der berüchtigte Kleon, bald darauf nachdem ihn meine Ritter auf eine wirklich grausame und nie erhörte Art mißhandelt hatten, zum Oberfeldherrn gegen die Spartaner erwählt: und bedarf es wohl eines stärkern Beweises, wie unschädlich das Salz ist, womit wir unsre Mitbürger zu ihrem eigenen und dem gemeinen Besten reiben, als daß Sokrates seit mehr als fünf Olympiaden ungestört sein Wesen unter uns treibt, und an Ansehn und Ruhm zu Athen, und allenthalben wo unsre Sprache gesprochen wird, von Jahr zu Jahr zugenommen hat? Was ihm auch in der Zukunft noch begegnen könnte, immer bleibt gewiß, daß die Wolken keine Schuld daran haben67, da ihm in einer so langen Zeit nicht ein Haar um ihrentwillen gekrümmt wurde.

Ich. Und was könnte denn dem besten aller Menschen, die ich kenne, noch Uebels begegnen? Wohin müßte es mit euch Athenern gekommen seyn, wenn das untadeligste Leben, die reinste Tugend, und die größten Verdienste um seine Mitbürger einem Manne von seinen Jahren kein ruhiges und glückliches Ende zusicherten?

Er. Mein guter Aristipp, Unschuld, Tugend und Verdienste schützen weder zu Athen noch irgendwo vor dem Hasse der Bösen, dem guten Willen der Thoren, und den Gruben, in die uns unsre eigene Sorglosigkeit fallen macht. Ueberdieß denken nicht alle Athener so günstig von ihm wie du. Sokrates lebt, spricht, und beträgt sich in allem wie ein freier, aber nicht immer wie ein kluger Mann. Er hat sich durch seine Freimüthigkeit Feinde gemacht; er verachtet sie, und geht ruhig seinen Weg. Ich bin keiner von seinen Feinden; aber wenn ich einer seiner Freunde wäre, so würde ich ihn bitten auf seiner Hut zu seyn.

Diese Rede machte mich stutzen, wie du denken kannst: aber ich konnte meinen Mann nicht dahin bringen sich näher zu erklären; er wich mir immer durch allgemeine Formeln aus, und ein Dritter und Vierter, die sich zu uns gesellten, lenkten das Gespräch auf andere Gegenstände.

Wie ich den Sokrates kenne, würde es zu nichts helfen, wenn ich ihm etwas von dem Inhalt meiner Unterredung mit dem Komiker, den er weder liebt noch achtet, mittheilen wollte; und über eine Bitte, auf seiner Hut zu seyn, würde er lachen. Niemand weiß besser als er selbst, wie unzuverlässig die Gemüthsart der Athener ist, und daß es unter seinen Mitbürgern Leute gibt, die ihm übel wollen, wiewohl keiner von ihnen auftreten und sagen kann: Sokrates hat mir jemals Unrecht gethan. Er weiß daß er Feinde hat: aber (wie der Komiker sagte) er verachtet sie und geht seinen Weg. Ich erinnere mich, daß einst in einem kleinen vertrauten Kreise der unerschütterlichen Festigkeit erwähnt wurde, womit Sokrates, als damaliger Vorsteher der Prytanen68, sich der Wuth des Volks, bei dem gesetzwidrigen Verfahren gegen den Admiral Diomedon und seine Collegen, entgegen gestellt hatte. Das Gespräch fiel unvermerkt auf die Unmöglichkeit, daß ein Staatsbeamter in einer Demokratie, bei einer ausdauernden Beharrlichkeit auf seiner Pflicht, dem Haß und der Verfolgung, die er sich dadurch zuzöge, nicht in kurzer Zeit unterliegen sollte. Es ist traurig, sagte Kriton, sich gegen seinen alten Freund wendend, sich's nur als möglich zu denken, daß ein rechtschaffner Mann, gerade deßwegen, weil er rechtschaffen ist, Feinde haben soll. Da es nun aber nicht anders ist, versetzte Sokrates, was soll es uns kümmern? Das ärgste, das sie uns zufügen können, ist doch nur, daß sie uns dahin versetzen, wo wir nichts mehr von ihnen zu leiden haben werden.

Gestehe, Kleonidas, Sokrates ist ein herrlicher Mann! Ich fühle dieß zuweilen so lebhaft, daß ich – Sokrates seyn möchte, wenn mir's möglich wäre etwas anders zu seyn als dein Aristipp.

 

10.

 

An Kleonidas.

Du bist begierig von mir zu erfahren, was für eine Bewandtniß es mit dem Dämonion des Sokrates habe, von welchem dir dein Megarischer Gastfreund, wie es scheint, seltsame und unglaubliche Dinge erzählt hat. »Was denkt sich Sokrates dabei? Von welcher Gattung Dämonen ist dieses Dämonion? Hat es eine Gestalt? Oder ist es eine bloße Stimme, die ihm leise ins Ohr flüstert, oder vielleicht ohne Worte sich nur dem innern Sinne vernehmbar macht? Oder wirkt es etwa bloß durch leise Berührung? Im Wachen oder im Traum? Gefragt oder ungefragt? Häufig oder selten? Hat es nie getäuscht? Sind die Dinge, die es ihm vorhersagt, so beschaffen, daß es schlechterdings unmöglich ist sie vorherzusehen? Oder läßt sich begreifen, wie ein Mann von scharfem Blick in den Zusammenhang der Dinge sie auch ohne Dämonion errathen konnte?«

Alle diese kleinen Fragen, mein Freund, könnte uns niemand besser beantworten als Sokrates selbst. – »Warum fragst du ihn denn nicht?« – Ich wollt' es wirklich; zwei oder dreimal lag mir die Frage schon auf der Zunge: aber immer hielt mich ein ich weiß nicht was, eine Art von Scheu zurück, als ob ich im Begriff wäre etwas Unziemliches zu thun. Aufrichtig zu reden, Kleonidas, ich schäme mich ein wenig, mit einem so ehrwürdigen alten Glatzkopfe von – seinem Dämonion zu reden, und es ist mir gerade so dabei zu Muthe, als ob ich ihn fragen wollte, was ihm diese Nacht geträumt habe? Wenn ich aber auch über diese Scham Meister werden könnte, so würde ich vermuthlich nicht mehr damit gewinnen als einer meiner Cameraden, Simmias von Theben, der sich das Herz nahm, eine Frage über sein Dämonion an ihn zu thun, und keine Antwort von ihm erhielt. Im Gegentheil (sagte mir Simmias in seiner böotischen Treuherzigkeit), er drehte sich mit einem so finstern Blick von mir weg, daß mir die Lust ihn wieder zu fragen auf immer vergangen ist.

Weil also, wie du siehst, die Quelle selbst, aus welcher wir allenfalls die reinste Wahrheit zu schöpfen hoffen dürften, unzugangbar ist, so wirst du dich schon an dem begnügen müssen, was ich von seinen ältern Freunden und Anhängern, nach und nach, meistens nur tropfenweise habe herauspressen können. Denn es ist als ob sie Bedenken trügen sich offenherzig gegen mich heraus zu lassen; woran freilich wohl die etwas unglaubige Miene Schuld seyn mag, die ich bei solchen Gelegenheiten nicht völlig in meine Gewalt bekommen kann. Ich habe immer bemerkt, daß Personen, die mit der Neigung wunderbare Dinge zu glauben etwas reichlich begabt sind, sich zurückgehalten fühlen, mit kalten Köpfen so freimüthig und nach Herzenslust von solchen Dingen zu sprechen, wie sie mit ihres gleichen zu thun pflegen. Was ich indessen von der Sache selbst herausgebracht habe (denn an den Meinungen dieser Leute kann dir nicht viel gelegen seyn) läuft auf Folgendes hinaus.

Sokrates glaubt, durch eine besondere göttliche Schickung von Kindheit an eine Art von ihm allein hörbarer Stimme vernommen zu haben, als ein Warnungszeichen, wenn er etwas beginnen wollte, dessen Ausgang oder Erfolg ihm nachtheilig gewesen seyn würde. Ueber die Art und Weise, wie diese angebliche Stimme ihm vernehmbar werde, hat er sich nie erklärt: gewiß aber ist, daß er sie für etwas Göttliches (daimonion ti), oder genauer zu reden, für etwas Divinatorisches von eben der Art, wie die Götter, nach dem gemeinen Volksglauben (welchem auch er immer zugethan war) durch Orakel, oder die Eingeweide der Opferthiere, den Flug gewisser Vögel, und andere solche Anzeichen, den Menschen zukünftige Dinge, die sich durch keinen Grad menschlicher Klugheit und Erfahrenheit vorhersehen lassen, andeuten sollen. Niemand hat ihn je sagen gehört, daß er einen eigenen Dämon habe; dieß aber ist gewiß, daß er diese wahrsagende Stimme – die er jedesmal so oft er selbst oder seine Freunde etwas, das zu ihrem Verdruß oder Schaden ausgefallen wäre, unternehmen wollte, zu vernehmen glaubte – für eine göttliche Wirkung hielt, und sich daher der Ausdrücke »die Stimme, oder das Dämonion, oder Gott hat mich gewarnt« als gleichbedeutend zu bedienen pflegte. Auch darüber, wie er dazu gekommen sey die Bedeutung dieses göttlichen Warnungszeichens zu verstehen, hat er sich nie erklärt; vermuthlich mag es ihm in seiner frühen Jugend öfters begegnet seyn, einer Stimme, deren Sprache ihm noch unbekannt war, nicht zu achten; weil es ihm aber jedesmal übel bekam, so wurde er endlich aufmerksamer, und entdeckte auf diese Weise die Meinung und Absicht derselben. Auch ist bemerkenswerth, daß – nachdem er sich durch häufige Erfahrungen ein für allemal überzeugt hatte, daß die Stimme sich allezeit richtig hören lasse, so oft er, oder einer seiner Freunde in seiner Gegenwart, etwas das unglücklich für ihn ausgegangen wäre unternehmen oder beschließen wollte – er nun auch das Stillschweigen derselben für ein sicheres Zeichen nahm, daß der Himmel sein Gedeihen zu dem, was er oder seine Freunde vornehmen wollten, geben werde: so daß er also diese Wundergabe sowohl auf der rechten als auf der umgekehrten Seite als Warnungs- und Billigungszeichen gebrauchen konnte. Zum Beweise, wie übel der Ungehorsam gegen die Warnungen dieses Orakels einigen Bekannten des Sokrates bekommen sey, sind mir verschiedene Beispiele erzählt worden, womit ich dich verschonen will, da dir diese Leute unbekannt sind, und die Umstände, in welche ich mich einlassen müßte, kein Interesse für dich haben können. Genug, daß ich diese Thatsachen zum Theil aus dem Munde unverwerflicher Zeugen habe, und daß wenigstens nicht leicht zu erklären wäre, was den Sokrates hätte bewegen können, die besagten Personen durch ein erdichtetes Vorgeben, er höre das gewohnte Warnungszeichen, von Ausführung dessen, was sie im Sinne hatten, zurückzuhalten. Uebrigens muß ich zur Steuer der Wahrheit noch hinzuthun, daß ich den Sokrates selbst in den zwei Jahren, seitdem ich ihn alle Tage sehe und ihm oft in ganzen Wochen nicht von der Seite komme, dieser ihm beiwohnenden Art von Divination mit keinem Wort erwähnen gehört habe. Dieß kann zufälliger Weise, oder vielleicht wohl gar auf Abrathen des Dämonions selbst geschehen seyn; denn ich habe zuweilen einen Argwohn, daß es mir nicht recht grün ist, und bin ziemlich geneigt, ihm die Schuld zu geben, daß Sokrates mich mit einer gewissen Zurückhaltung und Kälte zu behandeln scheint, die ich mir lieber aus dieser als irgend einer andern Ursache erklären mag. Indessen beruht die Sache auf so übereinstimmenden Zeugnissen aller, die schon viele Jahre mit ihm gelebt haben, daß es ungereimt wäre, daran zweifeln zu wollen, daß er wirklich und schon von langer Zeit her diese übernatürliche Einwirkung zu erfahren vorgegeben habe.

Und hat er dieß vorgegeben, so zweifle ich nicht, und auch du, Kleonidas, würdest, wenn du nur ein paar Tage mit ihm umgegangen wärest, keinen Augenblick zweifeln, daß er selbst von der Realität der Sache vollkommen überzeugt ist.

»Aber wie sollen wir uns die Möglichkeit einer solchen Ueberzeugung, bei einem so verständigen, gesetzten und helldenkenden Manne wie Sokrates ist, erklären?« fragst du. – Es gibt der Dinge so viele, mein Freund, die wir uns nicht erklären können, daß es auf eines mehr oder weniger nicht ankommt.