Jedoch ist die eigentliche Kindheit, sogar das Anekdotische darin, so gut wie wahr, hier und da bloß, in einem letzten Anfluge von Nachahmungstrieb, von der konfessionellen Herbigkeit Rousseaus angehaucht, obgleich nicht allzu stark. Es gibt Leute, welche fast alle möglichen Untugenden in blinder Kindheit antizipieren und wie Kinderkrankheiten ausschwitzen, während z.B. zu wetten ist, daß ein recht fleißiger und solider Gründer, der Millionen stiehlt, als Kind niemals die Schule geschwänzt, nie gelogen und nie seine Sparbüchse geplündert hat.
Dagegen ist die reifere Jugend des grünen Heinrich zum größten Teile ein Spiel der ergänzenden Phantasie und sind namentlich die beiden Frauengestalten gedichtete Bilder der Gegensätze, wie sie im erwachenden Leben des Menschen sich bestreiten.
Endlich aber mußte das Buch doch ein Ende erreichen. Der Verleger, welcher sich erst über die unverhoffte Ausdehnung und das langsame Vorrücken desselben beschwert hatte, interessierte sich zuletzt für den wunderlichen Helden und flehte, als Vertreter seiner Abnehmer, um dessen Leben. Allein hier blieb ich pedantisch an dem ursprünglichen Plane hangen, ohne doch eine einheitliche und harmonische Form herzustellen. Der einmal beschlossene Untergang wurde durchgeführt, teils in der Absicht eines gründlichen Rechnungsabschlusses, teils aus melancholischer Laune. Ich nahm die Sache auch insofern von der leichten Seite, als ich dachte, man werde den sogenannten Roman eben als ein Buch nehmen, in welchem mancherlei lesbare Dinge ständen, wie man sich Lesedramen gefallen läßt. So wurde der grüne Heinrich also begraben.
Allein er schläft nicht sehr ruhig; denn wie ich höre wird der arme Kerl in den Mädchenpensionaten, wenn der Sprach- und Literaturlehrer auf das Kapitel des Romanes kommt, stets heraufbeschworen und vor die unaufmerksamen Schülerinnen hingestellt, herumgedreht, hin- und hergeführt und muß als abschreckendes Beispiel dienen, wie ein guter Roman nicht beschaffen sein soll, und es hilft gegen diese grausame Belästigung nicht der Umstand, daß der Ärmste ja mittelst der eigenen Vorrede die Erklärung in der Tasche mit sich führt, daß er kein rechter Roman sei.
Wenn auch ein schlechter, so war ich bei der Dicke des Buches nun doch ein Schriftsteller und begab mich mit dieser letzten verspäteten Jugendstudie wieder über den Rhein zurück.
Gottfried Keller
Autobiographie von 1889
(1889)
Gottfried Keller ist geboren am 19. Juli 1819 in Zürich als Sohn des Drechslermeisters Rudolf Keller von Glattfelden, der 1817 nach der genannten Stadt gezogen war, aber schon im Jahre 1824 im Alter von dreiunddreißig Jahren starb und seine Witwe Elisabeth, geborene Scheuchzer von Zürich, mit zwei Kindern, dem fünfjährigen Knaben und einem dreijährigen Töchterchen hinterließ. Letzteres, nachdem es seit dem Tode der Mutter ein Vierteljahrhundert allein mit dem Bruder zusammen gelebt, ist im Herbst 1888 sechsundsechzigjährig gestorben.
Den Knaben wußte die Mutter bis zum Beginn des sechzehnten Jahres durch die Schulen zu bringen und ihm dann die Berufswahl nach seinen unerfahrenen Wünschen zu gewähren. Im Herbst 1834 kam er zu einem sogenannten Kunstmaler in die Lehre, erhielt später den Unterricht eines wirklichen Künstlers, der aber, von allerlei Unstern verfolgt, auch geistig gestört war und Zürich verlassen mußte. So erreichte Gottfried sein zwanzigstes Jahr, nicht ohne Unterbrechung des Malerwesens durch anhaltendes Bücherlesen und Anfüllen wunderlicher Schreibebücher, ergriff dann aber mit Ostern 1840 auf eigenen und fremden Rat den Wanderstab, um aus dem unsichern Tun hinauszukommen und in der Kunststadt München den rechten Weg zu suchen. Allein er fand ihn nicht und sah sich genötigt, gegen Ende des Jahres 1842 die Heimat wieder aufzusuchen. Während er hier seine Bestrebung im Komponieren großer Phantasielandschaften von neuem aufzunehmen glaubte, geriet er hinter seinen Staffeleien unversehens auf ein eifriges Reimen und Dichten, so daß ziemlich rasch eine nicht eben bescheidene Menge von lyrischen Skripturen vorhanden war.
Um diese Zeit lebte A.A.L. Follen in Hottingen, der vom Wartburgfeste her wegen seiner schönen Gestalt deutscher Kaiser genannt wurde, wie die Sage ging. Er war an der von Julius Fröbel gegründeten Verlagsbuchhandlung »Literarisches Comptoir in Zürich und Winterthur« beteiligt, welche später auch Arnold Ruge nach Zürich zog, als seinen Reformplänen dienend.
Follen, welchem Gottfried Keller nach Art junger Anfänger seinen Erstlingsvorrat vorgelegt, sichtete diese Papiere und veranlaßte die Aufnahme eines Teiles in das vom Literarischen Comptoir herausgegebene »Deutsche Taschenbuch auf das Jahr 1845«, das poetische Beiträge von Hoffmann von Fallersleben, Robert Prutz u.a. brachte. Der zweite und letzte Jahrgang 1846 enthielt einen weiteren Teil, und ein inzwischen entstandener Zyklus von Liedern erschien im Stuttgarter Morgenblatt. Aus diesen Bestandteilen redigierte Follen, der die Sache väterlich an Hand genommen und führte, den ersten Band von Gottfried Kellers Gedichten, der 1846 in Heidelberg erschien.
Um diesen Übergang zur Literatur zu bekräftigen, begann er ein und anderes Kollegium an der Universität zu hören, so Herbartische Psychologie und Geschichte der Philosophie bei Bobrik, und zwar ohne genügende Vorbildung, und tat sich auch sonst etwa bequemlich um, wie ungezogene Lyriker zu tun pflegen. Nur das Dichten trieb er, ebenfalls nach der Weise solcher, gewissenhaft weiter, als ob jeder Tag ohne Vers verloren wäre. Die Aufregungen des Sonderbundskrieges und der darauf folgenden Februar-und Märzrevolutionen verrückten aber den Dichtern den Kompaß und stellten die Zeitlyrik eine Weile kalt. Die einen saßen in den Parlamenten, die andern vertauschten die Poesie mit mißlichen Kriegstaten, für Gottfried Keller eröffnete sich der Ausweg, daß ihm von Seite der Kantonsregierung ein Reisestipendium behufs einer Orientfahrt zur Gewinnung »bedeutender Eindrücke« angeboten wurde, übrigens ohne bestimmteren Zweck. Um solche Reise nutzbringender zu machen, wurde ihm freigestellt, vorher ein Jahr zur Vorbereitung auf einer deutschen Universität zuzubringen. Demnach begab er sich im Herbst 1848 nach Heidelberg; allein statt den ägyptologischen und babylonischen Dingen nachzugehen, ging er denjenigen nach, welche den Tag bewegten und von der Jugend gerühmt wurden. Bei Hermann Hettner, dem er persönlich befreundet wurde, hörte er dessen jugendlich lebendige Vorträge über deutsche Literaturgeschichte, Ästhetik und ein Publikum über Spinoza, bei Henle Anthropologie, bei Ludwig Häußer deutsche Geschichte und als Unikum in seiner Art die Vorträge Ludwig Feuerbachs über das Wesen des Christentums, welche dieser, von einem Teil der Studentenschaft herberufen, auf dem Rathaussaale vor einem Publikum von Arbeitern, Studenten und Bürgern hielt. Durch all das geriet Keller so in den Fluß der Gegenwart hinein, daß er vor Ablauf des Winterhalbjahres schon nach Hause schrieb, ob er das zweite Reisejahr statt in Ägypten, Palästina und der Enden in Deutschland, z.B. in Berlin zubringen dürfte, was ihm sofort bewilligt wurde. Wegen der politischen Ereignisse des Jahres 1849, vorzüglich des badischen Aufstandes, war in diesem Jahre aber in Ortsveränderungen nicht viel zu tun, als bei aller Teilnahme das Mitleid zu empfinden, das der Anblick abgefallener, in ihrem Bewußtsein irre gewordener Truppen unter allen Umständen erweckt, wenn sie von fremder Hand hin und her geworfen werden. So wurde es Ostern 1850, bis Gottfried Keller den Rhein hinunterfuhr und in Berlin anlangte mit der Befugnis, dort noch ein Jahr nach Gutfinden der Pflege seiner literarischen Instinkte zu leben, zu sehen und zu hören, was denselben entgegenzukommen schien. Es geschah aber nicht viel mehr, als daß er sich in dramaturgische Studien zu vertiefen suchte, indem er so oft als möglich in die Theater ging und nachher an Hand des mitgenommenen Zettels, den er aufbewahrte, eine Reihe von Betrachtungen und Folgerungen schrieb, die er für sich aufbehielt.
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