Wer nun weiß wie er die Götter zu ehren schuldig ist, glaubt also nicht, daß er es auf eine andere Art zu thun schuldig sey, als wie er es weiß?

Euthydem. Gewiß nicht!

Sokrates. Meinst du daß es einen Menschen gebe, der die Götter anders ehrt als er glaubt daß er es zu thun schuldig sey?

Euthydem. Ich sollt' es nicht meinen.

Sokrates. Wer also weiß, was die Gesetze in Betreff der Götter verordnen, ehrt der die Götter gesetzmäßig?

Euthydem. Allerdings.

Sokrates. Und wer sie gesetzmäßig ehrt, ehrt sie wie es seine Schuldigkeit ist?

Euthydem. Wie könnt' er denn anders?

Sokrates. Wer sie also gesetzmäßig ehrt, ist gottesfürchtig?

Euthydem. Ganz unläugbar.

Sokrates. Wir haben also den Begriff des Gottesfürchtigen richtig bestimmt, wenn wir sagen: es sey derjenige, der da weiß, was die Gesetze in Betreff der Götter verordnet haben?

Euthydem. So dünkt mich's.

Ich sehe dich zu dieser Manier den Seelen zur Geburt zu helfen die Achseln ein wenig zucken, Kleonidas; – – unter uns gesagt, auch ich habe schon oft große Noth gehabt, die meinigen bei solchen Gelegenheiten im Respect zu erhalten. Aber es ist nun nicht anders. Dieß ist einmal seine Manier, und du wirst wenigstens gestehen müssen, daß Mangel an Deutlichkeit nicht ihr Fehler ist. – »Sie ist nur gar zu deutlich, hör' ich dich sagen. Was soll man von dem Verstande der jungen Athener denken, wenn sie einer so wortreichen Methode nöthig haben, um einen so leichten Satz zu begreifen? Und das Schlimmste ist denn noch, daß er nicht einmal wahr ist. Denn es ist doch ein täglich vorkommender Fall, daß einer recht gut weiß, was er nach dem Gesetz zu thun schuldig ist und es doch nicht thut.« – Auf das letztere hab' ich dir keine andere Antwort zu geben als, bei Sokrates ist zwischen Wissen und Ausüben dessen was pflichtmäßig ist kein Unterschied, und er bemüht sich, auch seine Zöglinge so zu gewöhnen. Was aber die Lehrart betrifft, wovon ich dir ein Beispiel aus Tausenden gegeben habe, so weiß ich mir die Sache selbst nicht anders zu erklären, als daß er sie nöthig gefunden haben muß, um die unsägliche Flatterhaftigkeit der jungen Leute in Athen, wenigstens einige Minuten lang, bei dem nämlichen Gegenstande festzuhalten. Hätte er zu Cyrene oder Korinth oder Theben gelebt, so würde er vermuthlich gefunden haben, daß er auf einem kürzern Wege zum Ziele kommen könne. Aber nun ist ihm diese Methode so sehr zur Gewohnheit geworden, daß er sie auch bei solchen Personen gebraucht, bei denen sie keine gute Wirkung thut. Ich wenigstens bekenne, daß ich schon mehr als einmal alle meine Geduld aufbieten mußte, um die Ehrerbietung nicht aus den Augen zu setzen, die jedermann, und ein junger Mensch mehr als irgend ein anderer, einem Greise schuldig ist, der an Naturgaben und Geisteskräften den Besten gleich ist, an sittlicher Vollkommenheit vielleicht alle übertrifft; und, da ein Sterblicher doch nicht ganz ohne Tadel seyn kann, sich durch die wenigsten und unbedeutendsten Schwachheiten von dem allgemeinen Loose der Menschheit, so zu sagen, frei gekauft hat.

 

Die neuesten Nachrichten, die mir aus Cyrene zugekommen sind, lassen mich besorgen, daß die zeitherige Ruhe unsers so glücklich scheinenden Vaterlandes von keiner langen Dauer mehr seyn werde. Doch vielleicht gibt irgend ein guter Dämon unsern Regenten noch ein Mittel ein, das Ungewitter vor dem Ausbruch zu beschwören. Auf alle Fälle, mein Lieber, suche dich so lang' als möglich frei zu erhalten; und siehst du daß die Sachen eine Wendung nehmen, die dich entweder unvermerkt verwickeln oder wohl gar gewaltsam in eine der Factionen, die sich bereits zu bilden scheinen, hinein ziehen möchte, so folge meinem Beispiel, und flüchte dich in Zeiten unter den zwar etwas engen aber sichern Mantel des weisen Sokrates. Das politische Meer, worin die griechischen Republiken, wie eben so viele schwimmende Inseln, hin und her treiben, ist zwar immer ein wenig stürmisch; aber in Vergleichung mit den letztern Zeiten, genießen wir dermalen halcyonischer Tage, und für einen aufstrebenden Zögling der Musenkünste ist doch Athen der einzige Ort in der Welt.

 

9.

 

An Kleonidas.

Der Komödiendichter, nach welchem du dich so angelegen erkundigest, lieber Kleonidas, ist hier eine so allgemein bekannte Person, daß es mir nicht schwer fallen kann, dein Verlangen zu befriedigen, zumal da ich (wie du mit Recht voraussetzest) Gelegenheiten genug gefunden habe, öfters in seiner Gesellschaft zu seyn, und sogar in eine Art von Vertraulichkeit mit ihm zu kommen. Ungeachtet er eine gewisse sehr gut zu seiner satyrischen Physionomie passende Ernsthaftigkeit affectiert, wovon sich der Beweggrund leicht errathen läßt, wird er doch, der witzigen Einfälle wegen, die ihm ohne Anspruch und Absicht gleichsam unfreiwillig zu entwischen scheinen, für einen der angenehmsten Tischgesellschafter (einer in Athen sehr zahlreichen Classe) gehalten, und man findet ihn gewöhnlich bei allen großen Gastmählern, die in vornehmern Häusern gegeben werden. Da er sich den Freunden des Sokrates durch seine Wolken58 (die sie ihm nach mehr als zwanzig Jahren noch immer nicht vergessen haben) sehr übel empfohlen hat, so wird mir's nicht zum Besten ausgelegt, daß ich kein Bedenken trage, mit einem so verworfenen Menschen umzugehen. Aber Sokrates selbst scheint davon keine Kenntniß zu nehmen, und spricht überhaupt weder Gutes noch Böses von ihm; wiewohl er, so oft sich eine Gelegenheit dazu findet, seine Geringschätzung der Komödie, wie sie ehmals zu Athen beschaffen war und es zum Theil noch jetzt ist, mit seiner gewohnten Freimüthigkeit zu Tage legt. Nicht als ob er das komische Drama überhaupt mißbilligte; denn ich hörte ihn einst von den Komödien des Epicharmus59 mit Achtung sprechen; sondern weil er den gränzenlosen Muthwillen, die leidenschaftlichen Anfälle auf einzelne Personen, und die pöbelhaften Späße, Unflätereien und unzüchtigen Darstellungen, womit die Stücke der neuern Athenischen Komiker besudelt sind, vermöge seiner Grundsätze und seines ganzen Charakters, unmöglich duldbar finden kann. Nichts ist gewisser, als daß diese Art von Komödie, worin Kratinus60, Aristophanes und Eupolis mit einander wetteiferten, schon lange auf immer abgeschafft worden wäre, wenn Sokrates eine entscheidende Stimme in Athen gehabt hätte: aber ohne allen Grund ist, was ich in Cyrene von einem unsrer gereisten Leute (die alles besser als andre wissen wollen) gehört habe: Sokrates und seine Freunde hätten das Gesetz bewirkt, wodurch unter dem Archon Myrrhichides die Komödie aufgehoben wurde, und dieser an der komischen Muse begangene Frevel sey die wahre Ursache des Hasses, den die Komödienschreiber auf den Sokrates geworfen, und der Rache, welche Aristophanes, im Namen der ganzen Gilde, an ihrem gemeinschaftlichen Feinde genommen habe. Ich sage, dieses Vorgeben ist ohne allen Grund; denn der Sohn des Sophroniskus, der im ersten Jahre der fünfundachtzigsten Olympiade, als jenes Gesetz gegeben wurde, erst achtundzwanzig Jahre zählte, war damals noch ein unbekannter Steinmetz, und weit entfernt unter den Sophisten selbiger Zeit einen Namen und Rang zu haben.