Aber jetzt werden wir gleich Madame
Sazerat sehen können, wie sie bei ihrer Schwester klingelt, um
sie zum Essen zu besuchen. Doch, das wird’s sein. Ich habe ja
den Kleinen der Galopins mit einer Torte vorbeigehen sehen! Sie
sollten nachsehen, ob die Torte nicht zu Madame Goupil geliefert
worden ist.« – »Wenn Madame Goupil wirklich
Besuch hat, Madame Octave, werden Sie nicht lange warten
müssen, um zu sehen, wie alle Welt zum Essen erscheint; es ist
nämlich schon recht spät geworden«, sagte
Françoise, die es eilig hatte, wieder hinunterzugehen und
sich um das Essen zu kümmern, und die froh war, meine Tante
dieser in Aussicht stehenden Abwechslung überlassen zu
können. – »Oh!, nicht vor Mittag«,
antwortete meine Tante in entsagungsvollem Ton, wobei sie einen
besorgten Blick auf die Standuhr warf, jedoch verstohlen, um nicht
zu erkennen zu geben, dass es ihr, die allem entsagt hatte, ein
durchaus lebhaftes Vergnügen bereitete, auf das sie
bedauerlicherweise noch mehr als eine Stunde würde warten
müssen, zu erfahren, wen Madame Goupil zum Essen dahatte.
– »Und das wird sich ausgerechnet während meiner
eigenen Mahlzeit ereignen!« fügte sie halblaut zu sich
selbst hinzu. Ihre eigene Mahlzeit war ihr eine so hinreichende
Abwechslung, dass sie eine weitere zur gleichen Zeit nicht
begrüßenswert fand. – »Sie werden doch
zumindest nicht vergessen, mir meine Œufs à la
Crème* auf einem der flachen Teller
anzurichten?« Diese waren die einzigen, die mit Bildern
dekoriert waren, und meine Tante vergnügte sich bei jeder
Mahlzeit damit, die Erklärung auf jenem zu lesen, den man ihr
an diesem Tag gebracht hatte. Sie setzte dann ihre Brille auf,
entzifferte: »Ali Baba und die vierzig Räuber«,
»Aladdin und die Wunderlampe«, und sagte dazu
lächelnd: »Sehr schön, sehr schön.«
– »Ich wäre gern zu Camus gegangen
…«, sagte Françoise, als sie sah, dass
meine [84] Tante sie nicht mehr hinschicken würde.
– »Aber nein, das wäre zu viel der Mühe, ganz
gewiss ist es Mademoiselle Pupin. Meine gute Françoise, es
tut mir leid, dass ich Sie für nichts und wieder nichts habe
heraufkommen lassen.«
Meine Tante
wusste jedoch genau, dass sie keineswegs für nichts und wieder
nichts nach Françoise geläutet hatte, denn in Combray
war eine Person, die man »so ganz und gar nicht
kannte«, ein ebenso unglaubliches Wesen wie ein Gott der
Mythologie, und tatsächlich konnte man sich nicht erinnern,
dass schon einmal, wenn eine solche verblüffende Erscheinung
auf der Rue du Saint-Esprit oder dem Marktplatz gesichtet worden
war, sorgfältige Recherchen nicht diese fabelhafte Gestalt auf
»einen, den man kannte«, zurückgeführt
hätten, sei es, dass man ihn persönlich kannte, sei es
nur in Abstraktion, nämlich durch seinen Zivilstand und den
Grad seiner Verwandtschaft mit den Leuten von Combray. Das war mal
der Sohn von Madame Sauton, der vom Militärdienst zurückkam, mal die Nichte
des Abbé Perdreau*, die das Kloster
verließ, oder der Bruder des Pfarrers, ein Steuerbeamter aus
Châteaudun*, der hergekommen war, um sich
hier zur Ruhe zu setzen oder nur die Feiertage hier zu verbringen.
Bei ihrem ersten Anblick hatte man einfach nur geglaubt, dass es in
Combray Leute gebe, die man so ganz und gar nicht kannte, weil man
sie nicht erkannt hatte oder nicht sofort identifizieren konnte.
Dabei hatten Madame Sauton und der Pfarrer schon lange im voraus
angekündigt, dass sie ihre »Reisenden« erwarteten.
An einem Abend, als ich nach der Heimkehr hinaufging, um meiner
Tante von unserem Spaziergang zu erzählen, besaß ich die
Unvorsichtigkeit, zu ihr zu sagen, dass wir nahe der Alten
Brücke einen Mann gesehen hätten, den mein Großvater nicht
kannte: »Ein Mann, den Großvater so ganz und gar nicht
kannte. Ha! Und das soll ich dir glauben!« Von dieser
Nachricht dennoch beunruhigt, wollte sie die Sache vom Herzen
haben, [85] und mein Großvater wurde herbeizitiert.
»Wer war das denn, den ihr bei der Alten Brücke
getroffen habt, werter Onkel?, ein Mann, den ihr so ganz und gar
nicht kennt?« – »Aber nicht doch«,
erwiderte mein Großvater, »das war Prosper, der Bruder
des Gärtners von Madame Bouillebœuf.« –
»Ah! gut«, sagte meine Tante, beruhigt und ein wenig
errötet; und indem sie die Schultern mit einem ironischen
Lächeln hochzog, fügte sie hinzu: »Es ist nur, dass
er mir gesagt hat, ihr hättet einen Mann getroffen, den ihr so
ganz und gar nicht kanntet!« Und man empfahl mir, in Zukunft
etwas vorsichtiger zu sein und meine Tante nicht mit unbedachten
Äußerungen in Aufregung zu versetzen. Man kannte in
Combray alle Welt so gut, Tier und Mensch, dass meine Tante, als
sie einmal zufällig einen Hund vorbeilaufen sah, den sie
»so ganz und gar nicht kannte«, nicht aufhören
konnte, darüber nachzudenken und auf diese ganz unbegreifliche
Tatsache ihre logischen Fähigkeiten und ihre
müßigen Stunden zu verwenden.
»Das
wird der Hund von Madame Sazerat sein«, sagte
Françoise, ohne große Überzeugung, in einem
Versuch der Beruhigung und damit meine Tante sich »nicht den
Kopf zerbrechen« würde. – »Als ob ich nicht
den Hund von Madame Sazerat kennen würde!« antwortete
meine Tante mit jenem kritischen Geist, der nicht so schnell eine
Tatsache zugeben wird. – »Ah!, dann wird es der neue
Hund sein, den Monsieur Galopin aus Lisieux* mitgebracht
hat.« – »Ah!, das wäre denkbar.«
– »Es scheint ein sehr netter Hund zu sein«,
fügte Françoise hinzu, die damit eine Empfehlung von
Théodore wiedergab, »klug wie ein Mensch, immer guter
Laune, immer freundlich, immer auch etwas ganz Liebreizendes. Das
kommt selten vor, dass ein Tier in dem Alter schon so manierlich
ist. Madame Octave, ich muss Sie jetzt verlassen, ich habe nicht
mehr die Zeit, mich zu unterhalten, es ist schon fast zehn, mein
Backofen ist noch nicht einmal angezündet, und ich muss auch
noch den Spargel [86]
schälen.« –
»Was, Françoise, schon wieder Spargel! Sie haben ja
dieses Jahr die reinste Spargel-Manie, unsere Pariser werden den
bald über haben!« – »Aber nein, Madame
Octave, sie mögen ihn gern. Wenn sie hungrig aus der Kirche
zurückkommen, werden Sie schon sehen, dass sie ihn nicht mit
langen Zähnen essen.« – »Aus der Kirche
… aber sie müssen ja schon dort sein!; Sie tun besser
daran, keine Zeit mehr zu verlieren. Gehen Sie, machen Sie Ihr
Essen fertig.«
Während
meine Tante sich so mit Françoise besprach, begleitete ich
meine Eltern zur Messe. Wie ich sie liebte, wie gut ich sie
wiedererkenne, unsere Kirche*! Das alte pockennarbige
Portal, durch das wir eintraten, war an den Vorsprüngen
eingebuchtet und gründlich abgewetzt (wie auch das
Weihwasserbecken, zu dem es uns hinleitete), als ob die
flüchtigen
Berührungen der Umhänge der Bäuerinnen, die in die
Kirche eintraten, und ihre schüchternen Finger, die vom
geweihten Wasser nahmen, durch die Wiederholung über
Jahrhunderte eine zerstörerische Kraft gewinnen konnten, die
Steine krümmt und Furchen in sie eingräbt, ähnlich
den Spuren der Bauernwagenräder im Prellstein, an den sie
täglich stoßen. Auch die Grabplatten über dem
edlen Staub der Äbte von Combray, die dort begraben lagen, im
Chor verlegt wie ein durchgeistigtes Pflaster, waren nicht mehr
unbewegliche und starre Materie, denn die Zeit hatte sie mürbe
gemacht und die
Ränder ihrer vierkantigen Umrisse wie Honig zerfließen
lassen und mit einer hellen Woge überströmt, die im
Zurückfluten hier eine blumengeschmückte gotische
Majuskel mit sich gerissen, dort die weißen Veilchen des
Marmors ertränkt hatte; an anderen Stellen hatte sie die
Vorderseiten in sich aufgesogen und die ohnehin schon
auslassungsreichen lateinischen Inschriften noch weiter verdichtet,
womit sie ein launenhaftes Element in die Anordnung der
verkürzten Lettern brachte, zuweilen zwei Buchstaben eines
Wortes [87] zusammen-, dann wieder andere unangemessen weit
auseinanderrückte*. Ihre Kirchenfenster glitzerten niemals so sehr wie an
Tagen, an denen sich die Sonne nur wenig zeigte, so dass man, wenn
es draußen grau war, sicher sein konnte, dass in der Kirche
schönes Wetter sein würde; eines der Fenster war in
seiner ganzen Höhe mit einer einzigen Person ausgefüllt,
die einem Spielkartenkönig glich* und dort oben unter dem
Baldachin der Fensterlaibung lebte, zwischen Himmel und Erde (und
in dessen schräg niederfallendem blauen Widerschein man
manchmal an Wochentagen gegen Mittag, wenn kein Gottesdienst
stattfand – in einem der seltenen Augenblicke, in denen die
Kirche, luftig, leer, menschlicher, prachtvoll, mit der Sonne auf
ihrer üppigen Ausstattung, einen geradezu wohnlichen Eindruck
machte, wie der mit Steinornamenten und bemaltem Glas
geschmückte Saal eines mittelalterlichen Gasthofs –,
Madame Sazerat kurz niederknien sehen konnte, nachdem sie auf dem
benachbarten Gebetsschemel ein sorgsam verschnürtes
Päckchen mit »Petits Fours« aus der Konditorei
gegenüber abgelegt hatte, die sie zum Mittagessen mit nach
Hause nehmen wollte); in einem anderen schien ein von rosigem
Schnee bedeckter Berg, an dessen Fuß eine Schlacht stattfand,
am Glas selbst festgefroren zu sein, das er mit seinen trüben
Graupeln blasig überzog wie eine Scheibe, an der Flocken
hängengeblieben sind, Flocken jedoch, die von irgendeiner
Aurora erleuchtet sind (zweifellos von der gleichen, die den
Altarstock mit so lebhaften Tönen von Purpur färbte, dass
sie dort eher von einem Licht von draußen, das schon bereit
ist, sich wieder davonzumachen, flüchtig hervorgebracht zu
sein schienen, als von den für alle Ewigkeit auf den Stein
gemalten Farben); und alle stammten aus einer so fernen
Vergangenheit, dass man hier und da ihr silbergraues Alter aus der
Asche der Jahrhunderte glimmen und, blank und abgenutzt bis auf das
Gewebe, den Kettfaden ihrer zarten gläsernen Wandteppiche
hervortreten sah. Eines von ihnen [88] bestand
aus einem hohen Fächerwerk, das in eine Unzahl kleiner,
rechteckiger, vorwiegend blauer Scheiben aufgeteilt war und einem
der großen Kartenspiele glich, die König
Karl VI.
zerstreuen sollten; doch ob nun ein Lichtstrahl es
erleuchtet hatte oder ob mein
schweifender Blick über das abwechselnd erloschene und
wiederentzündete Glasfeld eine bewegliche, köstliche
Feuersbrunst hatte
hinwegziehen lassen, einen Augenblick später jedenfalls hatte
es schon den
changierenden Glanz einer Pfauenschleppe angenommen, dann wieder
bebte und wogte es in einem unwirklichen Feuerregen, der sich aus
der Höhe des düsteren, felsigen Gewölbes entlang der
feuchten Wände ergoss, als befände man sich im Schiff
einer von schlangenhaften Stalaktiten in allen Regenbogenfarben
ausgekleideten Grotte, durch die ich meinen Eltern folgte, die ihr
Gebetbuch trugen; wieder einen Augenblick später hatten die
kleinen Rautenscheiben die unergründliche Transparenz, die
unnachgiebige Härte von Saphiren angenommen, die dicht an
dicht auf einem riesigen Brustschild angeordnet sind, hinter denen
man jedoch, kostbarer als all diese Reichtümer, ein
flüchtiges
Lächeln der Sonne erahnte*; ein Lächeln, das ebenso
erkennbar war in den zartblauen Fluten, in denen sie die Edelsteine
badete, wie auf dem Pflaster des Platzes oder dem Stroh auf dem
Markt; und an den ersten Sonntagen nach unserer Ankunft vor Ostern
tröstete es mich darüber hinweg, dass die Erde noch nackt
und schwarz dalag, indem es, wie einen vergangenen Frühling
aus der Zeit der Nachfolge des heiligen Ludwig, diesen blendenden,
vergoldeten Teppich aus gläsernen Vergissmeinnicht
erblühen ließ.
In zwei
hochschäftigen Wandteppichen, die die Krönung
Esthers darstellten (der
Überlieferung zufolge hatte man Ahasverus* die Züge eines
Königs von Frankreich verliehen und Esther die Züge einer
Dame aus dem Hause Guermantes*, in die er verliebt war),
hatten die Farben durch ihr Verblassen den Ausdruck, die
Tiefe [89] und das Leuchten noch verstärkt: ein Anflug
von Rosa schwebte von den Lippen Esthers noch über ihren
Umriss hinaus; das Gelb ihres Kleides breitete sich so sämig,
so reichlich aus, dass es eine Art von Festigkeit annahm und sich
kräftig von der zurückgedrängten Umgebung abhob; und
das Blattwerk der Bäume war zwar noch lebhaft in den unteren
Teilen des Netzwerks aus Wolle und Seide, in den oberen Teilen
aber »verschossen« und
ließ oberhalb der abgedunkelten Stämme in einem
bleicheren Ton die ergilbten Wipfel hervortreten, vergoldet und
zugleich halb ausgelöscht durch den ungestümen,
schrägen Lichteinfall einer unsichtbaren Sonne. Dies alles,
und mehr noch die kostbaren Gegenstände, die in den Besitz der
Kirche aus der Hand von Personen, für mich schon fast
legendären Persönlichkeiten, gelangt waren (das goldene
Kreuz, von dem man sich erzählte, dass es der heilige
Eligius selbst gefertigt und dass
Dagobert* es gestiftet habe*, das Grab der Söhne
Ludwigs des Deutschen*, aus Porphyr und emailliertem Kupfer), weshalb
ich mich auch durch die Kirche, wenn wir zu unseren Plätzen
gingen, wie durch ein von Feen bevölkertes Tal bewegte, in dem
die Bauern voller Staunen in einem Fels, einem Baum, einem Moor die
greifbare Spur ihres übernatürlichen Vorüberflugs
sehen, all dieses machte sie zu etwas ganz anderem als die
übrige Stadt: zu einem Bau, der sozusagen einen
vierdimensionalen Raum einnahm – mit der Zeit als vierter
Dimension –, indem er quer durch die Jahrhunderte mit seinem
Schiff segelte, das von Joch zu Joch, von Kapelle zu Kapelle nicht
nur einige Meter zu bezwingen und zu überwinden schien,
sondern ganze aufeinanderfolgende Epochen, aus denen er siegreich
hervorging; indem er das strenge und grausame 11. Jahrhundert
hinter der Dicke seiner Mauern den Blicken entzog, aus denen es mit
seinen massiv gefügten und mit groben Bruchsteinen
verblendeten Gewölben nur durch die tiefe Wunde hervortrat,
die nahe dem Vorplatz die Treppe des Glockenturms
[90] aufriss, und selbst dort nur verkleidet mit den anmutigen
gotischen Bogengängen, die sich gefallsüchtig
davordrängten, so wie sich größere Schwestern
lächelnd vor einen flegelhaften, übellaunigen, schlecht
angezogenen jüngeren Bruder stellen, um ihn vor Fremden zu
verbergen; indem er in den Himmel über dem Kirchplatz seinen
Turm reckte, der schon über den heiligen Ludwig nachgesonnen
hatte und ihn immer noch zu sehen schien; indem er mit seiner
Krypta in eine merowingische Nacht einsank, in der Théodore
und seine Schwester uns tastend durch das dunkle und wie die
Membran einer riesigen steinernen Fledermaus machtvoll gerippte
Gewölbe führten und mit einer Kerze das Grab der kleinen
Tochter Sigeberts* für uns beleuchteten, in
das eine tiefe muschelförmige Schale – gleich dem
Fußstapfen eines Fossils – hineingetrieben worden war,
von, wie erzählt wurde, »einem Kristallleuchter,
der sich am Abend der Ermordung der fränkischen Prinzessin von
allein von seinen goldenen Ketten, an denen er am Ort der heutigen
Apsis aufgehängt war, gelöst hatte und, ohne dass das
Kristall zerbrochen, ohne dass die Flamme erloschen wäre, in
den Stein einsank, der weich unter ihm nachgab*«.
Die Apsis der
Kirche von Combray, kann man darüber wirklich etwas sagen? Sie
war so plump, so bar aller künstlerischen Schönheit, ja
sogar der religiösen Inbrunst. Da die Straßenkreuzung,
zu der sie hinausging, tiefer lag, erhob sich von außen
gesehen ihre plumpe Mauer aus einem Fundament unbehauener
Feldsteine und starrender Kiesel, nichts eigentlich Kirchenhaftes
war an ihr, die Glasfenster schienen in einer unvernünftigen
Höhe angebracht, und das Ganze wirkte eher wie die Mauer eines
Gefängnisses als die einer Kirche. Ganz sicher wäre es
mir später, wenn ich mich an all die großartigen Apsiden
erinnerte, die ich zu sehen bekommen hatte, nie in den Sinn
gekommen, die Apsis von Combray mit ihnen zu vergleichen. Nur
einmal bemerkte ich in der Biegung einer [91] kleinen
Provinzstraße, gegenüber der Kreuzung dreier
Gässchen, eine verwitterte, auffällig hohe Mauer, mit den
hoch eingelassenen Fenstern und derselben asymmetrischen Ansicht
wie die der Apsis von Combray. Nun, ich habe hier nicht, wie in
Chartres oder in Reims, darüber nachgegrübelt, mit
welcher Kraft darin das religiöse Empfinden zum Ausdruck
gebracht worden war, sondern nur unwillkürlich ausgerufen:
»Die Kirche!«
Die Kirche!
Diese Wohlvertraute; Vermittlerin, an der Rue Saint-Hilaire, wo
sich ihr Nordportal befand, zwischen ihren beiden Nachbarn, der
Apotheke von Monsieur Rapin und dem Haus von Madame Loiseau, an die
sie ohne den geringsten Zwischenraum anstieß; schlichte
Bürgerin von Combray, die ihre Hausnummer hätte haben
können, wenn denn die Straßen von Combray Hausnummern
gehabt hätten, und die aussah, als ob der Briefträger,
wenn er morgens seine Post austeilte, auch bei ihr hätte
halten können, bevor er zu Madame Loiseau hineinging und
nachdem er bei Monsieur Rapin herausgekommen war; dennoch gab es
zwischen ihr und allem, was nicht sie war, eine Trennlinie, die
mein Geist niemals zu überschreiten vermocht hatte. Madame
Loiseau mochte getrost Fuchsien in ihrem Fenster haben, die die
schlechte Gewohnheit angenommen hatten, ihre Zweige alleweil
blindlings überallhin treiben zu lassen, und deren
Blüten, wenn sie erst groß genug waren, nichts Eiligeres
zu tun hatten, als ihre blaurot angelaufenen Wangen zu erfrischen
und sich gegen die schattige Fassade der Kirche zu drängen,
doch dadurch bekamen die Fuchsien noch keinen sakralen Charakter
für mich; zwischen den Blumen und dem schwarz gewordenen
Stein, gegen den sie sich lehnten, behielt sich mein Geist, auch
wenn meine Augen keinen Zwischenraum erkennen konnten, einen
Abgrund vor.
Man konnte den
Glockenturm von Saint-Hilaire* schon aus weiter Ferne
erkennen, wie er seine unvergessliche Gestalt in den
[92] Horizont einschrieb, an dem Combray noch nicht erschienen
war; wenn mein Vater von dem Zug aus, den wir in der Woche vor
Ostern in Paris bestiegen hatten, ihn sah, wie er hin und her durch
alle Gefilde des Himmels pflügte und seinen kleinen eisernen Wetterhahn in alle
Richtungen eilen ließ, so sagte er zu uns: »Also dann,
nehmt die Decken, wir sind da.« Und bei einem der
längsten Spaziergänge, die wir von Combray aus
unternahmen, gab es eine Stelle, an der sich der enge Weg
plötzlich auf eine weit ausgedehnte Ebene öffnete, die am
Horizont von ausgefransten Waldstücken begrenzt und einzig von
der feinen Spitze des Kirchturms von Saint-Hilaire überragt
wurde, die jedoch so schmal, so rosig war, dass sie lediglich von
einem Fingernagel in den Himmel geritzt zu sein schien, der dieser
Landschaft, diesem Gemälde der reinen Natur, einen kleinen
Stempel der Kunst, ein singuläres Merkmal des Menschlichen
aufprägen wollte. Wenn man näher kam und den Rest des
halbzerstörten viereckigen Turms wahrnehmen konnte, der,
wesentlich kleiner, neben ihm noch bestand, war man vor allem
überrascht von dem rötlich-düsteren Ton der Steine;
und an einem nebligen Herbstmorgen hätte man gemeint, dass
sich aus dem gewittrigen Violett der Weinberge eine purpurne Ruine
fast von der Farbe des Wilden Weins erhebe.
Manchmal
hieß mich meine Großmutter, wenn wir zurückkamen,
auf dem Kirchplatz innehalten, um den Turm zu betrachten. Aus
seinen Fenstern, die paarweise übereinandergesetzt waren in
jenem richtigen und ursprünglichen Verhältnis der
Abstände, das nicht nur menschlichen Gesichtern Schönheit
und Würde verleiht, entließ er in
regelmäßigen Abständen Raben, ließ ganze
Schwärme von ihnen fallen, die für eine Weile
krächzend kreisten, als seien diese alten Steine, die sie sich
hatten tummeln lassen, ohne anscheinend auf sie zu achten, ganz
plötzlich unbewohnbar geworden und hätten sie geschlagen
und hinausgeworfen und sie damit [93] der
Notwendigkeit unaufhörlicher Bewegung ausgeliefert. Dann,
nachdem sie den violetten Samt der Abendluft in alle
Himmelsrichtungen durchstrichen hatten, ließen sie sich, ganz
plötzlich beruhigt, allmählich wieder von dem Turm
aufsaugen, der vom unheildräuenden wieder zum gnädigen
geworden war – der eine oder andere aber saß an dieser
oder jener Stelle und schien sich gar nicht zu rühren,
schnappte nur vielleicht auf der Spitze eines Türmchens nach
irgendeinem Insekt, wie eine Möwe, die mit der Unbeweglichkeit
eines Fischers auf dem Kamm einer Woge verharrt.
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