Jedesmal, wenn er von etwas sprach,
dessen Schönheit mir bis dahin verborgen geblieben war, von
Pinienwäldern, vom Hagel, von Notre-Dame in Paris, von
Athalie oder Phèdre, ließ er deren Schönheit in einem Bild bis zu
mir hin aufleuchten. Und da ich auch spürte, wie viele
Bestandteile der Welt es gab, die meine schwache Wahrnehmung nicht
würde erkennen können, wenn er sie mir nicht
näherbrachte, wollte ich seine Meinung, eine Metapher von ihm
für alles haben, vor allem für alles, was zu sehen ich
selbst Gelegenheit haben würde, und darunter wieder ganz
besonders für die alten Baudenkmäler Frankreichs und
bestimmte Landschaften am Meer, denn der Nachdruck, mit dem er sie
in seinen Büchern heraufbeschwor, bewies, dass er sie für
reich an Bedeutung und Schönheit hielt.
Unglücklicherweise wusste ich von fast nichts, welche Meinung
er dazu hatte. Ich bezweifelte nicht, dass sie gänzlich
verschieden von der meinigen sein würde, denn sie stieg aus
einer unbekannten [137]
Welt hernieder, zu der ich
mich zu erheben suchte; überzeugt, dass meine Gedanken diesem
vollendeten Geist als gänzlich stümperhaft erscheinen
müssten, hatte ich so reinen Tisch mit allem gemacht, dass
mein Herz, wenn ich in einem seiner Bücher einen Gedanken
wiederfand, den ich selbst auch schon gehabt hatte, aufging, als
habe ein Gott ihn mir in seiner Güte zurückgegeben und
für schön und berechtigt erklärt. Es kam manchmal
vor, dass er auf einer Seite das gleiche sagte, was ich nachts,
wenn ich nicht schlafen konnte, oft an meine Großmutter oder
meine Mutter schrieb, so völlig das gleiche, dass diese
Buchseite von Bergotte wie eine Sammlung von Leitsätzen
wirkte, die ich an den Anfang meiner Briefe hätte setzen
können. Auch später noch, als ich begonnen hatte, selbst
ein Buch zu schreiben, fand ich, wenn mir ein Satz zu
ungenügend erschien, um damit fortzufahren, einen
entsprechenden Satz bei Bergotte. Aber bevor ich sie nicht in
seinem Werk gelesen hatte, mochten sie mir nicht gefallen; solange
ich sie formulierte, war ich von der Sorge erfüllt, dass sie
auch genau das wiedergäben, was ich als mein Denken wahrnahm,
und fürchtete zu sehr, dass sie nicht »treffend«
sein könnten, als dass ich die Zeit gehabt hätte, mich zu
fragen, ob denn das, was ich schrieb, angenehm zu lesen sei! Aber
in Wirklichkeit liebte ich nur diese Art von Sätzen, diese Art
von Gedanken wirklich. Meine rastlosen und unbefriedigenden
Bemühungen waren selbst ein Mal der Liebe, einer freudlosen, aber tiefen Liebe.
Wenn ich
plötzlich Sätze gleicher Art im Werk eines anderen
fand, so hatte ich
sozusagen keine Bedenken, keine Vorurteile, und gab mich ohne
schlechtes Gewissen den Köstlichkeiten des Geschmacks hin, den
ich in ihnen fand, wie ein Koch, der, wenn er sich einmal nicht um
seine Küche zu kümmern braucht, endlich Zeit findet,
selbst den Genießer zu spielen. Eines Tages, als ich in einem
Buch von Bergotte im Zusammenhang mit einer alten Dienerin eine
scherzhafte Wendung gefunden hatte, [138] die die
erhabene und feierliche Sprache des Autors noch weiter ironisierte,
die ich aber selbst schon hin und wieder gegenüber meiner
Großmutter über Françoise benutzt hatte, oder ein
anderes Mal, als ich sah, dass er es nicht verschmähte, in
einem der Spiegel der Wirklichkeit, die seine Werke waren, eine
Bemerkung einzuflechten, die ganz der glich, die ich bei
Gelegenheit schon über unseren Freund Monsieur Legrandin
gemacht hatte (Bemerkungen über Françoise und Monsieur
Legrandin, die ganz sicher zu denen gehörten, die ich mit
größter Bereitwilligkeit Bergotte in der
Überzeugung, dass er sie belanglos finden würde, geopfert
hätte), schien es mir unversehens, als lägen mein
bescheidenes Leben und die Königreiche der Wahrheit doch nicht
so weit auseinander, wie ich geglaubt hatte, dass sie sich sogar in
bestimmten Punkten überlagerten, und aus Zuversicht und Freude
weinte ich über den Seiten des Autors wie in den Armen eines
wiedergefundenen Vaters.
Aufgrund
seiner Bücher stellte ich mir Bergotte als einen schwachen und
verbitterten Alten vor, der Kinder verloren hatte und niemals
darüber hinweggekommen war. Während ich las, sang ich
innerlich seine Prosa, vielleicht etwas mehr dolce oder lento* als er
sie geschrieben hatte, und der einfachste Satz wandte sich mit
anrührender Intonation mir zu. Mehr als alles liebte ich seine
Lebensweisheit, ihr gab ich mich für immer hin. Sie ließ
mich ungeduldig das Alter erwarten, in dem ich auf das Gymnasium
gehen und die Philosophieklasse* besuchen würde. Aber ich wollte nicht, dass
man dort noch andere Sachen machte als ausschließlich von den
Gedanken Bergottes zu leben, und wenn man mir gesagt hätte,
dass die Philosophen, mit denen ich mich dann beschäftigen
würde, mit ihm nicht das geringste gemein hätten,
wäre ich so verzweifelt wie ein Verliebter gewesen, der das
ganze Leben lang treu sein will und dem man von all den anderen
Geliebten erzählt, die er später einmal haben
würde.
[139] Eines Tages wurde ich durch Swann, der
meine Eltern besuchen wollte, von meiner Lektüre im Garten
aufgestört. »Was lesen Sie denn da, darf man mal sehen?
Schau an, Bergotte? Wer hat Sie denn auf seine Werke aufmerksam
gemacht?« Ich sagte ihm, Bloch. »Ah ja, der Junge, den
ich hier einmal gesehen habe, und der so sehr Bellinis Porträt
von Muhammad II.*
ähnelt. Das ist wirklich verblüffend, er hat die gleichen gewinkelten
Augenbrauen, die gleiche gekrümmte Nase, die gleichen
vorspringenden Wangenknochen. Wenn er noch einen Kinnbart
hätte, wäre es dieselbe Person. Jedenfalls hat er
Geschmack, Bergotte ist ein bezaubernder Geist.« Und als er
sah, wie sehr ich anscheinend Bergotte bewunderte, machte Swann,
der aus Rücksichtnahme niemals über die Leute sprach, die
er kannte, eine Ausnahme und sagte zu mir: »Ich kenne ihn
gut, wenn Sie gern möchten, dass er Ihnen eine Widmung in Ihr
Buch schreibt, könnte ich ihn darum bitten.« Ich wagte
nicht, dieses Angebot anzunehmen, sondern stellte Swann Fragen
über Bergotte: »Können Sie mir sagen, welchen
Schauspieler er besonders schätzt?« –
»Schauspieler? Das weiß ich nicht, aber ich weiß,
dass er keinen männlichen Künstler für vergleichbar
mit der Berma hält, die Berma schätzt er höher als alle anderen. Haben Sie
sie gehört?« – »Nein, Herr Swann, meine
Eltern erlauben mir nicht, ins Theater zu gehen.« –
»Das ist bedauerlich. Sie sollten sie fragen. Die Berma
in Phèdre,
im Cid*
– sie ist, wenn Sie so
wollen, nichts weiter als eine Darstellerin, aber wissen Sie, ich
glaube nicht an die Hierarchie in
den Künsten.« (Mir fiel auf, wie schon zuvor, wenn er
mit den Schwestern meiner Großmutter über ernsthafte
Dinge sprach, wie er einen Ausdruck, der eine Meinung über
eine wesentliche Angelegenheit zu enthalten schien, sorgfältig
mit einer besonderen, gekünstelten und distanzierten
Intonation heraushob, als ob er ihn in Gänsefüßchen
setzte, als wollte er nicht die Verantwortung dafür
übernehmen und sagen: »Die Hierarchie, na Sie wissen [140]
doch, was halt die dummen
Leute so sagen?« Aber wenn es so dumm war, warum sagte er
dann »Hierarchie«?). Einen Augenblick später
fügte er hinzu: »Diese Bücher geben Ihnen eine so
edle Sichtweise wie nur die größten Werke, wie, ich
weiß nicht …« – er fing an zu lachen
– »wie die Königinnen von Chartres*!«
Bis dahin war mir sein Widerwille, seine Meinung ernsthaft
auszudrücken, wie etwas Vornehmes und
Großstädtisches vorgekommen, das er gegen den
provinziellen Dogmatismus der Schwestern meiner Großmutter
stellte; und ich ahnte auch, dass es sich dabei in den Kreisen
Swanns um eine Form des Witzes handelte, mit dem man die
Schwärmerei früherer Generationen durch ein
übertriebenes Gewicht auf kleinen, exakten Tatsachen ausglich,
die früher für vulgär galten, und den
»Phrasen« abschwor. Jetzt aber fand ich etwas Abstoßendes in
Swanns Einstellung den Dingen gegenüber. Es wirkte, als wage
er nicht, eine Meinung zu haben, und hätte nur Ruhe, wenn er
genaue Auskünfte in umständlicher Darlegung erteilen
konnte. Er legte sich keine Rechenschaft darüber ab, dass auch
schon in der Behauptung, die Genauigkeit in den Einzelheiten sei
von großer Wichtigkeit, das Bekenntnis einer Meinung steckte.
Ich dachte wieder an jenes Abendessen, an dem ich so traurig war,
weil Maman nicht in mein Zimmer kommen wollte, und bei dem er
gesagt hatte, die Bälle bei der Prinzessin von Léon
seien ganz unwichtig. Und doch verbrachte er sein Leben mit dieser
Art von Vergnügungen. Ich fand das alles widersprüchlich.
Für welches Leben wollte er es sich denn aufsparen, ernsthaft
zu sagen, was er über die Dinge dachte, seine Ansichten ohne
Gänsefüßchen vorzubringen, und sich nicht mit
verfeinerter Höflichkeit den Beschäftigungen hinzugeben,
von denen er gleichzeitig bekannte, dass sie lächerlich seien?
Andererseits bemerkte ich in der Art, wie Swann mit mir über
Bergotte sprach, auch etwas, das ihm keineswegs eigentümlich
war, sondern zu der Zeit vielmehr allen Bewunderern des
[141] Schriftstellers gemeinsam, von der Freundin meiner Mutter
bis zu Doktor du Boulbon. Wie Swann sagten sie von Bergotte:
»Das ist ein bezaubernder Geist, so originell, er hat eine
etwas gesuchte Art an sich, die Dinge zu sagen, aber so
hinreißend. Man braucht gar nicht auf das Titelblatt zu
schauen, man erkennt sofort, dass er es ist.« Aber niemand
wäre so weit gegangen zu sagen: »Das ist ein
großer Schriftsteller, er hat wirklich großes
Talent.« Sie sagten nicht einmal, dass er Talent habe. Sie
sagten es nicht, weil sie es nicht wussten. Wir brauchen sehr
lange, bis wir in dem besonderen Gepräge eines neuen
Schriftstellers das Modell wiedererkennen, das im Museum unserer
allgemeinen Vorstellungen die Bezeichnung »großes
Talent« trägt.
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