Was ich jetzt
wollte, war Maman, war, ihr gute Nacht zu sagen – ich war auf
dem Pfad, der mich zur Erfüllung dieses Verlangens
führte, schon zu weit gegangen, um wieder umkehren zu
können.
Ich hörte
die Schritte meiner Eltern, die Swann hinausbegleiteten; nachdem
mir die Türglocke verkündet hatte, dass er nun gegangen
war, ging ich ans Fenster. Maman fragte meinen Vater, ob er die
Languste gut gefunden und ob Monsieur Swann noch einmal von dem
Mokka-Eis mit Pistazien genommen habe. »Ich fand es ziemlich
mäßig«, sagte meine Mutter, »ich glaube, das
nächste Mal sollten wir ein anderes Parfum*
ausprobieren.« – »Ich kann gar nicht sagen, wie
verändert Swann mir vorkam«, sagte meine
Großtante, »er ist alt geworden.« Meine
Großtante hatte sich derart daran gewöhnt, in Swann den
ewigen Jüngling zu sehen, dass sie jedesmal wieder erstaunt
war, ihn weniger jung anzutreffen, als dem Alter entsprach, das sie
ihm weiterhin zuschrieb. Und meine Eltern begannen obendrein, ihn
in jener Art gealtert zu finden, die unnormal,
übermäßig, beschämend und wohlverdient
für Junggesellen ist, für alle jene, denen der Tag,
für den es kein Morgen gibt, länger ist als für
andere, weil er leer ist und sich seine Augenblicke von der
Frühe an summieren, ohne sich unter Kindern aufteilen zu
müssen. »Ich glaube, dass er viele Sorgen mit seiner
Schlampe von Frau hat, die, wie ganz Combray weiß, mit einem
gewissen Herrn de [53]
Charlus* verkehrt. Es
ist das Stadtgespräch.« Meine Mutter merkte an, dass er
seit einiger Zeit einen weniger traurigen Eindruck mache. »Er
macht auch weniger häufig diese Geste, sich ganz wie sein
Vater die Augen zu wischen und mit der Hand über die Stirn zu
fahren. Aber ich glaube, im Grunde liebt er diese Frau nicht
mehr.« – »Aber natürlich liebt er sie nicht
mehr«, erwiderte mein Großvater. »Ich habe von
ihm vor langer Zeit einen Brief über dieses Thema erhalten,
den nicht weiter zu beachten ich mich bemüht habe, der aber
keinen Zweifel über seine Gefühle für seine Frau,
zumindest seine Liebe, offenlässt. Ja sowas!« fügte
mein Großvater zu seinen beiden Schwägerinnen gewandt
hinzu, »nun habt ihr euch ja gar nicht für den Asti
bedankt.« – »Wie bitte? Wir hätten uns nicht
bedankt? Ich glaube eher, unter uns gesagt, dass ich es ihn in
äußerst feinsinniger Weise habe wissen lassen«,
erwiderte meine Tante Flora. – »Ja, das hast du sehr
geschickt gemacht: ich habe dich bewundert«, sagte meine
Tante Céline. – »Aber du warst auch sehr
gut.« – »Ja, ich war recht stolz auf meine
Bemerkung über liebenswürdige Nachbarn.« –
»Was, das nennt ihr euch bedanken?« rief mein
Großvater aus, »ich habe das zwar gehört, aber der
Teufel soll mich holen, wenn ich geglaubt habe, dass das auf Swann
gemünzt war. Ihr könnt sicher sein, dass er davon nichts
verstanden hat.« – »Aber geh, Swann ist doch
nicht dumm, ich bin sicher, dass er es zu würdigen gewusst
hat. Ich hätte ja wohl nicht die Zahl der Flaschen und den
Preis des Weines erwähnen sollen!« Mein Vater und meine
Mutter blieben allein zurück und setzten sich noch etwas; nach
einer Weile sagte mein Vater: »Nun gut, wenn du willst, gehen
wir jetzt hinauf ins Bett.« – »Wenn du willst,
mein Lieber, ich freilich bin noch keine Spur müde; es ist
sicherlich nicht dieses saft- und kraftlose Mokka-Eis, das mich
wachhält; aber ich sehe noch Licht im Dienstbotenzimmer, und
da die gute Françoise noch auf mich gewartet hat, will ich
sie bitten, mir mein Korsett aufzuschnüren,
[54] während du dich ausziehst.« Und meine Mutter
öffnete die Gittertür, die vom Hof zur Treppe
führte. Bald darauf hörte ich, wie sie heraufkam, um ihr
Fenster zu schließen. Ich schlich mich in den Flur; mein Herz
schlug so heftig, dass ich Mühe hatte, vorwärtszukommen,
doch nun schlug es weniger aus Beklommenheit, sondern vor freudigem
Schrecken. Ich sah im Treppenhaus den Lichtschein, den Mamans Kerze
vorauswarf. Dann sah ich sie selbst; ich stürzte hervor. Im
ersten Augenblick starrte sie mich erstaunt an, ohne zu begreifen,
was los war. Dann verzog sich ihr Gesicht zu einem zornigen
Ausdruck, sie sagte kein einziges Wort zu mir, und tatsächlich
war es schon wegen viel geringfügigerer Sachen vorgekommen,
dass man mehrere Tage lang nicht mit mir gesprochen hatte.
Hätte Maman nur ein einziges Wort zu mir gesagt, so hätte
dies das Eingeständnis bedeutet, dass man mit mir reden
könne, und dieses wäre mir womöglich noch
schrecklicher erschienen, als ein Zeichen, dass im Verhältnis
zur Schwere der in Aussicht stehenden Bestrafung Schweigen und
Zerwürfnis ein Kinderspiel wären. Ein Wort, das
hätte jene Gelassenheit bedeutet, mit der man einem
Dienstboten antwortet, dem zu kündigen man soeben beschlossen
hat; oder mit der man einem Sohn einen Abschiedskuss gibt, den man
auf den Weg schickt, sich beim Militär zu verpflichten, was
man ihm jedoch verwehrt haben würde, wenn es damit getan
gewesen wäre, zwei Tage lang mit ihm zerstritten zu sein. Aber
sie hörte meinen Vater aus dem Toilettenzimmer, in dem er sich
ausgekleidet hatte, heraufkommen und sagte, um die Szene zu
vermeiden, die er mir machen
würde, mit zornerstickter Stimme: »Zisch ab, zisch ab,
damit wenigstens dein Vater dich nicht hier herumlungern
sieht wie einen
Trottel!« Aber ich wiederholte: »Komm und sag mir gute
Nacht«, während ich voller Schrecken den Schein der
Kerze meines Vaters sich schon auf der Wand abzeichnen sah, aber
auch sein Nahen als Mittel der [55] Erpressung nutzte, in der Hoffnung, dass Maman, um zu
vermeiden, dass mein Vater mich dort noch antreffen würde,
wenn sie sich länger weigerte, schließlich zu mir sagen
würde: »Geh in dein Zimmer zurück, ich werde gleich
kommen.« Es war zu spät, mein Vater stand schon vor uns.
Unwillkürlich murmelte ich, ohne dass jemand es hörte,
die Worte: »Ich bin verloren!«
Es kam
anders. Mein Vater
verweigerte mir beständig Freiheiten, die mir
in den umfassenderen, von
meiner Mutter und meiner Großmutter durchgesetzten Abkommen
zugestanden waren, denn er scherte sich nicht um
»Prinzipien« und wusste nichts von
»Menschenrechten«. Aus einem ganz unvorhersagbaren
Grund, oder sogar aus überhaupt gar keinem, verbot er mir im
letzten Augenblick einen doch so gewohnten, so geheiligten
Spaziergang, den man mir nicht entziehen konnte, ohne
eidbrüchig zu werden, oder er sagte, wie es erst wieder an
diesem Abend geschehen war, lange vor der gewohnten Zeit: »Ab
ins Bett und keine Diskussion!« Aber da er keine Prinzipien
(im Sinne meiner Großmutter) hatte, konnte man ihm auch
Starrsinn nicht eigentlich unterstellen. Er schaute mich einen
Augenblick mit erstaunter und ärgerlicher Miene an, doch
nachdem Maman ihm in ein paar verlegenen Worten erklärt hatte,
was vorgefallen war, sagte er: »Aber dann geh doch mit ihm,
du hast doch gerade gesagt, dass du noch keine Lust zu schlafen
hast, bleib ein bisschen in seinem Zimmer, ich selbst brauche
nichts mehr.« – »Aber, mein Lieber«,
antwortete meine Mutter zögernd, »ob ich nun Lust habe
zu schlafen oder nicht, das ändert nichts, man darf das Kind
nicht daran gewöhnen …« – »Aber es
geht doch nicht ums Gewöhnen«, sagte mein Vater
achselzuckend, »du siehst doch, dass der Kleine Kummer hat,
das Kind hat ja einen ganz verzweifelten Ausdruck; na also, wir
sind doch keine Kindsmörder! Wenn du ihn krank werden
ließest, hättest du ja schön was erreicht! Wo jetzt
zwei Betten in seinem Zimmer stehen, da [56] sag doch
Françoise, dass sie dir das große zurechtmacht und
schlaf für diese Nacht in seiner Nähe. Also gute Nacht,
ich bin nicht so nervös wie ihr, ich geh
schlafen!«
Man konnte
meinem Vater nicht danken; man hätte ihn dann nur mit dem
gereizt, was er als sentimentales Zeug bezeichnete. Ich stand da
und wagte nicht, mich zu bewegen; er stand noch vor uns,
groß, in seinem weißen Nachtgewand unter dem violett
und rosa gefärbten Kaschmirschal aus Indien, den er sich um
den Kopf zu wickeln pflegte, seit er an Neuralgien litt, mit der
Geste in dem Stich nach Benozzo Gozzoli*, den mir Swann
geschenkt hatte, als Abraham Sarah befiehlt, von Isaaks Seite zu
weichen*. Das alles ist nun schon viele
Jahre her. Die Wand der Treppe, auf der ich den Schein seiner
Kerze habe heraufkommen sehen, gibt es schon lange nicht
mehr*. Auch in mir sind
viele Dinge zerstört worden, von denen ich geglaubt hatte, sie
währten ewiglich, und neue haben sich aufgebaut, die neue
Schmerzen und Freuden hervorbrachten, die ich damals nicht
hätte erahnen können, ganz so wie mir die alten schwer
verständlich geworden sind.
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