Nachdem er mir zugehört hatte, wie ich ihm meine Begeisterung für Eine Nacht im Oktober von Musset schilderte, war er in brüllendes Gelächter wie eine Trompete ausgebrochen und hatte schließlich zu mir gesagt: »Mach dich von dieser ziemlich platten Vorliebe für einen gewissen Herrn de Musset* frei. Das ist einer der übelsten Typen und ein ziemlich finsterer Kerl. Ich muss immerhin zugeben, dass er und auch der obgenannte Racine* jeder im Laufe seines Lebens einen ziemlich rhythmischen Vers hingekriegt hat, mit dem Vorteil – und das ist für mich das höchste Lob –, dass er absolut nichts bedeutet. Nämlich: ›La blanche Oloossone et la blanche Camyre‹ und ›La fille de Minos et de Pasiphaé‹*. Ich bin auf sie durch einen Artikel zum Zwecke der Entlastung dieser beiden Lumpen aufmerksam geworden, von meinem geschätzten Meister, dem Père Leconte*, wohlgefällig den unsterblichen Göttern*. Dabei fällt mir ein, hier ist ein Buch, das zu lesen ich gerade keine Zeit habe und das dieser unübertreffliche Biedermann zu empfehlen scheint. Er hält, hat man mir erzählt, den Autor, einen gewissen Herrn Bergotte*, für einen der subtilsten Typen; und obwohl er zuweilen eine ganz unerklärliche Nachsicht an den Tag legt, ist sein [130] Wort für mich das Orakel von Delphi. Lies doch die lyrische Prosa, und wenn dieser gigantische Füger von Rhythmen, der Bhagavat* und Le Lévrier de Magnus geschrieben hat, wahr gesprochen hat, dann, bei Apollon*, wirst du, werter Meister, die nektarsüßen Freuden des Olympos kosten.« Es lag ein sarkastischer Ton darin, als er mich gebeten hatte, ihn »werter Meister*« zu nennen, und wenn er umgekehrt mich so nannte. Aber in Wirklichkeit hatten wir ein gewisses Vergnügen an diesem Spiel, waren wir doch noch jenem Alter nahe, in dem man glaubt, dass man erschafft, was man benennt.

Unglücklicherweise konnte ich die Unruhe, in die Bloch mich mit seiner Bemerkung, die beiden schönen Verse (in denen ich nicht weniger als die Enthüllung der Wahrheit erwartete) seien dadurch noch schöner, dass sie nichts bedeuteten, nicht durch ein Gespräch mit ihm beschwichtigen, in dem ich ihn nach Erklärungen gefragt hätte. Bloch wurde nämlich nicht wieder zu uns eingeladen. Er war zu Anfang freundlich aufgenommen worden. Man muss zugeben, dass mein Großvater jedesmal, wenn ich mich mit einem Schulkameraden mehr als mit den anderen anfreundete und ihn zu uns nach Hause einlud, behauptete, dass er ein Jude sei, wogegen er ja im Prinzip nichts habe – selbst sein Freund Swann sei jüdischer Herkunft –, wenn er nicht den Eindruck hätte, dass ich ihn für gewöhnlich nicht unter den besten wählte. Und wenn ich einen neuen Freund mit nach Hause brachte, kam es nur selten vor, dass er nicht »O Gott unsrer Väter*« aus der Jüdin, oder auch »Israel, brich deine Kette« vor sich hin trällerte, wobei er natürlich nur die Melodie summte (Ti la lam, ti talam talim), aber ich hatte Angst, dass mein Kamerad sie kannte und die Worte wieder einsetzte.

Noch bevor er sie überhaupt gesehen hatte, als er von ihnen noch nichts als ihren Namen wusste, der oft nichts besonders Israelitisches an sich hatte, erriet er nicht nur die jüdische Herkunft jener meiner Freunde, bei denen das tatsächlich zutraf, sondern [131] sogar oft auch, was es an Problemen in ihrer Familie gab. »Und wie heißt dein Freund, der heute abend kommt?« – »Dumont, Großvater.« – »Dumont*! Aha! da werde ich misstrauisch.« Und er begann zu singen:

Bogner, seid auf der Hut!*

Wachet ohne Rast und Ruh;

und nachdem er uns geschickt einige sehr genaue Fragen gestellt hatte, rief er aus: »Habt acht! habt acht!« oder er begnügte sich damit, nur um uns zu zeigen, dass er keine Zweifel mehr hatte, uns anzuschauen und kaum hörbar zu summen, falls der Untersuchungsgegenstand schon angekommen und durch ein getarntes Verhör gezwungen worden war, seine Herkunft selbst einzugestehen, ohne es überhaupt zu merken:

Dieses zagenden Hebräers*

Schritte also lenkt ihr her!

oder

Fluren der Väter, Hebron, liebliches Tal*.

oder auch

Ja, der erwählten Rasse gehöre ich an*.

Diese kleinen Marotten meines Großvaters drückten keineswegs eine böswillige Einstellung gegenüber meinen Kameraden aus. Bloch aber hatte meinen Eltern aus anderen Gründen missfallen. Er hatte gleich zu Anfang meinen Vater verärgert, der ihn durchnässt [132] hatte ankommen sehen und interessiert gefragt hatte: »Aber, Herr Bloch, was ist denn für ein Wetter, regnet es denn? Das kann ich gar nicht verstehen, das Barometer stand auf Schönwetter.« Er handelte sich damit diese Antwort ein: »Monsieur, ich bin gänzlich außerstande Ihnen zu sagen, ob es regnet. Ich lebe so entschieden jenseits der physikalischen Zufälligkeiten, dass meine Sinne sich nicht die Mühe machen, mich zu benachrichtigen.«

»Tja, mein armer Junge, dein Freund ist ein Idiot«, hatte mein Vater zu mir gesagt, nachdem Bloch gegangen war. »Also wirklich!, er kann mir nicht einmal sagen, was für Wetter ist! Dabei gibt es nichts, was interessanter wäre! Er ist einfach nicht zurechnungsfähig.«

Ferner hatte Bloch auch meiner Großmutter missfallen, denn als sie nach dem Essen sagte, dass sie sich nicht ganz wohl fühle, hatte er ein Schluchzen unterdrückt und Tränen weggewischt. »Erzähl mir nicht, dass das ehrlich war«, sagte sie zu mir, »er kennt mich doch gar nicht; oder er ist nicht bei Sinnen.«

Und schließlich hatte er alle gegen sich aufgebracht, indem er eineinhalb Stunden zu spät schlammbedeckt zum Essen erschien und, statt sich zu entschuldigen, erklärte: »Ich lasse mich niemals durch Störungen in der Atmosphäre oder durch die konventionelle Einteilung der Zeit beeinflussen. Ich würde mich bereitwillig für die Entkriminalisierung der Opiumpfeife oder des malaiischen Krummschwertes einsetzen, aber ich weigere mich, solche unendlich verderblicheren und zudem platterdings spießigen Instrumente zur Kenntnis zu nehmen wie die Uhr oder den Regenschirm.«

Er hätte trotz alledem wieder nach Combray kommen können. Er war gewiss nicht der Freund, den meine Eltern für mich gern gesehen hätten; zwar waren sie schließlich zu dem Schluss gekommen, dass die Tränen, die er wegen des Unwohlseins meiner Großmutter vergossen hatte, nicht vorgetäuscht waren; aber sie [133] wussten gefühlsmäßig oder aus Erfahrung, dass die Höhenflüge unserer Empfindsamkeit wenig Einfluss auf den Ablauf unseres Tuns und die Führung unseres Lebens ausüben, und dass die Beachtung moralischer Verpflichtungen, die Treue zu Freunden, die Ausführung eines Werkes, die Befolgung einer Diät, in blinder Gewohnheit eine sicherere Grundlage finden als in kurzlebiger, übertriebener, unfruchtbarer Begeisterung. Sie hätten für mich anstelle von Bloch Gefährten vorgezogen, die mir nicht mehr gegeben hätten, als man nach den Regeln der bürgerlichen Moral seinen Freunden zugesteht; die mir nicht unerwartet einen Korb mit Früchten schicken würden mit der Begründung, dass sie an diesem Tag voller Zärtlichkeit an mich gedacht hätten, sondern vielmehr unfähig wären, aus einer einfachen Regung ihrer Einbildungskraft oder ihrer Empfindsamkeit heraus das gerechte Gleichgewicht der Pflichten und Ansprüche der Freundschaft zu meinen Gunsten zu neigen, dies aber ebenso wenig zu meinen Ungunsten tun würden. Selbst das Unrecht, das wir begehen, kann solche Naturen, für die meine Großtante ein Musterfall war, nicht von dem abbringen, was sie für erforderlich halten: sie, die seit Jahren im Streit mit einer Nichte lag und niemals mit ihr sprach, aber dennoch ihr Testament nicht änderte, durch das sie dieser ihr ganzes Vermögen vermachte, weil sie die nächste Angehörige war und »sich das so gehörte«.

Aber ich liebte Bloch, meine Eltern wollten mir eine Freude machen, und die unlösbaren Probleme, die sich mir hinsichtlich der von Bedeutung entblößten Schönheit der Tochter von Minos und Pasiphae entgegenstellten, belasteten mich viel mehr und ließen mich mehr leiden, als es weitere Gespräche mit ihm hätten fertigbringen können, so schädlich meine Mutter sie auch immer finden mochte. Und man hätte ihn in Combray auch wieder empfangen, wenn er mir nach jenem Abendessen, als er mich davon unterrichtete – eine Information, die später großen Einfluss auf mein Leben [134] ausübte und es glücklicher, doch auch unglücklicher werden ließ –, dass alle Frauen an nichts als die Liebe dächten und dass es keine gebe, deren Widerstand man nicht überwinden könne, nicht auch noch versichert hätte, er habe aus verlässlicher Quelle gehört, dass meine Großtante eine stürmische Jugend verlebt habe und in aller Öffentlichkeit ausgehalten worden sei. Ich konnte es nicht lassen, diese Bemerkungen gegenüber meinen Eltern zu wiederholen, man fertigte ihn an der Tür ab, als er das nächste Mal kam, und wenn ich ihm künftig auf der Straße begegnete, war er äußerst frostig zu mir.

Aber in Sachen Bergotte hatte er recht gehabt.

Wie bei einer Melodie, für die man einmal schwärmen wird, die man aber anfangs nicht recht heraushört, wurde mir in den ersten Tagen das, was ich später so sehr an seinem Stil lieben sollte, gar nicht deutlich. Ich konnte seinen Roman, den ich las, nicht aus der Hand legen, bildete mir jedoch ein, das liege nur an meinem Interesse an dessen Gegenstand, so wie man in den ersten Zeiten einer Liebe fortwährend versucht, eine Frau bei irgendeiner Gesellschaft oder Veranstaltung zu treffen und sich einbildet, man werde nur durch deren Reize angezogen. Doch bald fielen mir die ungewöhnlichen, schon fast archaischen Ausdrücke auf, die er in bestimmten Augenblicken gern verwendete und in denen eine verborgene Flut von Harmonie, ein innerliches Prélude, seinen Stil emporhob; in solchen Augenblicken begann er vom »eitlen Traum des Seins« zu sprechen, von dem »unerschöpflichen Strom der schönen Erscheinungen«, von der »fruchtlosen und köstlichen Qual zu fassen und zu lieben«, von den »ergreifenden Bildern, die ewig das ehrwürdige und bezaubernde Antlitz der Kathedralen adeln*«, worin sich für mich durch die wunderbaren Bilder, die er benutzte, eine ganz neue Lebenseinstellung ausdrückte, denn sie waren es, die diesen Harfenklang erweckten, der aus ihnen aufstieg und dessen [135] begleitender Stimme sie etwas Erhabenes gaben. Eine dieser Stellen bei Bergotte, die dritte oder vierte, die ich aus dem Rest heraushob, schenkte mir eine Freude, die unvergleichlich war gegenüber der, die ich anfangs gefunden hatte, eine Freude, die mir das Gefühl gab, eine tiefere Region in mir selbst zu erfahren, gleichmäßiger, weiträumiger, in der Hindernisse und Schranken aus dem Wege geräumt zu sein schienen. Das kam daher, dass ich, als ich diese Neigung zu seltenen Ausdrücken, diese musikalische Ausstrahlung, diese idealistische Lebenseinstellung wiedererkannte, die zuvor, ohne dass ich mir darüber im klaren gewesen wäre, der Grund meiner Freude war, mich nun nicht mehr nur in der Gegenwart eines besonderen Abschnitts aus einem bestimmten Buch von Bergotte befand, der in die Oberfläche meines Denkens eine gänzlich eindimensionale Gestalt einzeichnete, sondern vielmehr des »idealen Abschnitts« von Bergotte, der allen seinen Büchern gemeinsam war und in dem all die ähnlichen Stellen, die sich mit dieser vermengten, ihr eine Art von Dichte, von Räumlichkeit gaben, durch die mein Geist gewachsen zu sein schien.

Ich war nicht ganz der einzige Bewunderer Bergottes; er war außerdem der bevorzugte Schriftsteller einer sehr belesenen Freundin meiner Mutter; um sein zuletzt erschienenes Buch zu lesen, ließ Doktor du Boulbon seine Patienten warten; und aus seinem Sprechzimmer und aus einem Park in der Nähe von Combray flogen einige der ersten Samen jener Vorliebe für Bergotte davon, einer damals seltenen, heute jedoch weltweit verbreiteten Art, deren ideale und zugleich gewöhnliche Blüte man überall in Europa und Amerika noch in den kleinsten Dörfern findet. Was die Freundin meiner Mutter und anscheinend auch Doktor du Boulbon*, wie auch ich, am meisten an den Büchern von Bergotte liebten, waren dieser gleichmäßige melodische Fluss, die altertümlichen Ausdrücke und einige andere, die zwar sehr einfach und wohlbekannt [136] waren, die an der Stelle jedoch, an die er sie ins Licht rückte, seinen ganz besonderen Geschmack zu enthüllen schienen; schließlich auch, an den traurigen Stellen, eine gewisse Schroffheit, ein fast grober Ton. Und er selbst dürfte zweifellos gespürt haben, dass hierin seine größten Reize lagen. Denn in seinen späteren Büchern unterbrach er, wenn er auf eine große Wahrheit oder auf eine berühmte Kathedrale kam, seinen Vortrag und ließ in einer Anrufung, einem Lobgesang, einem langen Gebet, jenen Ergießungen freien Lauf, die in seinen ersten Büchern in seiner Prosa eingeschlossen blieben, nur angedeutet durch Schwingungen an der Oberfläche, sanfter und harmonischer, wenn sie dergestalt verschleiert waren, und von denen man nicht in genauer Weise angeben konnte, wo ihr Murmeln entsprang und wo es sich verlor. Die Abschnitte, in denen er sich gefiel, waren unsere Lieblingsabschnitte. Ich selbst kannte sie auswendig. Ich war enttäuscht, wenn er den Faden seiner Erzählung wieder aufnahm.