie dieselbe in der größten Nähe. Zum Glücke der Kindheit trägt endlich noch folgendes bei: Wie im Anfange des Frühlings alles Laub die gleiche Farbe und fast die gleiche Gestalt hat; so sind auch wir in früher Kindheit alle einander ähnlich, harmonieren daher vortrefflich. Aber mit der Pubertät fängt die Divergenz519 an und wird, wie die der Radien520 eines Zirkels, immer größer.
Was nun den Rest der ersten Lebenshälfte, die so viele Vorzüge vor der zweiten hat, also das jugendliche Alter trübt, ja unglücklich macht, ist das Jagen nach Glück in der festen Voraussetzung, es müsse im Leben anzutreffen sein. Daraus entspringt die fortwährend getäuschte Hoffnung und aus dieser die Unzufriedenheit. Gaukelnde Bilder eines geträumten, unbestimmten Glückes schweben unter kapriziös521 gewählten Gestalten uns vor, und wir suchen vergebens ihr Urbild. Daher sind wir in unseren Jünglingsjahren mit unserer Lage und Umgebung, welche sie auch sei, meistens unzufrieden; weil wir ihr zuschreiben, was der Leerheit und Armseligkeit des menschlichen Lebens überall zukommt, und mit der wir jetzt die erste Bekanntschaft machen, nachdem wir ganz andere Dinge erwartet hatten. – Man hätte viel gewonnen, wenn man durch zeitige Belehrung, den Wahn, dass in der Welt viel zu holen sei, in den Jünglingen ausrotten könnte. Aber das Umgekehrte geschieht dadurch, dass meistens uns das Leben früher durch die Dichtung, als durch die Wirklichkeit bekannt wird. Die von jenen geschilderten Szenen prangen, im Morgenrot unserer eigenen Jugend, vor unserm Blick, und nun peinigt uns die Sehnsucht, sie verwirklicht zu sehen – den Regenbogen zu fassen. Der Jüngling erwartet seinen Lebenslauf in Form eines interessanten Romans. Denn was allen jenen Bildern ihren Reiz verleiht, ist gerade dies, dass sie bloße Bilder und nicht wirklich sind und wir daher, bei ihrem Anschauen, uns in der Ruhe und Allgenügsamkeit des reinen Erkennens befinden.
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