In diesem besonderen Falle drückte sich der Artikel ihres Kodex, nach dem es wenig wahrscheinlich erschien, dass Françoise, außer im Falle einer Feuersbrunst, Maman in Gegenwart von Monsieur Swann wegen einer so unbedeutenden Person, wie ich es war, stören würde, schlicht in dem Respekt aus, den sie nicht nur gegenüber meinen Eltern zum Ausdruck brachte – wie auch gegenüber den Toten, den Geistlichen und den Königen –, sondern ebenso gegenüber dem Fremden, dem man Gastfreundschaft gewährt, ein Respekt, der mich vielleicht in einem Buch gerührt hätte, in ihrem [46] Mund jedoch immer durch den ernsthaften, ergriffenen Ton reizte, in dem sie von ihm zu sprechen pflegte, ganz besonders an diesem Abend, an dem der sakrale Charakter, den sie diesem Abendessen verlieh, ihre Weigerung zur Folge haben würde, die heilige Handlung zu stören. Um überhaupt eine Chance zu haben, griff ich bedenkenlos zu einer Lüge und sagte ihr, dass ja keineswegs ich es sei, der an Maman habe schreiben wollen, sondern dass vielmehr Maman, als sie mich verließ, mir aufgetragen habe, nicht zu vergessen, ihr Antwort wegen einer Sache zu schicken, nach der zu suchen sie mich gebeten hatte; und dass sie ganz gewiss sehr ärgerlich sein würde, wenn man ihr nicht diese Nachricht brächte. Ich glaube, dass Françoise mir nicht geglaubt hat, denn wie die Naturmenschen, deren Sinne viel schärfer sind als die unsrigen, erkannte sie sofort an für uns nicht wahrnehmbaren Zeichen die ganze Wahrheit, die wir vor ihr zu verbergen suchten. Sie betrachtete fünf Minuten lang den Umschlag, als ob eine Untersuchung des Papiers und der Anblick der Handschrift ihr Aufschluss über die Art des Inhalts geben könnten oder darüber, auf welchen Paragraphen ihres Kodex sie sich hier zu beziehen haben würde. Dann ging sie hinaus mit einer gottergebenen Miene, die zu besagen schien: »Welch ein Unglück für Eltern, ein solches Kind zu haben!« Gleich darauf kehrte sie jedoch zurück, um mir zu sagen, dass man noch nicht beim Eis sei, dass es ganz unmöglich sei, wenn der Hausdiener in einem solchen Augenblick vor allen Leuten einen Brief übergäbe, aber dass sich, wenn man erst einmal beim Mundspülen angekommen sei, schon ein Weg finden werde, ihn Maman zuzustecken. Sogleich ließ meine Ängstlichkeit nach; nunmehr hatte ich auf einmal meine Mutter nicht mehr bis zum nächsten Morgen verlassen, denn meine kleine Nachricht, die sie zweifellos verstimmen würde (und zwar doppelt, da mich meine Schliche in den Augen Swanns lächerlich machen würden), würde es mir zumindest [47] ermöglichen, unsichtbar und beglückt in den Raum einzutreten, in dem sie sich befand, sie würde ihr von mir ins Ohr flüstern; schon öffnete sich mir dieses verbotene, feindliche Esszimmer, das mir gerade eben noch sogar mit dem Eis – dem »Hartgefrorenen« – und den Mundspülschalen* schädliche und todbringend traurige Genüsse zu verbergen schien, da Maman sich ihnen fern von mir überließ, und begann, wie eine reifgewordene Frucht, die ihre Hülle sprengt, die Zuneigung, mit der Maman meine Zeilen lesen würde, bis in mein berauschtes Herz zu schleudern, zu ergießen. Nun war ich nicht mehr getrennt von ihr; die Schranken waren gefallen, ein zartes Band vereinte uns wieder. Und das war noch nicht alles: Maman würde ganz gewiss kommen!

Ich nahm nicht an, dass Swann sich über die Herzensangst, die ich damit unter Beweis stellte, mokieren würde, wenn er erst einmal meinen Brief gelesen und seinen Zweck erraten hätte; tatsächlich aber war, wie ich später erfuhr, eine ähnliche Herzensangst viele Jahre hindurch die Qual seines Lebens gewesen, und niemand als er wäre besser in der Lage gewesen, mich zu verstehen; ihn hatte die Liebe mit dieser Herzensangst bekanntgemacht, die man empfindet, wenn man das Wesen, das man liebt, an einem Ort des Vergnügens weiß, an dem man selbst nicht ist, an dem man sich ihm nicht zugesellen kann, die Liebe, für die sie in gewisser Weise vorbestimmt ist, von der sie überwuchert und verfeinert werden wird; wenn sie jedoch, wie in meinem Fall, schon in uns Eingang gefunden hat, bevor noch die Liebe in unser Leben getreten ist, so bleibt sie in ihrer Erwartung in der Schwebe, undeutlich und frei, ohne bestimmte Vorlieben, heute im Dienst des einen, morgen des anderen Gefühls, etwa der kindlichen Zuneigung oder der Freundschaft zu einem Mitschüler. Und die Freude, mit der ich ein erstes Mal Bekanntschaft machte, als Françoise zurückkehrte, um mir zu sagen, dass der Brief zugestellt werden würde, hatte Swann [48] ebenfalls gut gekannt, jene trügerische Freude, die uns irgendein Freund, irgendein Verwandter der Frau, die wir lieben, bereitet, wenn uns, bei der Ankunft im Hotel oder im Theater, in dem sie sich für einen Ball, einen Empfang, eine Premiere befindet, zu der er hingegangen ist, um sie zu treffen, dieser Freund draußen herumirren sieht, verzweifelt auf eine Gelegenheit wartend, mit ihr sprechen zu können. Er erkennt uns, spricht uns ungezwungen an, fragt uns, was wir da machen. Und wenn wir dann vorgeben, wir müssten eine dringende Angelegenheit mit seiner Verwandten oder Bekannten besprechen, versichert er uns, dass nichts einfacher sei, fordert uns auf, ins Foyer einzutreten, und verspricht uns, sie in spätestens fünf Minuten zu uns zu schicken. Wie lieben wir ihn dann – wie liebte ich Françoise in diesem Augenblick –, diesen wohlmeinenden Vermittler, der sich auf ein Wort hin daranmacht, das unvorstellbare Höllenfest für uns ins Erträgliche, Menschliche, fast Erfreuliche zu verwandeln, in dessen Mitte wir teuflische Strudel, widernatürlich und wonnevoll, wähnten, die sie, die wir lieben, von uns fortreißen, sie über uns lachen lassen. Wenn wir von dem Verwandten ausgehend urteilen, der uns angesprochen hat und der ja ebenfalls ein Eingeweihter dieser unerträglichen Geheimnisse ist, so dürften auch die übrigen Gäste dieses Festes schwerlich etwas allzu Dämonisches an sich haben. Diese unbegreiflichen und qualvollen Stunden, in denen sie unvorstellbare Genüsse erleben würde: hier dringen wir durch eine unerwartete Bresche in sie ein; hier ist einer der Augenblicke, deren Abfolge sie zusammengefügt hatte, ein Augenblick ebenso wirklich wie die anderen, aber vielleicht wichtiger für uns, weil unsere Geliebte in sie verstrickt ist – wir verdeutlichen ihn uns, wir ergreifen ihn, wir brechen in ihn ein, wir erschaffen ihn geradezu: den Augenblick, zu dem er ihr sagen wird, dass wir da sind, dort unten. Und gewiss dürften die anderen Augenblicke des Festes nicht wesentlich [49] verschieden sein von diesem hier, dürften schwerlich Köstlichkeiten enthalten, die es rechtfertigen würden, uns so sehr leiden zu lassen, bis unser geneigter Freund uns sagt: »Aber sie wird mit Vergnügen herunterkommen. Es wird ihr gewiss mehr Spaß machen, sich mit Ihnen zu unterhalten, als sich da oben zu langweilen.« Ach!, Swann hatte seine Erfahrungen damit gemacht, dass die guten Absichten eines Dritten nichts vermögen bei einer Frau, die gereizt ist, weil sie sich sogar noch auf ein Fest verfolgt fühlt von jemandem, den sie nicht liebt. Oft kommt der Freund allein zurück.

Meine Mutter kam nicht, und ohne Schonung für meine Selbstachtung (die davon abhing, dass die Geschichte von der Suche, deren Ergebnis ihr mitzuteilen sie mich vorgeblich gebeten hatte, nicht widerlegt werden würde), ließ sie mir durch Françoise die Worte »Antwort wurde nicht gegeben« überbringen, die ich seitdem recht häufig von Empfangschefs irgendwelcher »Nobelrestaurants« oder von Türstehern irgendwelcher Spelunken gegenüber einem armen Mädchen gehört habe, das erstaunt erwiderte: »Was? Er hat nichts gesagt? Aber das ist doch unmöglich! Sie haben doch den Brief richtig zugestellt. Na ja, ich will noch ein wenig warten.« Und nachdem ich – wie auch dieses Mädchen unweigerlich versichert, das zusätzliche Licht, das der Empfangschef für sie anzuzünden bereit ist, nicht zu brauchen, und dort verharrt und nur die gelegentlichen Bemerkungen hört, die dieser mit einem Kellner über das Wetter austauscht, bis er ihn, wenn es Zeit wird, den Wein für einen Gast auf Eis zu legen, plötzlich davonschickt –, das Angebot Françoises, mir einen Kräutertee aufzugießen oder noch ein wenig bei mir zu bleiben, abgelehnt und sie zu ihren Aufgaben hatte zurückkehren lassen, legte ich mich hin, schloss die Augen und versuchte, nicht die Stimmen meiner Eltern zu hören, die im Garten Kaffee tranken. Nach einigen Sekunden merkte ich jedoch, dass ich mir mit diesem Briefchen an Maman, mit dieser Annäherung auf [50] die Gefahr hin, sie zu verstimmen, einer so großen Annäherung, dass ich den Augenblick des Wiedersehens schon glaubte greifen zu können, die Möglichkeit einzuschlafen, ohne sie wiederzusehen, versperrt hatte, und die Schläge meines Herzens wurden von Minute zu Minute bänger, da ich meine Erregung nur noch vermehrte, indem ich mich zu einer Ruhe zu überreden suchte, die einer Hinnahme meines unglücklichen Geschicks gleichgekommen wäre. Plötzlich jedoch fiel meine Ängstlichkeit von mir ab, ein Glücksgefühl durchströmte mich, wie wenn ein starkes Medikament zu wirken beginnt und uns dem Schmerz entreißt: ich hatte den Entschluss gefasst, nicht mehr zu versuchen einzuschlafen, ohne Maman wiedergesehen zu haben, vielmehr sie zu umarmen, koste es was es wolle, sobald sie heraufkäme, um selber schlafen zu gehen, auch wenn dies in der Gewissheit geschähe, dass sie danach eine ganze Weile böse auf mich sein würde. Die Ruhe, die dem Ende meiner Herzensängste folgte, versetzte mich in eine äußerst gehobene Stimmung, nicht weniger als Erwartung, Begierde oder Angst vor Gefahr es tun. Ich öffnete geräuschlos das Fenster und setzte mich auf das Fußende meines Bettes; ich verharrte regungslos, damit man mich unten nicht hörte. Auch die Dinge draußen schienen in stummer Aufmerksamkeit erstarrt, um nicht das Mondlicht zu stören, das, indem es jeden Gegenstand durch den Schatten, dichter und dinglicher als er selbst, den es vor ihm ausbreitete, verdoppelte und entrückte, die Landschaft zugleich flacher und ausgedehnter erscheinen ließ, wie einen zuvor zusammengelegten Plan, den man nun entfaltet. Was sich bewegen musste, wie einige Blätter des Kastanienbaums, bewegte sich. Doch ihr sorgfältiges, umfassendes, bis in die kleinsten Einzelheiten und letzten Feinheiten vollzogenes Erschauern lief nicht auf die anderen Dinge über, machte sich nicht mit ihnen gemein, blieb fest umgrenzt. Dieser Stille, die nichts verschluckte, ausgesetzt, [51] ließen sich noch die entferntesten Geräusche, solche, die aus den Gärten am anderen Ende der Stadt kommen mussten, wahrnehmen, herausgehoben mit einem solchen »Schliff«, dass sie den Eindruck von Distanz einzig ihrer Gedämpftheit zu verdanken schienen, so wie die Stücke en sourdine*, die das Orchester des Konservatoriums derart glänzend aufzuführen versteht, dass man sie, wiewohl man keinen Ton davon verliert, aus weiter Entfernung vom Konzertsaal zu vernehmen meint, und bei denen die alten Abonnenten – die Schwestern meiner Großmutter eingeschlossen, wenn Swann ihnen seine Plätze überließ – die Ohren spitzten, als ob sie auf den entfernten Vormarsch einer Armee horchten, die noch nicht um die Ecke der Rue de Trévise* gebogen ist.

Ich wusste, dass die Situation, in die ich mich gebracht hatte, genau jene war, die für mich die schärfsten Konsequenzen von Seiten meiner Eltern haben würde, sehr viel schärfer letzthin als ein Außenstehender es sich hätte vorstellen können, von einer Art, von der man annehmen sollte, dass nur wirklich schandbare Verstöße sie nach sich ziehen könnten. Doch in der Erziehung, die man mir gab, war die Rangordnung der Vergehen nicht die gleiche wie in der Erziehung der anderen Kinder, und man hatte mir beigebracht, denjenigen den höchsten Rang einzuräumen (zweifellos, weil sie eben jene waren, vor denen ich besonders sorgsam behütet werden musste), von denen ich heute als gemeinsames Merkmal erkannt habe, dass man sie vor allem aus einem nervösen Impuls heraus begeht. Damals sprach man dieses Wort jedoch nicht aus, man benannte nicht diesen Ursprung, der mich hätte glauben lassen können, ich sei entschuldbar, wenn ich sie beginge, oder gar außerstande, sie zu unterlassen. Ich erkannte sie gut an der Herzensangst, die ihnen vorausging, wie an der Härte der ihnen folgenden Züchtigung; und ich wusste, dass der Verstoß, den zu begehen ich im Begriff war, zur Familie jener gehörte, für die ich [52] streng bestraft worden war, nur noch unendlich schwerwiegender. Wenn ich mich meiner Mutter in dem Augenblick, in dem sie heraufkommen würde, um schlafen zu gehen, in den Weg stellte und sie sähe, dass ich aufgeblieben war, um ihr auf dem Flur noch einmal gute Nacht zu sagen, dann würde man mich nicht mehr länger im Hause dulden, man würde mich gleich am nächsten Tag in ein Internat stecken, so viel war sicher. Sei es! Selbst wenn ich mich fünf Minuten später aus dem Fenster würde stürzen müssen, das wäre mir immer noch lieber.