Monsieur Swann war, obwohl
viel jünger als mein Großvater, mit diesem eng
befreundet, der seinerseits einer der besten Freunde von Swanns
Vater gewesen war, eines trefflichen, aber seltsamen Mannes, bei
dem, schien es, zuweilen schon eine Bagatelle genügte, um den
Schwung seines Herzens zu unterbrechen, den Lauf seiner Gedanken
umzuleiten. Mehrmals im Jahr konnte ich meinen Großvater bei
Tisch die immer gleiche Anekdote erzählen hören über
das Verhalten des alten Monsieur Swann beim Tod seiner Frau, bei
der er Tag und Nacht gewacht hatte. Mein Großvater, der ihn
seit langem nicht mehr
gesehen hatte, war sofort zu ihm auf den Landsitz geeilt, den die Swanns in der
Nähe von Combray besaßen, und hatte, damit er nicht
zugegen sein würde, wenn man sie in den Sarg legte, erreicht,
dass Swann, noch ganz in Tränen aufgelöst, das
Sterbezimmer verließ. Sie gingen ein paar Schritte durch den
Park, in dem die Sonne [26]
ein wenig schien.
Plötzlich rief Monsieur Swann aus, wobei er meinen
Großvater am Arm packte: »Ah!, alter Freund, welche
Freude, bei so schönem Wetter gemeinsam spazieren zu gehen.
Finden Sie diese ganzen Bäume nicht reizend, diesen
Weißdorn und meinen Teich, zu dem Sie mir niemals gratuliert
haben? Sie machen ja ein Gesicht wie eine Nachtmütze.
Spüren Sie nicht diese leichte Brise? Ah!, sagen Sie
was Sie wollen, das
Leben hat trotz allem auch sein Gutes, mein lieber Amédée!«
Unvermittelt kam ihm die Erinnerung an seine verstorbene Frau zurück, und da es
ihm offenbar zu kompliziert war herauszufinden, wie er sich in einem
solchen Augenblick
einer freudigen Regung hatte überlassen können,
begnügte er sich mit einer Geste, die er zu machen pflegte wann
immer eine schwierige Frage
sich seinem Geist stellte, nämlich der, sich mit der Hand über die Stirn zu
fahren und über
die Gläser seines Kneifers und seine Augen zu wischen.
Er konnte sich indes
über den Tod seiner Frau nicht hinwegtrösten, sondern
pflegte während der zwei Jahre, die er sie überlebte, zu
meinem Großvater zu sagen: »Das ist komisch; ich denke
oft an meine liebe Frau, aber ich kann nie viel auf einmal an sie
denken*.« »Oft, aber nicht
viel auf einmal, wie der gute alte Swann« war eine der
Lieblingsredensarten meines Großvaters geworden, die er bei
den mannigfaltigsten Gelegenheiten anbrachte. Swanns Vater
wäre mir zweifellos als ein Ungeheuer erschienen, wenn nicht
mein Großvater, den ich für den besten Richter hielt,
einen Richter, dessen Urteil für mich die Gerechtigkeit selbst
darstellte und der mich in späteren Jahren dazu anhielt,
Nachsicht mit Fehlern zu üben, die ich vielmehr zu verdammen
geneigt war, ausgerufen hätte: »Aber was denn? Er hatte
ein Herz von Gold!«
Während
vieler Jahre ahnten meine Großtante und meine
Großeltern nicht, dass der jüngere Swann, obgleich er
sie, insbesondere vor seiner Hochzeit, öfter in Combray
besuchte, [27] überhaupt nicht mehr in jener
Gesellschaft verkehrte, die mit seiner Familie Umgang gehabt hatte,
und dass sie unter dem Schutz des Inkognitos, das ihm der Name
Swann bei uns sicherte, mit der vollkommenen Unschuld ehrlicher
Wirtsleute, die unwissentlich einen berüchtigten Banditen bei
sich beherbergen, eines der vornehmsten Mitglieder des
Jockey-Clubs* zu Besuch hatten, einen besonderen Freund des
Grafen von Paris* und des Prinzen von
Wales*, einen der gefragtesten
Männer der höheren Gesellschaft des Faubourg
Saint-Germain.
Die
Ahnungslosigkeit, in der wir uns hinsichtlich dieses
glänzenden weltlichen Lebens Swanns befanden, rührte
offensichtlich zum Teil von seinem zurückhaltenden und
bescheidenen Charakter her, aber auch daher, dass das damalige
Bürgertum sich von der Gesellschaft eine Vorstellung wie die
Hindus machte und meinte, sie sei aus geschlossenen Kasten
gefügt, in denen sich jeder, von seiner Geburt an, in eben der
Position befand, die seine Eltern innegehabt hatten, und aus denen
einen nichts außer den Unwägbarkeiten einer
außergewöhnlichen Karriere oder einer unverhofft
günstigen Ehe herausreißen könnte, um einen in eine
höhere Kaste aufsteigen zu lassen. Der ältere Monsieur
Swann war Börsenmakler gewesen; »Swann junior«
fand sich also für den Rest seines Lebens einer Kaste
zugehörig, in der die Vermögen wie in einer Steuerklasse
nur zwischen diesem und jenem Einkommen* schwankten. Man
wusste, welche Geschäftsbeziehungen sein Vater gehabt hatte,
und wusste somit auch, welche er selbst hatte, mit welchen Leuten
er »seinen Verhältnissen nach« verkehren konnte.
Soweit er noch andere kannte, so waren das Jugendbekanntschaften,
gegenüber denen die alten Freunde seiner Familie, wie etwa
meine Eltern, umso wohlwollender die Augen schlossen, als er auch,
nachdem er zur Waise geworden war, getreulich fortfuhr, uns zu besuchen; aber man konnte
sich darauf verlassen, dass diese uns [28] unbekannten Leute, mit denen er sich traf, zu denen
gehörten, die er nicht zu grüßen gewagt hätte,
wenn sie ihm in unserer Anwesenheit begegnet wären. Wollte man
unbedingt Swann einen sozialen Koeffizienten zuordnen, der ihn im
Vergleich mit den Söhnen anderer Makler in ähnlicher
Position wie der seiner Eltern charakterisierte, so wäre
dieser Koeffizient für ihn etwas niedriger ausgefallen, denn
als jemand mit einfachen Ansprüchen, der von jeher eine
»Schrulle« für Antiquitäten und Gemälde
hatte, hauste er inzwischen in einem alten Stadtpalais, in dem er
seine Sammlungen anhäufte und das meine Großmutter nur
allzu gern besichtigt hätte, das sich jedoch beim Quai
d’Orléans* befand, einem Viertel, in dem
zu wohnen meine Großtante für unwürdig befand.
»Sind Sie wenigstens Kenner? Ich frage das nur in Ihrem
eigenen Interesse, denn Sie werden es noch so weit bringen, sich
von den Händlern deren Schinken andrehen zu lassen«,
sagte meine Großtante zu ihm; letzten Endes traute sie ihm
nicht die geringste Urteilskraft zu und hatte, sogar hinsichtlich
seines Intellekts, keine allzu hohe Meinung von einem Mann, der
sich bei der Konversation um ernsthafte Themen drückte und
eine reichlich pedantische Genauigkeit an den Tag legte,
nicht nur, wenn er uns
Kochrezepte gab und dabei auf den geringsten Details herumritt,
sondern sogar, wenn sich die Schwestern meiner Großmutter
über künstlerische Themen unterhielten. Wurde er
beispielsweise von ihnen aufgefordert, seine Meinung zu sagen,
seine Bewunderung für ein Bild auszudrücken, so bewahrte er ein geradezu
peinliches Schweigen, kam dagegen aber in Schwung, wenn er
über das Museum, in dem sich das Bild befand, oder über
den Zeitpunkt, zu dem es gemalt wurde, Auskünfte faktischer
Natur erteilen konnte. Doch für gewöhnlich
beschränkte er sich darauf, uns damit zu unterhalten, dass er
jedesmal eine neue Geschichte erzählte, die ihm mit bestimmten
Leuten aus unserem gemeinsamen Bekanntenkreis [29] gerade
widerfahren war, mit dem Apotheker von Combray, mit unserer
Köchin, mit unserem Kutscher. Diese Erzählungen brachten
meine Großtante unfehlbar zum Lachen, ohne dass sie jedoch so
recht zu sagen gewusst hätte, ob wegen der törichten
Rolle, die Swann darin stets übernahm, oder wegen des
geistreichen Witzes, mit dem er sie wiedergab: »Ich muss
schon sagen, Sie sind ein echtes Original, Herr Swann!« Da
sie die einzige etwas gewöhnliche Person in unserer Familie
war, betonte sie, wenn von Swann die Rede war, Fremden gegenüber gern, dass
dieser, wenn er nur wollte, am Boulevard Haussmann* oder in der
Avenue de l’Opéra wohnen könnte, dass er der Sohn
von Monsieur Swann sei, der ihm vier oder fünf Millionen
hinterlassen haben dürfte; aber dass das eben seine Marotte
sei. Eine Marotte übrigens, die sie für so unterhaltsam
für andere hielt, dass sie es in Paris, als Monsieur Swann ihr
zu Neujahr eine Tüte glasierte Maronen brachte, nicht
versäumte, obwohl alle Welt dabeistand, zu ihm zu sagen:
»Ach ja! Herr Swann, Sie wohnen noch immer beim
Weindepot*, damit Sie auch ganz gewiss den Zug nicht
versäumen, wenn Sie nach Lyon wollen?«, wobei sie
über ihr Lorgnon hinweg aus dem Augenwinkel die anderen
Besucher musterte.
Doch
hätte man meiner Großtante gesagt, dass dieser Swann,
der als Swann junior bestens »qualifiziert« war, von
der gesamten »guten Bürgerschaft«, von den
angesehensten Notaren oder Advokaten von ganz Paris empfangen zu
werden (ein Vorrecht, das er zunehmend zu vernachlässigen
schien), gleichsam insgeheim noch ein gänzlich anderes Leben
führte; dass er, nachdem er sich von uns in Paris mit den
Worten verabschiedet hatte, er gehe nach Hause, um sich schlafen zu
legen, gleich an der nächsten Straßenecke umkehrte und
sich in einen Salon begab, auf dem noch keines Maklers oder
Maklersozius Auge hatte ruhen dürfen, dann wäre das
meiner Tante ebenso unglaublich erschienen wie für eine
belesenere Dame [30]
der Gedanke, persönlich
bekannt mit Aristäus zu sein, von dem sie ja wüsste, dass
er nach einer Plauderei mit ihr in den Schoß des Reichs der
Thetis eintauchen würde, in ein Reich, das den Augen der
Sterblichen verborgen ist und wo Vergil* ihn uns als mit
offenen Armen empfangen schildert; oder – um sich an ein Bild
zu halten, das ihr wohl eher vor das geistige Auge treten
dürfte, da sie es auf unseren Nachtischtellern gemalt gesehen
hatte – der Gedanke, Ali Baba* zum Abendessen bei sich
zu haben, der, wenn er wieder allein wäre, in die von
unvorstellbaren Reichtümern glitzernde Höhle eindringen
würde.
Einmal, als er
in Paris nach dem Abendessen zu uns kam und sich entschuldigt
hatte, dass er in voller Gala komme, und nachdem Françoise,
nach seinem Abschied, behauptet hatte, vom Kutscher gehört zu
haben, dass er »bei einer Prinzessin« gespeist habe,
hatte meine Tante die Schultern hochgezogen und mit gelassener
Ironie erwidert, ohne auch nur die Augen von ihrer Strickarbeit zu
heben: »Freilich, bei einer
Halbwelt-Prinzessin!«
Außerdem
hatte sich meine Großtante einen ziemlich ungehörigen
Umgang mit ihm angewöhnt. Da sie meinte, er müsse sich
durch unsere Einladungen geschmeichelt fühlen, fand sie es
ganz selbstverständlich, dass er im Sommer nicht zu uns kam,
ohne einen Korb mit Pfirsichen oder Himbeeren aus seinem Garten am
Arm zu tragen, und dass er mir von seinen Reisen durch Italien
Fotografien von verschiedenen Meisterwerken mitbrachte.
Man scheute
nicht einmal davor zurück, ihn mit Erkundigungen zu
beauftragen, wenn man ein Rezept für eine Sauce
gribiche* oder einen Ananassalat
für die großen Diners brauchte, zu denen man ihn jedoch
nicht einlud, da man ihn nicht für hinreichend bedeutsam
befand, als dass man ihn Fremden hätte vorsetzen mögen,
die zum ersten Mal zu Gast waren. Kam etwa das Gespräch auf
die Prinzen des französischen Königshauses, so sagte
meine [31] Großtante zu Swann, der womöglich einen
Brief aus Twickenham* in der Tasche hatte:
»Das sind Leute, die weder Sie noch ich jemals kennenlernen
werden und auf die wir auch verzichten können, nicht
wahr?« Sie ließ ihn an Abenden, an denen die Schwester
meiner Großmutter sang, das Klavier rücken und die Noten
umblättern – wobei sie sich gegenüber diesem
anderwärts so gesuchten Mann mit der unbefangenen Roheit eines
Kindes verhielt, das mit einem geschätzten Sammlerstück
mit ebenso wenig Vorsicht spielt wie mit einem billigen Gegenstand.
Zweifellos war der Swann, mit dem zur gleichen Zeit so viele
Klubgrößen bekannt waren, ganz verschieden von jenem,
den meine Großtante erschuf, wenn sie abends in dem kleinen
Garten in Combray, nachdem die beiden zögerlichen Schläge
des Glöckchens erklungen waren, die dunkle und undeutliche
Gestalt, die sich, gefolgt von meiner Großmutter, aus einem
schattigen Hintergrund löste und die man an der Stimme
erkannte, mit allem, was sie über die Familie Swann wusste,
anfüllte und zum Leben erweckte. Denn sogar hinsichtlich der
bedeutungslosesten Dinge des Lebens sind wir kein einfach
gefügtes Ganzes, das für die Welt stets sich selbst
gleich bleibt und von dem jeder bloß Kenntnis zu nehmen
braucht wie von einem Frachtbrief oder einem Testament; unsere
gesellschaftliche Persönlichkeit ist eine Schöpfung des
Denkens der anderen. Selbst der so einfache Vorgang, den wir
»einen Bekannten treffen« nennen, ist zum Teil eine intellektuelle Handlung.
Wir statten die physische Erscheinung des Menschen, den wir sehen,
mit all den Vorstellungen aus, die wir von ihm haben, und innerhalb
des Gesamtbildes, das wir uns machen, nehmen diese Vorstellungen
gewiss den größten Teil ein. Es gelingt ihnen
schließlich, so vollkommen die Wangen zu füllen, dem
Umriss der Nase mit solcher Treue zu folgen, sie mischen sich so
trefflich in die Abstufungen des Klangs seiner Stimme, als ob
dieser nur eine durchscheinende Hülle wäre, dass
[32] jedesmal, wenn wir dieses Gesicht sehen oder jene Stimme
hören, es diese Vorstellungen sind, was wir wiederfinden,
worauf wir horchen. Offenkundig hatten es meine Eltern bei dem
Swann, den sie sich zusammengesetzt hatten, aus Unkenntnis
unterlassen, eine Menge von Details aus seinem mondänen Leben
unterzubringen, die für andere Leute, die mit ihm zusammen
waren, einen hinreichenden Grund darstellten, Vornehmheit in seinen
Zügen herrschen und an seiner Adlernase als ihrer
natürlichen Grenze enden zu sehen; doch war es ihnen
auch gelungen, in
diesem von seinem Prestige unberührten, offenen und
großflächigen Gesicht, am Grunde dieser
unterschätzten Augen, den unbestimmten, süßen
Rückstand – halb Erinnerung, halb Vergessen –
unserer müßigen Stunden zu versammeln, die wir nach
unseren wöchentlichen Diners gemeinsam um den Spieltisch oder
im Garten während unserer Zeit ländlicher
Gutnachbarschaft verbracht hatten. Die leibliche Hülle unseres
Freundes war so prall damit wie auch mit einigen Erinnerungen an
seine Eltern gestopft, dass dieser Swann zu einem
vollständigen, lebendigen Wesen geworden war, und zwar in
einem solchen Grade, dass ich den Eindruck habe, die eine Person zu
verlassen und zu einer anderen, ganz verschiedenen, zu wechseln,
wenn ich in meinem Gedächtnis von dem Swann, den ich
später sehr genau kannte, zu jenem ersten Swann übergehe
– zu jenem ersten Swann, durch den ich die reizenden
Irrtümer meiner Jugendzeit wiederfinde und der im übrigen
dem anderen weniger ähnelt als anderen Leuten, die ich zu der
gleichen Zeit kannte, als ob es sich mit unserem Leben so verhielte wie mit einem
Museum, in dem die
Porträts einer bestimmten Zeit alle eine gewisse
Familienähnlichkeit, eine übereinstimmende Tönung aufweisen – zu
jenem von Muße erfüllten ersten Swann, umweht vom Duft der großen
Kastanie, der Himbeerkörbe und eines Zweiges
Estragon.
[33] Eines Tages jedoch, als meine
Großmutter ausgegangen war, um eine Gefälligkeit von
einer Dame zu erbitten, die sie im Sacré-Cœur*
kennengelernt hatte (und mit der sie wegen unseres Kastendenkens
nicht in Verbindung zu bleiben wünschte trotz gegenseitiger
Sympathie), der Marquise von Villeparisis aus dem berühmten
Hause Bouillon*, hatte diese zu ihr gesagt:
»Ich glaube, Sie kennen Herrn Swann sehr gut, der ein guter
Freund meiner Neffen
des Laumes* ist.« Meine
Großmutter kehrte von ihrem Besuch völlig hingerissen
von dem Haus zurück, das auf Gärten hinausging und wo
Madame de Villeparisis ihr empfahl sich einzumieten, wie auch von
einem Westenschneider und seiner Tochter, die ihre Werkstatt im Hof
hatten und in die sie hineingegangen war, um zu fragen, ob man
einen Stich an ihrem Rock anbringen könne, den sie auf der
Treppe eingerissen hatte. Meine Großmutter hatte diese Leute
vollendet gefunden, sie verkündete, dass die Kleine eine Perle
sei und dass der Westenschneider der vornehmste, der beste Mensch
sei, den sie jemals getroffen habe. Denn für sie war
Vornehmheit etwas, das von gesellschaftlicher Stellung ganz und gar
unabhängig ist. Sie war begeistert von einer Antwort, die der
Westenschneider ihr gegeben hatte, und sagte darüber zu Maman:
»Die Sévigné* selbst hätte es nicht
besser sagen können!«; zum Ausgleich sagte sie über
einen Neffen der Madame de Villeparisis, dem sie bei ihr begegnet
war: »Oh, mein Kind, wie ist der
gewöhnlich!«
Die Bemerkung
über Swann hatte jedoch nicht die Wirkung, diesen im Geist
meiner Großtante hinauf-, sondern vielmehr Madame de
Villeparisis herabzustufen. Die Hochachtung, die wir aufgrund des
Zeugnisses meiner Großmutter für Madame de
Villeparisis* hegten, schien für diese
die Verpflichtung nach sich zu ziehen, nichts zu tun, wodurch sie
weniger würdig erscheinen könnte, und die sie
verabsäumt hatte, indem sie die Existenz von Swann anerkannte
und Verwandten von sich gestattete, mit ihm zu verkehren.
[34] »Was, sie kennt Swann? Und das als eine Person, von
der du behauptest, sie sei eine Verwandte des Marschalls
Mac-Mahon*!« Diese Ansicht meiner
Verwandten über Swanns Umgang schien für sie schon bald
durch seine Heirat mit einer Frau aus dem übelsten Milieu
bestätigt zu werden, praktisch einer Dirne, die er zwar
niemals bei uns einzuführen suchte, vielmehr kam er weiterhin
allein zu uns, wenn auch immer seltener, derentwegen sie jedoch
glaubten, sich von dem ihnen unbekannten Milieu, in dem er
gewöhnlich verkehrte – in der Annahme, er habe sie dort
aufgegabelt –, ein Bild machen zu können.
Dann aber las
mein Großvater in der Zeitung, dass Monsieur Swann einer der
ständigen Gäste bei den Sonntagmittag-Empfängen des
Herzogs von X… sei, dessen Vater und Onkel die
herausragendsten Staatsmänner während der Regentschaft
Louis-Philippes* gewesen waren. Mein
Großvater war nun zwar neugierig auf alle die kleinen
Einzelheiten, die ihm dabei behilflich sein könnten,
gedanklich in das Privatleben solcher Männer wie
Molé*, wie der Herzog
Pasquier*, wie der Herzog von Broglie* einzudringen.
Er war hocherfreut zu erfahren, dass Swann mit Leuten verkehrte,
die diese gekannt hatten. Meine Großtante dagegen deutete
diese Nachricht vielmehr in einem für Swann ungünstigen
Sinn: jemand, der es vorzog, seinen Umgang außerhalb der
Kaste zu suchen, in die er geboren war, außerhalb seiner
eigenen gesellschaftlichen »Klasse«, unterwarf sich in
ihren Augen einer fatalen Deklassierung. Es kam ihr vor, als
verzichte man mit einem Schlag auf die Frucht all der schönen
Beziehungen mit gutgestellten Leuten, die vorausschauende Familien
löblicherweise für ihre Kinder gepflegt und eingeerntet
hatten (meine Großtante selbst hatte den Umgang mit dem Sohn
eines mit uns befreundeten Notars abgebrochen, weil er eine
Prinzessin* geheiratet hatte und
ihretwegen also aus dem respektablen Rang eines Notarssohnes in den
eines jener Abenteurer, [35]
ehemaligen Kammerdiener oder
Stallburschen hinabgestiegen war, von denen man sich erzählt,
dass selbst Königinnen zuweilen eine Neigung zu ihnen bewiesen
hätten). Sie tadelte die Absicht meines Großvaters,
Swann, wenn er am nächsten Abend zum Essen käme,
über diese seine Freundschaften zu befragen, denen wir auf die
Spur gekommen waren. Die beiden Schwestern meiner Großmutter,
zwei alte Jungfern, die wohl ihren noblen Charakter, nicht aber
ihren Geist hatten, erklärten dagegen, sie könnten nicht
verstehen, welches Vergnügen ihr Schwager denn daran finden
könne, über derlei Nichtigkeiten zu reden. Sie waren
Damen mit höheren Ansprüchen und also außerstande,
sich für das zu interessieren, was man gemeinhin Klatsch
nennt, selbst wenn er von historischem Interesse sein sollte, und
schoren alles über einen Kamm, was sich nicht unmittelbar auf
einen ästhetischen oder tugendhaften Gegenstand bezog. Die
Gleichgültigkeit ihres Denkens gegenüber allem, was auch
nur andeutungsweise zum gesellschaftlichen Leben zu gehören
schien, war so ausgeprägt, dass ihr Gehörsinn – der
seine vorübergehende Nutzlosigkeit schließlich einsah,
nachdem das Tischgespräch einen frivolen oder auch nur
alltäglichen Ton
angenommen hatte, ohne dass diese beiden alten Damen
es auf Themen hätten
zurücklenken können, die ihnen wichtig waren
– seinen
Aufnahmeorganen eine Ruhepause gönnte und sie dem
unverkennbaren Anfangsstadium von Verkümmerung aussetzte.
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