Das wird einmal ein perfekter Gentleman«, fügte sie hinzu und biss dabei die Zähne zusammen, um der Phrase einen leicht britischen Akzent zu geben. »Sollte er nicht einmal vorbeikommen und a cup of tea nehmen, wie unsere Nachbarn die Engländer sagen? Er brauchte mir nur am Vormittag einen ›Blauen‹ zu schicken.«

Ich wusste nicht, was ein »Blauer« war. Ich begriff zwar kaum die Hälfte der Worte, die die Dame sagte, aber die Befürchtung, dass sich darin irgendeine Frage verbergen könnte, die nicht zu beantworten unhöflich wäre, hinderte mich daran, ihnen nicht noch weiter mit Aufmerksamkeit zu lauschen, was mich außerordentlich anstrengte. »Aber nein, das ist unmöglich«, sagte mein Onkel, wobei er die Schultern hochzog, »er ist sehr beschäftigt, er arbeitet [114] sehr viel. Er hat alle Preise in seiner Klasse gewonnen«, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu, damit ich nicht seine Lüge hören und widersprechen würde. »Wer weiß, das wird vielleicht einmal ein kleiner Victor Hugo, eine Art Vaulabelle, meinen Sie nicht?« – »Ich verehre die Künstler«, antwortete die Dame in Rosa, »nur sie verstehen die Frauen … Nur sie und ganz besondere Menschen wie Sie. Entschuldigen Sie meine Unwissenheit, mein Freund. Wer ist Vaulabelle*? Sind das die goldgeprägten Bände in dem kleinen verglasten Bücherschrank in Ihrem Boudoir? Sie erinnern sich, dass Sie mir versprochen haben, sie mir zu leihen, ich werde auch mit großer Sorgfalt damit umgehen.«

Mein Onkel, der es verabscheute, seine Bücher zu verleihen, antwortete nichts und führte mich ins Vorzimmer. Außer mir vor Liebe zu der Dame in Rosa, bedeckte ich die tabakgebeizten Wangen meines alten Onkels mit närrischen Küssen, und während er mir reichlich verlegen zu verstehen gab, ohne jedoch zu wagen, es offen auszusprechen, dass es ihm lieber wäre, wenn ich über diesen Besuch nicht mit meinen Eltern reden würde, sagte ich ihm mit Tränen in den Augen, dass ich seine Güte in ewiger Erinnerung behalten und sicher eines Tages die Mittel finden würde, ihm meine Dankbarkeit zu beweisen. Sie war tatsächlich so ewig, dass ich es zwei Stunden später, nach einigen rätselhaften Andeutungen, die aber, wie mir schien, meinen Eltern keine hinreichend deutliche Vorstellung von der neuen Bedeutsamkeit vermittelten, die mir verliehen worden war, einfacher fand, ihnen bis in die kleinste Einzelheit von dem Besuch zu erzählen, den ich gerade gemacht hatte. Ich dachte nicht, dass ich meinem Onkel damit irgendwelchen Ärger bereiten könnte. Wie hätte ich es auch glauben sollen, da ich es nicht wünschte. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Eltern etwas Schlimmes an einem Besuch finden würden, an dem ich nichts Schlimmes fand. Kommt es denn nicht alle Tage vor, dass [115] ein Freund uns bittet, ihn auf jeden Fall bei einer Dame zu entschuldigen, der zu schreiben er vergessen hat, und wir es dann doch versäumen, in der Annahme, dass diese Person schwerlich einem Schweigen eine Wichtigkeit beimessen könnte, die es für uns nicht hat? Wie jedermann stellte ich mir vor, dass das Gehirn der anderen ein passiver, aufnahmewilliger Behälter sei, ohne die Fähigkeit zu einer spezifischen Reaktion auf das, was man hineingab; und ich zweifelte nicht daran, dass ich, wenn ich in dem meiner Eltern die Neuigkeit von der Bekanntschaft ablegte, die mein Onkel mir ermöglicht hatte, damit zugleich auch, wie ich sehnlich wünschte, das günstige Urteil, das ich mir von dieser Begegnung gebildet hatte, auf sie übertragen würde. Meine Eltern stützten sich in dieser Sache jedoch unglücklicherweise auf ganz andere Grundsätze als jene, die ich ihnen nahezulegen versuchte, wenn sie das Verhalten meines Onkels richtig einschätzen wollten. Mein Vater und mein Großvater hatten mit ihm heftige Auseinandersetzungen; ich wurde darüber auf indirektem Wege in Kenntnis gesetzt. Als ich einige Tage später meinem Onkel begegnete, der im offenen Wagen vorbeifuhr, überkamen mich der Schmerz, die Dankbarkeit, die Reue, die ich ihm gern zum Ausdruck gebracht hätte. Gemessen an ihrem Ausmaß kam es mir vor, als ob ein bloßes Ziehen des Hutes viel zu schäbig sei, dass es bei meinem Onkel den Eindruck erwecken könnte, ich fühlte mich ihm gegenüber zu nicht mehr verpflichtet als einer nichtssagenden Höflichkeit. Ich beschloss, diese ungenügende Geste zu unterlassen, und drehte den Kopf weg. Mein Onkel glaubte, dass ich damit den Anweisungen meiner Eltern folgte, was er ihnen nie verzieh, und er starb Jahre später, ohne dass irgendjemand von uns ihn je wiedergesehen hätte.

So kam es also, dass ich nicht mehr in das inzwischen abgeschlossene Zimmer meines Onkels Adolphe ging, sondern ein [116] wenig im Garten hinter der Küche verweilte, und nachdem Françoise zu mir gesagt hatte: »Ich lasse jetzt das Küchenmädchen den Kaffee servieren und das heiße Wasser hinaufbringen, ich selbst muss mich um Madame Octave kümmern«, entschloss ich mich, wieder hineinzugehen, und zwar direkt hinauf in mein Zimmer, um zu lesen. Das Küchenmädchen war eine juristische Person, eine ständige Einrichtung, der die Zuschreibung unveränderlicher Merkmale durch die Abfolge flüchtiger Gestalten hindurch, in denen sie Fleisch wurde, eine Art von Kontinuität und Identität verschaffte: denn wir hatten niemals länger als zwei Jahre hintereinander das gleiche. In dem Jahr, in dem wir dauernd Spargel aßen, war das Küchenmädchen, das sie für gewöhnlich zu ›rüsten*‹ hatte, ein bedauernswertes kränkliches Wesen, und bereits zu Ostern, als wir ankamen, so hochschwanger, dass sich doch alle wunderten, wie Françoise sie noch so viele Besorgungen und Arbeiten erledigen lassen konnte, denn sie begann schon, nur mit Schwierigkeit den geheimnisvollen, jeden Tag noch mehr gefüllten Korb vor sich her zu tragen, dessen prächtige Wölbung man unter ihren geräumigen Bauernkitteln erahnen konnte. Diese erinnerten an die nordischen Überröcke, mit denen einige der symbolischen Figuren Giottos* bekleidet waren, von denen Monsieur Swann mir Fotografien geschenkt hatte. Er selbst hatte uns darauf aufmerksam gemacht, und wenn er fragte, wie es dem Küchenmädchen ging, sagte er: »Was macht die Karitas von Giotto?« Später dann glich auch das arme Mädchen selbst, das durch seine Schwangerschaft bis ins Gesicht, bis in die geraden, eckig herabfallenden Wangen hinauf dick geworden war, auffällig jenen kräftigen, vermännlichten Jungfrauen oder eher Matronen, durch die in der Arenakapelle die Tugenden versinnbildlicht sind. Und inzwischen ist mir auch klar geworden, dass die Tugenden und Laster von Padua ihr noch auf andere Weise ähnelten. Ebenso wie der Anblick dieser jungen Frau durch das [117] beigefügte Symbol bestimmt war, das sie vor ihrem Bauch einhertrug, ohne anscheinend seinen Sinn zu begreifen, ohne dass sich seine Schönheit und sein Geist in ihrem Gesicht ausgedrückt hätten, ganz genauso schien die gewaltige Wirtschafterin, die in der Arenakapelle unter dem Namen »Karitas« dargestellt ist und deren Reproduktion in Combray an der Wand meines Arbeitszimmers hing, diese Tugend zu verkörpern, denn der Gedanke der Barmherzigkeit scheint sich in ihrem energischen und gewöhnlichen Gesicht in gar keiner Weise ausdrücken zu können. In einem hübschen Einfall des Malers tritt sie die Schätze der Erde mit Füßen, aber ganz so, als ob sie Trauben stampfte, um ihren Saft zu gewinnen, oder noch eher, als ob sie auf Säcke gestiegen sei, um größer zu erscheinen; und sie bietet Gott ihr flammendes Herz dar, oder besser gesagt, sie »reicht es ihm hinauf«, etwa so wie eine Köchin jemandem am Fenster im Erdgeschoss einen Korkenzieher, nach dem er gefragt hat, durch das Dunstabzugsloch ihres Untergeschosses hinaufreicht. Der Invidia war immerhin ein gewisser Ausdruck der Missgunst zuteil geworden. Aber auch in diesem Fresko nimmt das Symbol so viel Platz ein und ist so realistisch dargestellt, die Schlange, die aus den Lippen der Invidia hervorzischt, ist so dick, füllt ihr den weitgeöffneten Mund so gänzlich, dass die Muskeln ihres Gesichts, um sie halten zu können, überdehnt sind wie die eines Kindes, das mit seinem Atem einen Ballon aufbläst, und die Invidia, deren Aufmerksamkeit – wie zugleich auch die unsere – ausschließlich der Tätigkeit ihrer Lippen zugewandt ist, kaum Zeit für scheelsüchtige Gedanken übrig hat.

Trotz aller Bewunderung, die Monsieur Swann für diese Figuren Giottos bekundete, hatte ich doch lange Zeit wenig Vergnügen daran, in unserem Arbeitszimmer, wo die Abzüge, die er mir mitgebracht hatte, aufgehängt waren, diese »Barmherzigkeit« ohne Barmherzigkeit zu betrachten, diese »Scheelsucht«, die aussah wie [118] eine Bildtafel in einem medizinischen Lehrbuch, die den Druck auf Kehlkopf oder Zäpfchen durch einen Zungentumor oder durch die Einführung eines Operationsinstrumentes darstellt, eine »Gerechtigkeit«, deren graues und kleinlich ordentliches Gesicht so ganz wie jenes war, das in Combray gewisse hübsche, fromme, spröde Bürgersfrauen auszeichnete, die ich in der Messe gesehen hatte und von denen sich mehrere schon vorsorglich in die Reservelisten der Bürgerwehr der Ungerechtigkeit eingeschrieben hatten. Später dann habe ich begriffen, dass die anrührende Fremdartigkeit, die besondere Schönheit dieser Fresken gerade mit dem großen Raum zusammenhing, den die Symbole darin einnahmen, und dass die Tatsache, dass sie gar nicht als Symbole dargestellt waren, denn der symbolisierte Gedanke war darin überhaupt nicht ausgedrückt, sondern als Wirkliches, als tatsächlich Erlittenes oder dinglich Erfasstes, der Bedeutung des Bildes etwas sehr Wörtliches und Genaues gab, seiner Aussage etwas sehr Anwendbares und Wirksames. Auch die Aufmerksamkeit des armen Küchenmädchens war ja ständig von dem Bauch in Anspruch genommen, dessen Gewicht es zu tragen hatte; oder wie die Gedanken der Sterbenden sich der schmerzhaften, dunklen, wirklichen Seite ihrer Eingeweide zuwenden, jener Kehrseite des Todes, die doch gerade die Seite ist, die er ihnen vorhält, die er sie gröblich spüren lässt, die weit eher einer Last gleicht, die sie zermalmt, der Schwierigkeit zu atmen oder dem Bedürfnis zu trinken, als dem, was wir »die Vorstellung vom Tod« zu nennen pflegen.

Die Tugenden und Laster von Padua mussten schon einen großen Wirklichkeitsgehalt besitzen, dass sie mir genauso lebendig erscheinen konnten wie die schwangere Dienstmagd, die mir ihrerseits kaum weniger allegorisch vorkam. Und vielleicht kommt dieser (wenigstens scheinbaren) Nicht-Teilnahme der Seele eines Wesens an der Tugend, die durch sie wirkt, neben ihrem eigenen [119] ästhetischen Wert noch eine wenn nicht psychologische, so wenigstens, wie man so sagt, physiognomische Wirklichkeit zu.