Ohne recht zu wissen warum, empfand meine Großmutter im Türmchens von Saint-Hilaire jene Abwesenheit von Gewöhnlichkeit, Anmaßung und Kleinlichkeit, die sie nicht nur die Natur lieben und ihr einen wohltuenden Einfluss zuschreiben ließ, sofern sie nicht die Hand des Menschen, wie es etwa der Gärtner meiner Großmutter tat, herabgewürdigt hatte, sondern auch die Werke des Genies. Und zweifellos unterschied jeder Teil der Kirche, den man sehen konnte, diese von anderen Bauwerken durch eine Art von Nachdenklichkeit, von der sie durchdrungen war, doch besonders in ihrem Glockenturm schien sie sich ihrer selbst bewusst zu werden und ein einzigartiges und verantwortungsbewusstes Dasein zu behaupten. Er sprach für sie. Vor allem glaube ich, dass meine Großmutter im Glockenturm von Combray in unbestimmter Weise das fand, was ihr das Höchste auf der Welt war, Natürlichkeit und Vornehmheit. Der Architektur gänzlich unkundig, sagte sie: »Meine Lieben, macht euch über mich lustig, wenn ihr wollt, er ist ja vielleicht nicht schön im Sinne der Vorschriften, aber mir gefällt seine alte, wunderliche Gestalt. Wenn er Klavier spielen könnte, würde er ganz sicher nicht sec* spielen.« Und wenn sie ihn anschaute und mit den Augen der sanften Krümmung und inbrünstigen Neigung seiner steinernen Abhänge folgte, die sich, während sie sich erhoben, einander annäherten wie betende Hände, wurde [94] sie so sehr eins mit dem herzlichen Überschwang seiner Spitze, dass sich ihr Blick mit ihr emporzuschwingen schien; und dabei lächelte sie freundlich den vertrauten abgenutzten Steinen zu, die der Sonnenuntergang gerade noch im Giebel erleuchtete und die sich in dem Augenblick, in dem sie in den besonnten Bereich eintraten, plötzlich, geschmeidig geworden durch das Licht, viel höher in die Lüfte zu erheben schienen, entrückt, wie ein Lied, das eine Oktave höher wieder aufgenommen wird.

Es war dieser Glockenturm von Saint-Hilaire, was allen Beschäftigungen, allen Stunden, allen Aussichtspunkten des Ortes ihre Gestalt, Krönung und Weihe verlieh. Von meinem Zimmer aus konnte ich nur seinen mit Schieferschindeln verkleideten Sockel sehen; doch wenn ich diese am Sonntag, an einem heißen Sommermorgen aufflammen sah wie eine schwarze Sonne, sagte ich zu mir: »Mein Gott! Neun Uhr! Ich muss mich schnellstens für die Messe fertig machen, wenn ich vorher noch genug Zeit haben will, Tante Léonie einen Gutenmorgenkuss zu bringen«, und ich spürte genau voraus, welche Farbe das Sonnenlicht auf dem Platz haben würde, die Hitze und der Staub auf dem Markt, der Schatten, den die Markise des Ladens werfen würde, in dessen Geruch nach roher Leinwand Maman womöglich vor der Messe eintreten würde, um einige Taschentücher zu erstehen*, die ihr der Besitzer, der schon gerade schließen wollte, buckelnd vorlegte, bevor er im Hinterzimmer verschwand, um sein Sonntagsjackett anzuziehen und sich die Hände zu waschen, die er gewohnheitsmäßig alle fünf Minuten, selbst bei traurigsten Anlässen, mit einem Ausdruck von Unternehmungsgeist und Erwartung eines guten Geschäfts und nachhaltigen Erfolgs aneinanderrieb.

Wenn wir nach der Messe noch zu Théodore hineingingen, um eine größere Brioche als gewöhnlich zu bestellen, weil sich unsere Vettern aus Thiberzy*, um das schöne Wetter zu nutzen, bei uns [95] zum Essen angemeldet hatten, so hatten wir den Kirchturm vor uns, der, selbst golden und gebacken wie eine noch größere geweihte Brioche, mit seinen Schuppen und seinem durch die Sonne hervorgebrachten gummihaften Tröpfeln, seine Nadelspitze in den blauen Himmel stach*. Und am Abend, wenn ich vom Spaziergang zurückkam und an den nahenden Augenblick dachte, in dem ich meiner Mutter gute Nacht sagen müsste und sie dann nicht mehr sehen würde, war er im sinkenden Tageslicht so sanft, dass es aussah, als sei er wie ein braunes Samtkissen auf den verblassten Himmel gelegt und in ihn hineingedrückt, der seinerseits dem Druck nachgegeben, sich leicht zurückgebogen hatte, um ihm Platz zu machen, und wieder über seine Ränder zurückgeflossen war; und die Schreie der Vögel, die um ihn kreisten, schienen seine Stille nur noch zu steigern, seine Turmspitze noch weiter in die Höhe schießen zu lassen, ihm etwas Unfassbares zu verleihen.

Selbst bei Besorgungen, die man auf der Rückseite der Kirche machen musste, dort, wo man ihn nicht sah, schien alles von der Beziehung zum Kirchturm bestimmt zu sein, der hie und da zwischen den Häusern auftauchte und vielleicht sogar noch ergreifender war, wenn er so ohne die Kirche erschien. Gewiss gibt es noch weitere, die auf diese Weise betrachtet noch schöner sind, und ich habe in meiner Erinnerung Skizzen von Kirchtürmen, die über die Dächer mit einem ganz anderen künstlerischen Ausdruck ragen als jene, aus denen sich die trübseligen Straßen von Combray zusammensetzten. Ich werde niemals die beiden reizenden Stadtvillen aus dem 18. Jahrhundert in einer merkwürdigen Stadt in der Normandie in der Nähe von Balbec vergessen, die ich in vielerlei Hinsicht für wertvoll und bewundernswürdig halte, und zwischen denen man von dem schönen Garten aus, der sich von den Terrassen zum Fluss hinunter erstreckt, die gotische Spitze einer von ihnen verborgenen Kirche sich erheben sieht, die den Eindruck erweckt, [96] als würde sie ihre Fassaden abschließen und überragen, jedoch mit einem so ganz anderen, so kostbaren, so reich mit Ringen und Kreuzblumen geschmückten, gefirnissten Stoff, dass man gleich sieht, dass sie ebenso wenig zu ihnen gehört wie etwa die purpurne, geriffelte, türmchenförmig zusammenlaufende, emailleglänzende Spitze einer Muschel zu zwei schönen glatten Kieseln, zwischen denen sie am Strand gefangen liegt. Sogar in Paris, in einem der hässlichsten Stadtviertel, kenne ich ein Fenster, von dem aus man nach einer ersten, einer zweiten und sogar noch nach einer dritten der Kulissen, die von den zusammengedrängten Dächern verschiedener Straßenzüge gebildet werden, eine violette Glocke sieht, manchmal eher rötlich, manchmal sogar, in den feinsten »Probedrucken«, die die Atmosphäre abzieht, in einem von Asche geläuterten Schwarz, die nichts anderes ist als die Kuppel von Saint-Augustin, die dieser Straße in Paris den nämlichen Charakter gibt wie ihn bestimmte Straßen im Rom Piranesis* tragen. Aber da mein Gedächtnis in keine dieser kleinen Gravuren, mochten sie auch mit noch so viel Geschmack ausgeführt sein, das hineinlegen konnte, was ich seit langer Zeit verloren hatte, jene Empfindung nämlich, die uns eine Sache nicht als ein Schauspiel erscheinen, sondern an sie glauben lässt wie an ein Wesen ohnegleichen, übt keine von ihnen eine solche Herrschaft über einen tief in mir verwurzelten Teil meines Lebens aus, wie die Erinnerung an diese Ansichten des Kirchturms von Combray in den Straßen hinter der Kirche es tut. Ob man ihn um fünf Uhr, wenn man seine Briefe abholen wollte, auf dem Weg zur Post sah, nur ein paar Häuser von zu Hause, linker Hand, wie er unvermittelt als einsamer Gipfel die Firstlinie der Dächer überragte; ob man dagegen, wollte man Madame Sazerat besuchen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, mit den Augen jener Linie folgte, die nach dem Abstieg auf seiner anderen Seite wieder tiefer gesunken war, und dabei wusste, [97] dass man bei der zweiten Straße nach dem Kirchturm abbiegen musste; oder ob man ihn, wenn man weiter vorstieß und zum Bahnhof ging, von der Seite sah, so dass er im Profil Grate und neue Flächen zeigte wie ein massiver Gegenstand, den man in einem unerwarteten Moment seiner Drehung überrascht; oder ob, vom Ufer der Vivonne aus, die von der Perspektive kraftvoll verdichtete und emporgestemmte Apsis die Bemühungen zu unterstützen schien, die der Kirchturm unternahm, um seine Spitze ins Herz des Himmels zu bohren: immer war er es, zu dem man zurückkehren musste, immer er, der alles beherrschte, die Häuser mit einer unerwarteten Zinne krönte, vor mir erhoben wie der Finger Gottes, dessen Leib in der Menschenmenge verborgen war, ohne dass ich ihn deshalb mit ihr verwechselt hätte. Und selbst heute, wenn mir in einer größeren Provinzstadt oder in einem Viertel von Paris, das ich schlecht kenne, ein Passant »den rechten Weg gewiesen« und in der Ferne als Wegmarke den Schutzturm eines Hospitals, den Glockenturm eines Klosters gezeigt hat, der die Spitze seiner geistlichen Haube an der Ecke einer Straße erhebt, die ich einschlagen soll, so kann mich der Passant, falls mein Gedächtnis auch nur andeutungsweise irgendeinen der teuren und entschwundenen Gestalt ähnlichen Zug finden sollte, und falls er sich umdreht, um sich zu vergewissern, dass ich nicht fehlgehe, zu seinem Erstaunen sehen, wie ich, völlig den geplanten Spaziergang oder den erforderlichen Weg vergessend, versuche, mich zu erinnern, und dabei tief in mir dem Vergessen entrungene Gestade verspüre, die trocknen und sich wieder bebauen; und dann nehme ich, zweifellos noch eifriger als zuvor, als ich um Auskunft gebeten hatte, meinen Weg wieder auf, ich biege in eine Straße ein … jedoch … in meinem Herzen …

Auf dem Heimweg von der Messe trafen wir manchmal Monsieur Legrandin, den sein Beruf als Ingenieur in Paris festhielt und [98] der deshalb außer in den großen Ferien nur von Samstag abend bis Montag früh auf seinen Besitz in Combray fahren konnte. Er war einer jener Menschen, die, neben einer wissenschaftlichen Karriere, in der sie zudem glänzenden Erfolg haben, noch über eine ganz andere geistige Bildung verfügen, eine literarische oder eine künstlerische, die sie in ihrem Beruf nicht anwenden können, die ihnen aber in der Konversation nützt. Belesener als mancher Literat (wir wussten zu jener Zeit noch nicht, dass Monsieur Legrandin auch einen gewissen Ruf als Schriftsteller genoss, und wir wären sehr erstaunt gewesen zu erfahren, dass ein berühmter Musiker Gedichte von ihm vertont hatte) und mit einer »leichteren Hand« begabt als so mancher Maler, stellen sie sich vor, dass das Leben, das sie führen, nicht das ihnen gemäße sei, und bringen in ihren eigentlichen Beruf entweder eine mit Einbildungskraft gemischte Sorglosigkeit, oder eine beharrliche und hochmütige, verächtliche, bittere und gewissenhafte Hingabe ein. Groß, von guter Figur, mit einem nachdenklichen und feingeschnittenen Gesicht, einem langen, blonden Schnauzbart, mit blauem, nüchternem Blick, von erlesener Höflichkeit, unterhaltsam wie wir noch nie jemanden gehört hatten, war er in den Augen meiner Familie, die ihn fortwährend als Musterbeispiel anführte, der Typ eines Mannes aus der Elite, der das Leben auf die ehrenhafteste und zartsinnigste Weise bewältigte. Meine Großmutter tadelte an ihm einzig, dass er ein bisschen zu gut sprach, ein bisschen zu sehr wie ein Buch, dass seiner Sprache jenes Naturell fehlte, das seine ständig vor ihm flatternde Lavallière* und sein fast schülerhaft gerades Sakko versprachen. Sie war auch befremdet von den Brandreden, die er zuweilen gegen die Aristokratie losließ, gegen das weltliche Leben, gegen den Snobismus, »ganz sicher die Sünde, an die der heilige Paulus denkt, wenn er von der Sünde spricht, für die es keine Vergebung gibt*«.

[99] Weltlicher Ehrgeiz war eine Empfindung, die meine Großmutter so wenig nachvollziehen, ja kaum verstehen konnte, dass es ziemlich nutzlos erschien, so viel Eifer in seine Bekämpfung zu legen. Außerdem fand sie es nicht sehr geschmackvoll von Monsieur Legrandin, dessen Schwester nahe Balbec mit einem Landedelmann aus der unteren Normandie verheiratet war, dass er sich zu derart wütenden Angriffen auf den Adel verstieg, bei denen er fast so weit ging, der Revolution zum Vorwurf zu machen, dass man ihn nicht ausnahmslos guillotiniert hatte. »Hallo, Freunde«, sagte er, wenn er uns entgegenkam, »Sie sind fein raus, dass Sie sich hier so viel aufhalten können; ich muss morgen wieder zurück nach Paris, in meine Hundehütte.«

»Oh!« fügte er mit dem ihm eigenen, leicht ironischen und ernüchterten, ein wenig zerstreuten Lächeln hinzu, »in meinem Haus gibt es mit Sicherheit alle möglichen überflüssigen Dinge. Es fehlt nur das Notwendigste, ein großes Stück Himmel wie hier. Versuchen Sie immer, ein Stückchen Himmel über Ihrem Leben zu bewahren, junger Freund«, fügte er zu mir gewandt hinzu. »Sie haben eine glückliche Seele, von einer seltenen Beschaffenheit, die Natur eines Künstlers, lassen Sie es ihr nicht an dem fehlen, was ihr nottut.«

Wenn uns dann meine Tante nach unserer Rückkehr fragen ließ, ob Madame Goupil zu spät zur Messe gekommen sei, waren wir nicht in der Lage, ihr Auskunft zu geben. Im Gegenteil vergrößerten wir noch ihre Beunruhigung, indem wir ihr erzählten, dass ein Künstler in der Kirche arbeite, um das Fenster mit Gilbert dem Bösen* zu kopieren. Françoise, die sofort zum Krämer geschickt wurde, kehrte unverrichteter Dinge zurück, da Théodore nicht da war, dessen Doppelberuf als Küster, der die Kirche in Ordnung zu halten hatte, und als Laufbursche des Krämers ihm, mit seinen Beziehungen zu aller Welt, ein umfassendes Wissen verschaffte. [100] »Ah!« seufzte meine Tante, »ich wünschte, dass es schon Zeit wäre für Eulalie. Niemand außer ihr wird mir das sagen können.«

Eulalie* war eine hinkende, rührige, taube Dienstmagd, die sich nach dem Tod von Madame de la Bretonnerie*, bei der sie seit ihrer Kindheit angestellt gewesen war, »zur Ruhe gesetzt« und ein Zimmer neben der Kirche genommen hatte, das sie häufig verließ, sei es wegen der Gottesdienste, sei es, um auch außerhalb der Gottesdienste ein kleines Gebet herzusagen, oder um einen Anschlag auf Théodore zu verüben; die übrige Zeit ging sie herum und besuchte Kranke wie meine Tante Léonie, denen sie alles erzählte, was sich in der Messe und bei der Vesper zugetragen hatte. Sie verschmähte es nicht, ihre kleine Rente, die ihr die Familie ihrer früheren Herrschaft ausgesetzt hatte, mit Gelegenheitsdiensten aufzubessern, indem sie sich hin und wieder um das Leinenzeug des Pfarrers oder anderer bedeutender Persönlichkeiten des kirchlichen Lebens von Combray kümmerte. Sie trug über einem schwarzen Wollmantel eine weiße Schwesternhaube, eine Nonnenhaube fast, und eine Hautkrankheit gab ihrer krummen Nase und einem Teil ihrer Wangen den lebhaften rosa Farbton des Fleißigen Lieschens. Ihre Besuche bedeuteten eine große Abwechslung für meine Tante, die kaum noch andere Personen empfing, abgesehen von dem Herrn Pfarrer. Meine Tante hatte nach und nach alle anderen Besucher vertrieben, da sie in ihren Augen sämtlich den Mangel aufwiesen, zu der einen oder der anderen der beiden Kategorien von Leuten zu gehören, die sie verabscheute. Die einen, die Schlimmsten, deren sie sich als erstes entledigt hatte, waren jene, die den Rat erteilten, sich nicht »gehen zu lassen«, und die sich, wenn auch nur in negativer und lediglich an einem gelegentlichen missbilligenden Schweigen oder an einem Lächeln des Zweifels erkennbarer Form, zu der aufrührerischen Lehre bekannten, dass ein kleiner Spaziergang in der Sonne und ein schönes Beefsteak nach englischer Art (wo ihr [101] doch schon zwei armselige Schlückchen Vichy vierzehn Stunden lang auf dem Magen lagen!) viel besser für sie wären als ihr Bett und ihre Arzneien.