Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - 01 - Auf dem Weg zu Swann
Marcel Proust
Auf der Suche
nach der verlorenen Zeit
Band 1
Auf dem Weg zu Swann
Übersetzung und Anmerkungen
von Bernd-Jürgen Fischer
Reclam
Alle Rechte vorbehalten
© 2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Umschlaggestaltung: Cornelia Feyll und Friedrich Forssman
Made in Germany 2013
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960372-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-010900-7
www.reclam.de
Inhalt
Auf dem Weg zu Swann
Erster Teil
Combray
Zweiter Teil
Eine Liebe von Swann
Dritter Teil
Ländliche Namen: Der Name
Anhang
Zur Textgrundlage
Anmerkungen
Literaturhinweise
Inhaltsübersicht
Namenverzeichnis
Hinweise zur E-Book-Ausgabe
MONSIEUR GASTON CALMETTE*
als Beweis tiefempfundener und herzlicher
Dankbarkeit zugeeignet,
MARCEL PROUST
[9] ERSTER TEIL
Combray*
I
Lange
Zeit bin ich früh schlafen
gegangen*. Manchmal,
wenn ich noch kaum die Kerze ausgelöscht hatte, schlossen sich
meine Augen so schnell, dass ich nicht mehr die Zeit hatte, mir zu
sagen: »Jetzt schlafe ich ein.« Und eine halbe Stunde
später weckte mich dann der Gedanke, dass es nun Zeit sei, den
Schlaf zu suchen; ich wollte das Buch, das ich noch in meinen
Händen glaubte, zur Seite legen und mein Licht ausblasen; ich
hatte auch während ich schlief nicht aufgehört, über
das gerade Gelesene nachzudenken, aber diese Gedanken hatten einen
etwas seltsamen Gang genommen; es erschien mir, als sei ich selbst
das, wovon das gelesene Werk erzählte: eine Kirche, ein
Quartett, die Rivalität zwischen Franz
I. und Karl V.*
Diese Einbildung hielt sich
noch einige Sekunden, während ich erwachte; sie verstörte
nicht etwa meine Vernunft, sondern lag wie Schuppen auf meinen
Augen und hinderte sie, sich darüber klar zu werden, dass der
Kerzenleuchter nicht mehr brannte. Schließlich begann sie,
mir immer unverständlicher zu werden, wie nach der
Seelenwanderung die Gedanken einer früheren Existenz; der
Gegenstand des Buches löste sich langsam von mir, ich war
wieder frei, mich damit zu beschäftigen oder nicht; sogleich
gewann ich auch das Sehvermögen zurück und war sehr
erstaunt, um mich herum ein Dunkel zu finden, das sanft und erholsam war für meine
Augen, aber vielleicht
sogar mehr noch für meinen Geist, dem es wie eine Sache ohne
Ursache erschien, unverständlich, wie eine ganz und gar dunkle
Sache. Ich fragte mich, wie spät es wohl sein mochte; ich
hörte das Pfeifen der mehr oder weniger fernen
[10] Züge, das wie ein Vogellied im Wald die Entfernungen
verdeutlichte und mir die Weite der verlassenen Landschaft
beschrieb, durch die der Reisende der nächsten Station zueilt;
die kurze Strecke, der er folgt, wird sich seiner Erinnerung
einzeichnen durch die Erregung, die er neuen Stätten verdankt,
ungewohnten Tätigkeiten, der vor kurzem geführten
Unterhaltung und dem Abschied unter einem fremdartigen Licht, der
ihm noch nachfolgt in die Stille der Nacht, zu der bevorstehenden
Süße der Heimkehr.
Ich schmiegte
meine Wangen zärtlich an die sanften Wangen des Kissens, die
so voll und frisch den Wangen unserer Kindheit gleichen. Ich riss
ein Streichholz an, um auf die Uhr zu sehen. Gleich Mitternacht.
Dies ist der Augenblick, da der Kranke, der zu einer Reise
gezwungen gewesen ist, in einem unbekannten Hotel hat einkehren
müssen und von einem Anfall aufgeweckt wird, sich freut, wenn
er einen Streifen Tageslicht unter der Tür entdeckt. Welch
Glück, es ist ja schon Morgen! Gleich werden die
Dienstboten aufgestanden
sein, er wird läuten können, man wird kommen,
ihm zu helfen. Die Hoffnung
auf Erleichterung gibt ihm die Kraft zu leiden. Eben schon hat er geglaubt,
Schritte zu
hören; die Schritte nähern sich, entfernen sich dann.
Und der Streifen
Tageslicht, der unter seiner Tür lag, ist verschwunden.
Es ist Mitternacht: man hat
gerade das letzte Gaslicht gelöscht; der letzte Dienstbote ist gegangen, und
er wird die ganze Nacht leiden müssen ohne Beistand.
Ich schlief
wieder ein und wachte nur zuweilen kurz auf, gerade lange genug, um
das lebendige Knacken im Gebälk zu hören, die Augen zu
öffnen, um das Kaleidoskop der Dunkelheit anzuhalten und in
einem kurzen Bewusstseinsschimmer den Schlaf zu würdigen, in
den die Möbel, das Zimmer gefallen waren, all das, wovon ich
nur ein kleiner Teil war und mit dessen Bewusstlosigkeit ich mich
rasch wieder vereinte. Oder aber ich hatte im tiefen Schlaf
[11] ohne besondere Anstrengung ein für immer vergangenes
Stadium meiner Kindheit wiedererlangt und Schrecken meiner jungen
Jahre erneut durchlebt, wie etwa den, dass mein Großonkel
mich an meinen Locken zog, und der sich an dem Tag – für
mich der Beginn eines neuen Lebensabschnitts – in Nichts
auflöste, an dem man sie mir abschnitt. Während des
Schlafes hatte ich dieses Ereignis vergessen, fand die Erinnerung
daran jedoch sofort wieder, sobald ich genügend wach geworden
war, um mich den Händen meines Großonkels zu entwinden;
zur Sicherheit vergrub ich aber doch meinen Kopf unter dem Kissen,
ehe ich in die Welt der Träume zurückkehrte.
Zuweilen wurde
während meines Schlafes aus einer falschen Lage meines
Schenkels heraus ein Weib geboren, so wie Eva einer Rippe Adams
entsprang. Obwohl ich sie der Lust verdankte, die zu genießen
ich im Begriff war, stellte ich mir doch vor, dass vielmehr sie es
war, die mir diese Lust verschaffte. Mein Körper, der in dem
ihren seine eigene Brunst verspürte, wollte sich darin mit ihr vereinigen, und
ich erwachte. Der Rest der Menschheit erschien mir wie in weite
Ferne entrückt im
Vergleich zu dieser Frau, die ich vor wenigen Augenblicken erst
verlassen hatte; meine Wange war noch heiß von ihrem Kuss,
mein Körper noch lahm von der Last ihrer Lenden. Wenn sie, wie
es auch hin und wieder vorkam, die Züge einer Frau trug, die
ich im wirklichen Leben gekannt hatte, so setzte ich
anschließend alles an das eine Ziel: sie wiederzufinden, so
wie es jenen ergeht, die eine Reise unternehmen, um mit ihren
eigenen Augen eine ersehnte Stadt anzusehen, und dabei glauben, man
könne auch in der Wirklichkeit den Zauber einer Träumerei
genießen. Nach und nach verlor sich die Erinnerung an sie,
ich hatte das Mädchen meines Traumes vergessen.
Ein Mensch,
der schläft, hält in einem Kreis um sich das Band der
Stunden, die Folge der Jahre und der Welten versammelt.
[12] Erwacht er, orientiert er sich ganz instinktiv daran und
liest in ihnen in einem Augenblick den Ort der Erde ab, an dem er
sich befindet, die Zeit, die bis zu seinem Erwachen verronnen ist;
doch ihre Ordnungen können sich vermengen, zerreißen.
Wenn ihn gegen Morgen nach längerem Wachen der Schlaf mitten
beim Lesen überrascht, in einer gänzlich anderen Haltung als der, in der er
gewöhnlich schläft, genügt schon sein erhobener Arm,
die Sonne anzuhalten* oder zurücktreten zu
lassen, und in der ersten Minute seines Erwachens wird er die
Uhrzeit nicht wissen und meinen, er sei gerade erst zu Bett
gegangen. Und schläft er gar in einer noch unpassenderen und
ungewohnteren Haltung ein, etwa nach dem Essen in einem Sessel
sitzend, dann wird das Durcheinander der aus der Bahn gekommenen
Welten noch vollständiger sein, der Zaubersessel wird ihn mit
rasender Geschwindigkeit durch Zeit und Raum
befördern*, und wenn er die Lider öffnet, so wird er
fest davon überzeugt sein, sich vor einigen Monaten in einer
gänzlich anderen Umgebung niedergelegt zu haben. Aber in
meinem eigenen Bett genügte es schon, dass mein Schlaf tief
war und meinen Geist gänzlich entspannte; dann entglitt ihm
die Lage des Ortes, an dem ich eingeschlafen war, und wenn ich
mitten in der Nacht erwachte, wusste ich nicht nur nicht, wo ich
mich befand, sondern sogar auch im ersten Augenblick nicht, wer ich
war; ich hatte lediglich, in seiner ganzen urzeitlichen
Natürlichkeit, jenes Gefühl bloßen Daseins, wie es
in der Tiefe eines Tieres beben mag; ich war hilfloser als ein
Höhlenmensch; aber dann kam die Erinnerung – noch nicht
an den Ort, an dem ich mich befand, aber doch an einige von denen, die ich
bewohnt hatte und an
denen ich sein könnte – über mich wie
Hilfe in höchster Not,
um mich aus dem Nichts zu ziehen, aus dem ich allein nicht hätte herausfinden
können; ich flog
in einem Augenblick über Jahrhunderte der Zivilisation
hinweg, und das
verschwommen wahrgenommene Bild von [13] Petroleumlampen, dann von Hemden mit Umlegekragen, fügte Schritt
für Schritt die ursprünglichen Züge meines Ichs
wieder zusammen.
Vielleicht ist
den Dingen um uns her die Unbeweglichkeit nur aufgezwungen durch
unsere Gewissheit, dass sie sie selber seien und nichts anderes,
durch die Unbeweglichkeit unserer Vorstellung von ihnen. Wenn ich
wieder erwachte, war es jedenfalls so, dass sich alles, noch
während mein Geist erfolglos damit beschäftigt war,
herauszufinden, wer ich sei, um mich im Dunkel zu drehen begann,
die Dinge, die Länder, die Jahre. Mein Körper, zu steif
sich zu rühren, suchte, je nach Art seiner Müdigkeit, die
Lage seiner Glieder zu ermitteln, um daraus auf die Richtung der
Wand zu schließen, auf die Stellung der Möbel, um daraus
wiederum die Wohnung zu rekonstruieren und zu benennen, in der er
sich befand. Sein Gedächtnis, das Gedächtnis seiner
Rippen, seiner Knie, seiner Schultern, führte ihm nacheinander
mehrere der Zimmer vor, in denen er geschlafen hatte, während
um ihn her die unsichtbaren Wände, die ihren Ort wechselten je
nach Gestalt des vorgestellten Raumes, in der Finsternis
durcheinanderwirbelten. Und noch ehe mein Denken, das an der
Schwelle der Zeiten und Formen zögerte, sich der Unterkunft
durch die Verknüpfung der Einzelheiten versichert hatte, hatte
er, mein Körper, sich einer jeden erinnert, der Art des
Bettes, der Lage der Türen, des Lichteinfalls der Fenster, der
Existenz eines Flurs, zusammen mit dem Gedanken, mit dem ich
eingeschlafen war und den ich im Erwachen wiederfand. Meine
steifgewordene Seite stellte sich in dem Bemühen, ihre
Ausrichtung festzustellen, zum Beispiel vor, mit dem Gesicht zur
Wand in einem großen Himmelbett zu liegen, und sobald ich zu
mir sagte: »Schau an, so bin ich am Ende doch eingeschlafen,
obwohl Maman nicht gekommen ist, gute Nacht zu sagen«, war
ich auf dem Land bei meinem Großvater, der schon seit vielen
Jahren tot war; und mein Körper, die Seite, auf der ich ruhte,
treuer [14] Wächter einer Vergangenheit, die mein Geist
niemals hätte vergessen dürfen, rief mir den Schein des
urnenförmigen Nachtlichtes aus böhmischem Glas, das an
Kettchen von der Decke hing, ins Gedächtnis zurück, den
Kamin aus sienesischem Marmor in meinem Schlafzimmer in Combray bei
meinen Großeltern in jenen vergangenen Tagen, die mir in diesem Augenblick so
gegenwärtig erschienen, ohne dass ich sie deutlich vor mir
sah, die ich jedoch viel besser wiedererkennen würde, sobald
ich tatsächlich ganz erwacht wäre.
Alsdann
erstand zu einer neuen Körperhaltung die entsprechende
Erinnerung auf; die Wand scherte in eine andere Richtung: ich war
in meinem Zimmer bei Madame de Saint-Loup auf dem Land; mein Gott!,
es ist mindestens schon zehn Uhr, man dürfte bereits das
Abendessen beendet haben! Ich habe wohl die Ruhepause, die ich
jeden Abend vor dem Umziehen einlegte, nachdem ich von meinem
Spaziergang mit Madame de Saint-Loup zurückgekehrt war, zu
sehr ausgedehnt. Es sind nämlich viele Jahre seit Combray
vergangen, wo ich, selbst wenn wir verspätet heimkehrten, noch
den roten Widerschein des Sonnenuntergangs auf den Scheiben meines
Fensters sah. In Tansonville* bei Madame de
Saint-Loup* pflegt man einen anderen
Lebensstil, ich finde eine neue Art von Vergnügen darin, nicht
vor Anbruch der Nacht auszugehen, im Mondschein jenen Wegen zu
folgen, auf denen ich einstmals im Sonnenlicht spielte; und das
Zimmer, in dem ich wohl eingeschlafen war statt mich fürs
Abendessen umzuziehen, sehe ich von ferne, wenn wir
zurückkehren, vom Schein der Lampe durchflossen, dem einzigen
Leuchtfeuer in der Nacht.
Diese
kreiselnden, verworrenen Erinnerungsbilder blieben nie länger
als einige Augenblicke; häufig unterschied meine kurze
Unsicherheit über den Ort meines Aufenthalts nicht besser
zwischen der einen oder der anderen Vermutung, aus der sie
entstand, als wir [15]
bei einem laufenden Pferd
seine aufeinanderfolgenden Haltungen erkennen können, die das
Kinetoskop* uns zeigt.
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