Aber bald hatte ich das eine, bald das andere der Zimmer wiedergesehen, die ich im Laufe meines Lebens bewohnt hatte, und das führte dazu, dass ich sie mir alle während der langen Gedankenspiele, die meinem Erwachen folgten, vergegenwärtigte; – winterliche Zimmer, in denen man, sobald man sich hingelegt hat, den Kopf in einem Nest birgt, das man sich aus den verschiedensten Dingen zusammengeklaubt hat: einem Zipfel des Kopfkissens, dem Rand der Bettdecke, dem Ende eines Schals, der Bettkante, und einer Ausgabe der Débats roses*, die man schließlich nach Art der Vögel* zusammenfügt, indem man sich unablässig gegen sie drückt; in denen man in Frostzeiten ein Vergnügen darin findet, sich von der Außenwelt abgeschnitten zu fühlen (wie die Seeschwalbe, die ihr Nest am Boden einer Senke in der Erdwärme anlegt), und in denen man, da das Kaminfeuer die ganze Nacht hindurch brennt, in einer weiten Umhüllung aus warmer und rauchiger Luft schläft, die das Flackern der feuerfangenden Scheite durchzuckt, in einer Art von nicht greifbarem Alkoven, einer warmen Höhle, ausgehoben aus dem Schoße des Zimmers, einer glühenden Zone unsteter Temperaturen, durchweht von Luftzügen, die uns das Antlitz erfrischen und aus den Ecken kommen, aus Stellen in der Nähe der Fenster oder aus solchen, die vom Feuer entfernt sind und schon erkaltet; – sommerliche Zimmer, in denen man mit der lauen Nacht verschmelzen möchte, in denen das Mondlicht, auf den halbgeöffneten Läden ruhend, an das Fußende des Bettes seine Zauberleiter wirft, in denen man so gut wie unter freiem Himmel schläft wie eine Meise, die auf der Spitze eines Halmes von der Brise gewiegt wird; – manchmal auch das Louis-Seize-Zimmer*, so heiter, dass ich dort sogar am ersten Abend nicht allzu unglücklich gewesen war, und in dem die kleinen Säulen, die graziös die Decke trugen, mit so viel Anmut [16] auseinanderwichen, um den Platz des Bettes zu bezeichnen und freizugeben; manchmal dagegen auch jenes kleine Zimmer mit zu hoher Decke, in Form einer Pyramide ausgehoben über zwei Stockwerke hinweg und teilweise mit Mahagoni verkleidet, in dem ich vom ersten Augenblick an von dem unbekannten Geruch des Vetiver seelisch vergiftet wurde, überzeugt wurde von der Feindseligkeit der violetten Vorhänge und der anmaßenden Gleichgültigkeit der Pendeluhr, die lauthals vor sich hin plapperte als sei ich gar nicht vorhanden; – in dem ein sonderbarer und gnadenloser rechteckiger Standspiegel, schräg in eine der Ecken des Zimmers gelehnt, sich unverfroren aus dem kostbaren Ganzen meines gewohnten Gesichtsfeldes ein nicht vorgesehenes Quartier aushob; – in dem mein Denken, nachdem es sich stundenlang bemüht hatte, sich zu verrenken, sich zu strecken, um die genaue Gestalt dieses Zimmers anzunehmen und schließlich seinen ungeheuren Trichter bis zu ganzer Höhe auszufüllen, eine Reihe zäher Nächte durchlitten hatte, während ich auf meinem Bett ausgestreckt dalag, die Augen emporgewandt, die Ohren verängstigt, die Nase widerwillig, das Herz klopfend: bis dann schließlich die Gewohnheit die Farbe der Vorhänge verändert, die Uhr zum Schweigen gebracht, den schrägen und grausamen Spiegel Mitleid gelehrt, den Geruch des Vetiver* wenn auch nicht gänzlich vertrieben, so doch gemildert, und vor allem die offenkundige Höhe der Decke verringert haben würde. Die Gewohnheit!, tüchtige, aber auch träge Haushälterin, die unseren Geist erst einmal wochenlang in einem Provisorium leiden lässt; die zu finden aber trotz allem ein großes Glück für ihn ist, denn ohne die Gewohnheit und allein auf die eigenen Mittel angewiesen wäre er außerstande, eine Unterkunft für uns bewohnbar zu machen.

Gewiss war ich jetzt wirklich erwacht, mein Körper hatte sich ein letztes Mal umgedreht, und der gute Engel der Gewissheit hatte [17] alles um mich her angehalten, mich in meinem Schlafzimmer unter meinen Laken verpackt und im Dunkeln meinen Kleiderschrank, meinen Schreibtisch, meinen Kamin, das Fenster zur Straße und die beiden Türen annähernd an ihren Platz gestellt. Aber was nützte es mir zu wissen, dass ich mich nicht in den Wohnungen befand, die mir die Benommenheit des Erwachens einen Augenblick lang wenngleich nicht deutlich vor Augen gestellt, so doch als mögliche Gegenwart vorgegaukelt hatte, mein Gedächtnis war in Gang gesetzt worden; im allgemeinen versuchte ich nicht sofort, wieder einzuschlafen; ich verbrachte den größten Teil der Nacht damit, mich unseres damaligen Lebens zu entsinnen, in Combray bei meiner Großtante, in Balbec, in Paris, in Doncières*, in Venedig und anderenorts, mir die Stätten zu vergegenwärtigen und die Leute, die ich dort gekannt hatte, was ich von ihnen wahrgenommen, was man mir von ihnen erzählt hatte.

In Combray wurde jeden Tag bereits am späten Nachmittag, lange bevor jener Augenblick kam, in dem ich würde zu Bett gehen und fern von meiner Mutter und meiner Großmutter daliegen müssen, ohne zu schlafen, mein Schlafzimmer von neuem zum schmerzlichen Angelpunkt meiner bangen Erwartungen. Um mich an den Abenden, an denen man meine Miene allzu unglücklich fand, zu zerstreuen, war man auf den guten Gedanken verfallen, mir eine Laterna magica zu schenken, die meiner Nachttischlampe aufgesteckt wurde, während wir auf die Abendbrotzeit warteten; und sie ersetzte, ganz nach dem Vorbild der vorzüglichsten Architekten und der Meister der Glasmalerei zu Zeiten der Gotik, die Undurchdringlichkeit der Wände durch ein unfassbares Schillern, durch übernatürliche vielfarbige Erscheinungen, in denen Legenden abgebildet waren wie in einem schwankenden, vergänglichen Kirchenfenster. Doch meine Traurigkeit wurde dadurch nur größer, denn allein die Veränderung der Beleuchtung zerstörte [18] jene Vertrautheit mit meinem Zimmer, durch die es mir, von der Qual des Schlafengehens abgesehen, erträglich geworden war. Nun aber erkannte ich es nicht wieder und war darin so unruhig wie in dem Zimmer eines Hotels oder eines Ferienhauses, in dem ich mich nach einer Fahrt mit der Eisenbahn zum ersten Mal aufhielt.

Von seinem Pferd im Holperschritt getragen, kam Golo voll übler Ränke aus dem kleinen dreieckigen Wald hervor, der mit schwermütigem Grün den Hang eines Hügels samten umschmiegte, und näherte sich ruckelnd dem Schloss der armen Genoveva von Brabant. Dieses Schloss war entlang einer gekrümmten Linie abgeschnitten, bei der es sich lediglich um den Rand eines der Glasovale handelte, die in die Rähmchen eingelassen waren, die man ihrerseits in die Führungsrinnen der Laterne einschob. Es war auch bloß ein Mauerstück von einem Schloss, und vor ihm lag eine offene Steppe, auf der eine blau gegürtete Genoveva* träumte. Schloss und Steppe waren gelb, und ich hatte nicht erst ihren Anblick abwarten müssen, um ihre Farben zu erkennen, denn noch vor dem Glas der Bildrähmchen hatte sie mir der goldkäferbraune Klang des Namens »Brabant*« in größter Deutlichkeit gezeigt. Golo hielt einen Augenblick inne, um bekümmert den Märchengeschichten zu lauschen, die meine Großtante vorlas und die er einwandfrei zu verstehen schien, denn er passte sich dabei in seiner Haltung mit einer Fügsamkeit, die dennoch eine gewisse Hoheit nicht ausschloss, den Angaben des Textes an; dann entfernte er sich wieder im gleichen Holperschritt. Und nichts vermochte seinen schleppenden Ritt aufzuhalten. Rückte jemand die Laterne weg, so konnte ich das Pferd Golos noch erkennen, wie es sich auf den Fenstervorhängen weiterbewegte, sich in ihren Wölbungen blähte, in ihre Senken niederstieg. Golos eigener Leib, von ebenso übernatürlicher Substanz wie der seines Rosses, bewältigte jegliches materielle Hindernis, jeden störenden Gegenstand, dem er [19] begegnete, indem er ihn wie ein Knochengerüst ergriff und in sich aufnahm, sogar auch den Türknauf, dem sich sein rotes Gewand oder sein bleiches, doch immer auch edles und melancholisches Gesicht anformte und über den es unbeirrbar hinwegschwamm, ohne irgendeine Betrübnis ob dieser Durchwirbelung* zu erkennen zu geben.

Gewiss, ich fand durchaus Gefallen an diesen glitzernden Gaukeleien, die sich aus einer merowingischen Vergangenheit herauszuschälen schienen und den Abglanz solch uralter Geschichte um mich herumspazieren ließen. Aber ich kann gar nicht sagen, welchen Kummer mir dieser Einbruch in das Geheimnis und die Schönheit einer Kammer bereitete, die ich schließlich doch so sehr mit meinem eigenen Ich ausgestattet hatte, dass ich ihr keine größere Aufmerksamkeit mehr schenkte als diesem selbst. Da die betäubende Wirkung der Gewohnheit nunmehr verflogen war, begann ich zu denken und zu fühlen, beides traurige Angelegenheiten. Dieser Türknauf meines Zimmers, der sich für mich von allen Türknäufen der Welt darin unterschied, dass er sich von ganz allein zu öffnen schien, ohne dass ich ihn hätte drehen müssen, derart unbewusst war mir seine Handhabung geworden, er also diente Golo nunmehr als Astralleib. Und sobald man zum Abendessen läutete, beeilte ich mich, ins Esszimmer zu rennen, in dem die aufgedunsene Hängelampe, die von Golo und von Blaubart nichts ahnte, dafür jedoch vertraut mit meinen Eltern und dem Rinderschmorbraten war, ihr allabendliches Licht verströmte, und mich in die Arme von Maman zu werfen, die mir durch die Leiden der Genoveva von Brabant noch teurer geworden war, während mich die Übeltaten des Golo veranlassten, mein eigenes Gewissen mit größerer Sorgfalt zu prüfen.

Ach, nach dem Abendessen musste ich schon bald Maman verlassen, die zurückblieb, um mit den anderen zu plaudern, [20] entweder im Garten, falls das Wetter schön war, oder im kleinen Salon, in den sich alle zurückzogen, wenn das Wetter schlecht war. Alle, bis auf meine Großmutter, die es »jammerschade« fand, »auf dem Lande drinnen eingesperrt zu sein«, und die endlose Auseinandersetzungen mit meinem Vater hatte, weil dieser mich an verregneten Tagen zum Lesen in mein Zimmer schickte statt draußen zu bleiben*. »So werden Sie ihn gewiss nicht widerstandsfähig und entschlossen machen«, sagte sie dann bekümmert, »dabei hat gerade dieser Kleine es so bitter nötig, seine Kräfte und seinen Willen zu stärken.« Mein Vater zuckte die Achseln und las das Barometer ab, denn er hatte eine Schwäche für Meteorologie, während meine Mutter ihn, alle Geräusche vermeidend, um ihn nur nicht zu stören, mit gerührter Bewunderung anblickte, dies jedoch nicht allzu unverwandt, um nicht zu versuchen, in das Geheimnis seiner Überlegenheit einzudringen. Meine Großmutter dagegen sah man bei jedem Wetter, selbst wenn der Regen tobte und Françoise Hals über Kopf hinausstürzte, um die kostbaren Rohrmöbel hereinzuholen aus Angst, sie könnten nass werden, im leeren, von Regenströmen durchpeitschten Garten ihre in Unordnung geratenen grauen Haarsträhnen zurückstreichen, damit ihre Stirn noch besser die wohltuende Wirkung des Windes und des Regens in sich aufsaugen konnte. Sie sagte: »Endlich kann man atmen!« und durchwandelte die aufgeweichten Gartenwege – welche übrigens nach ihrer Meinung von dem neuen Gärtner, der bar jeglichen Gefühls für die Natur war und den mein Vater schon seit dem frühen Morgen befragt hatte, ob sich das Wetter bessern werde, viel zu symmetrisch angelegt worden waren – mit ihrem kurzen, verzückten Holperschritt, weit eher gelenkt von den vielfältigen Bewegungen, die der Freudenrausch des Unwetters, die Wirkung gesunder Lebensführung, die Dummheit meiner Erziehung und die Symmetrie der Gartenwege in ihrer Seele erregten, denn von [21] dem ihr fernliegenden Wunsch, ihrem pflaumenfarbenen Rock die Schlammspritzer zu ersparen, unter denen er schließlich bis zu einer Höhe verschwinden würde, die ihrer Kammerzofe immer wieder ein Entsetzen und eine Herausforderung war.

Fanden diese Gartenwanderungen meiner Großmutter nach dem Abendessen statt, dann gab es immerhin etwas, was sie ins Haus zurückzuholen vermochte: und das war, wenn bei einer der Gelegenheiten, wo die Umläufe ihres Spaziergangs sie in gleichmäßiger Wiederkehr wie ein Insekt an die Lichter des Salons heranführten, in dem schon die Getränke auf dem Spieltisch serviert worden waren, meine Großtante ihr zurief: »Bathilde! so komm doch und pass auf, dass dein Mann keinen Cognac trinkt!« Um sie (die in die Familie meines Vaters einen so anderen Geist eingebracht hatte, dass alle sich über sie lustig machten und sie quälten) zu necken, brachte nämlich meine Großtante meinen Großvater dazu, obwohl ihm Alkohol verboten war, ein paar Tropfen zu trinken. Meine arme Großmutter kam herein, beschwor ihren Mann, den Cognac zu lassen; der regte sich auf, trank nun gerade sein Teil, und meine Großmutter zog sich traurig, entmutigt, dennoch lächelnd wieder zurück, denn sie war so demütigen Herzens und so sanftmütig, dass ihr Zartgefühl für andere und ihre Geringschätzung der eigenen Person und der eigenen Leiden sich in ihrem Blick zu einem Lächeln zusammenfanden, das, im Gegensatz zu dem, welches man in den Gesichtern der meisten Menschen sieht, nur Ironie sich selbst gegenüber enthielt und für uns alle war wie ein Kuss mit den Augen, die auf ihren Lieben nicht ruhen konnten, ohne sie hingebungsvoll mit Blicken zu liebkosen. Diese Pein, die meine Großtante ihr zufügte, der Anblick des vergeblichen Bittens meiner Großmutter und ihrer Schwachheit, von vornherein unterlegen in dem nutzlosen Bemühen, meinem Großvater das Schnapsglas zu entwinden, das waren so die Dinge, an die man sich [22] später bis zu lächelnder Betrachtung gewöhnt, bis zu hinreichend entschiedener und vergnügter Parteinahme für den Verfolger, um sich einreden zu können, dass es sich gar nicht um Verfolgung handle; damals jedoch verursachten sie mir einen solchen Abscheu, dass ich am liebsten meine Großtante verprügelt hätte. Jedoch, sobald ich hörte »Bathilde!, so komm doch und pass auf, dass dein Mann keinen Cognac trinkt!«, tat ich, an Feigheit schon ein Mann, was wir alle tun, wenn wir einmal groß sind und Leiden und Ungerechtigkeiten vor unseren Augen stehen: ich weigerte mich, sie zu sehen; ich ging, um zu weinen, ganz nach oben ins Haus und unter dem Dach in eine kleine Kammer neben dem Studierzimmer, in der es nach Iris* roch und die zudem von einem wilden Johannisbeerstrauch durchduftet wurde, der draußen zwischen den Mauersteinen spross und einen Blütenzweig durch das halboffene Fenster trieb. Für einen spezielleren und gewöhnlicheren Gebrauch vorgesehen, diente diese Kammer, aus der man am Tag bis zum Wehrturm von Roussainville-le-Pin* blicken konnte, lange Zeit, wohl weil sie die einzige war, die zu verschließen mir gestattet war, als Zufluchtsstätte für mich und alle jene meiner Beschäftigungen, die unverletzliche Einsamkeit erforderten: Lektüre und Träumerei, Tränen und Wollust*. Ach!, ich hatte ja keine Ahnung, dass, viel schmerzlicher noch als die kleinen Ordnungsverstöße ihres Ehemanns, meine Willensschwäche, meine empfindliche Gesundheit, die Ungewissheit, die diese über meine zukünftige Laufbahn warfen, meine Großmutter während dieser unaufhörlichen Wanderfluchten am Nachmittag und am Abend beschäftigten, wenn man wieder und wieder im Vorbeigehen ihr schönes Angesicht, schräg zum Himmel erhoben, mit den bräunlich gefurchten Wangen erblicken konnte, die im Laufe des Alterns fast malvenfarbig geworden waren wie gepflügte Äcker im Herbst, die sie, wenn sie ausging, mit einem halb zurückgeschlagenen Schleier [23] verdeckte, und auf denen, hervorgerufen von der Kälte oder irgendeinem traurigen Gedanken, stets eine unbewusste Träne im Trocknen begriffen war*.

Wenn ich hinaufging, um mich schlafen zu legen, so war mein einziger Trost, dass Maman, wenn ich im Bett läge, kommen würde, um mir einen Gutenachtkuss zu bringen. Doch dieses Gutenachtsagen währte so kurz, sie ging schon so bald wieder hinunter, dass der Augenblick, in dem ich hörte, wie sie heraufkam, dann, wie das leichte Rauschen ihres Gartenkleides aus blauem Musselin, an dem kleine Quasten aus geflochtenem Stroh baumelten, den Flur mit der Doppeltür entlangwanderte, für mich ein schmerzvoller Augenblick war. Er kündigte jenen an, der ihm folgen musste, jenen, in dem sie mich verlassen haben, in dem sie wieder hinuntergegangen sein würde. Das ging so weit, dass ich schließlich wünschte, dieses von mir allzu geliebte Gutenachtsagen möge so spät wie möglich stattfinden, damit sich die Gnadenfrist, in der Maman noch nicht erschienen war, verlängern würde. Manchmal, wenn sie, nachdem sie mich geküsst hatte, die Tür öffnete, um davonzugehen, wollte ich sie zurückrufen, sie bitten: »Gib mir noch einen Gutenachtkuss«, aber ich wusste, dass sie sogleich ihr verstimmtes Gesicht aufsetzen würde, denn das Zugeständnis, das sie meinem Kummer und meiner Erregung machte, indem sie heraufkam, mich in den Arm zu nehmen, mir diesen Friedenskuss zu bringen, ärgerte meinen Vater, der dieses Ritual lächerlich fand, und eher hätte sie getrachtet, mir diese Gewohnheit auszutreiben, als mich diejenige annehmen zu lassen, sie um einen weiteren Kuss anzubetteln, während sie schon auf der Türschwelle stand. Doch sie verstimmt zu sehen machte all die Besänftigung wieder zunichte, die sie mir gerade gebracht hatte, als sie ihr liebevolles Antlitz über mein Bett beugte und es mir darreichte wie die Hostie nach dem Friedensgruß bei der Kommunion, während meine [24] Lippen aus ihrer leiblichen Anwesenheit* die Kraft zum Einschlafen schöpften. Aber jene Abende, an denen Maman insgesamt nur so kurze Zeit in meinem Zimmer verweilte, waren immer noch köstlich im Vergleich zu jenen, an denen Besuch zum Abendessen da war und an denen sie, eben deshalb, nicht heraufkam, mir gute Nacht zu sagen. Der Besuch bestand für gewöhnlich aus Monsieur Swann, der, abgesehen von einigen durchreisenden Fremden, so ziemlich der einzige Mensch war, der uns in Combray überhaupt besuchte, manchmal zu einem nachbarlichen Abendessen (dies seltener, seit er eine unstandesgemäße Ehe eingegangen war, denn meine Eltern wollten seine Frau nicht empfangen), manchmal unerwartet nach dem Essen. An den Abenden, an denen wir, vor dem Haus unter der großen Kastanie um den Eisentisch sitzend, am anderen Ende des Gartens nicht etwa das übereifrige und marktschreierische Geschelle hörten, das sich erhob und mit seinem metallischen, schier nicht versiegenden, gleichsam eingefrorenen Lärm jeden im Haus betäubte, der es beim Eintreten »ohne zu läuten« in Gang setzte, sondern vielmehr das schüchterne, ovale* und goldene, doppelte Anschlagen des Glöckchens für Fremde, so fragte sich jedermann sogleich: »Ein Besuch, wer kann das nur sein?«, wusste dabei jedoch nur allzu gut, dass dieses niemand anders sein konnte als Monsieur Swann*; meine Großtante ermahnte uns, dass wir nicht flüstern sollten, wobei sie, um ein gutes Beispiel zu geben, mit sehr lauter Stimme und in einem bemüht natürlichen Ton sprach; dass es gegenüber einer hinzukommenden Person nichts Unhöflicheres gebe, als sie in dieser Weise zu der Annahme zu veranlassen, man sei dabei, Dinge zu sagen, die sie nicht hören dürfe; und man schickte meine Großmutter als Spähtrupp vor, die stets über jeden Vorwand, eine zusätzliche Runde durch den Garten drehen zu können, glücklich war und die Gelegenheit nutzte, verstohlen im Vorbeigehen einige Rosenstützen herauszuziehen, um [25] den Rosen ein wenig Natürlichkeit zu belassen, wie eine Mutter, die ihrem Sohn durch die Haare fährt, um sie aufzulockern, nachdem der Friseur sie zu sehr geglättet hat.

Wir warteten alle gespannt auf die Informationen, die meine Großmutter uns in Kürze über den Feind bringen würde, als hätten wir unter einer großen Zahl möglicher Angreifer auswählen können, und über kurz oder lang sagte mein Großvater: »Ich erkenne Swanns Stimme.« Man erkannte ihn in der Tat nur an der Stimme, sein Gesicht mit der Adlernase, den grünen Augen unter einer hohen, von blonden, fast roten – nach der Art Bressants* gekämmten – Haaren eingerahmten Stirn war kaum zu erkennen, denn wir machten im Garten so wenig Licht wie möglich, um nicht die Mücken anzulocken, und ich ging unauffällig Bescheid sagen, dass man Fruchtsaft servieren solle; meine Großmutter legte größten Wert darauf, weil sie es liebenswürdiger fand, wenn nicht der Eindruck von etwas Ungewöhnlichem entstand, von etwas, das ausschließlich dem Besuch galt.