Bartleby, der Schreiber
Herman Melville, geboren am 1. 8. 1819 in New York, ist am 28. 9. 1891 ebendort gestorben.
Bartleby, der Schreiber, die subversive Geschichte einer Verweigerung, erschien erstmals 1853 in Putnam’s Monthly Magazine.
Die Geschichte spielt in der New Yorker Geschäftswelt um die Mitte des 19. Jahrhunderts.
Ein rätselhafter junger Mann wird in einer Kanzlei als Kopist eingestellt: Bartleby. Er fällt zunächst durch Schweigsamkeit und »abweisende Zurückhaltung« auf und beginnt dann, die Ausführung bestimmter Tätigkeiten mit dem Satz »Ich möchte lieber nicht« (im Original: »I would prefer not to«) abzulehnen.
Die unerbittliche Konsequenz des Erzählungsablaufs, die existentielle Problematik und subtile Kritik an einer bürokratisierten Welt ebenso wie die ungemein suggestive Sprache dieser Erzählung machen sie zu einem von Melvilles Meisterwerken.
Jürgen Krug hat seine Neuübersetzung mit einem umfangreichen Kommentar versehen.
Herman Melville
Bartleby, der Schreiber
Eine Geschichte aus der Wall-Street
Aus dem amerikanischen Englisch
übersetzt und mit Erläuterungen versehen
von Jürgen Krug
Insel Verlag
Umschlagabbildung:
Norman Rockwell, Ichabod Crane, um 1940 (Ausschnitt)
eBook Insel Verlag Berlin 2012
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2004
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Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des Bandes
Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus
eISBN 978-3-458-73145-0
www.insel-verlag.de
Inhalt
Bartleby, der Schreiber
Anhang
Ich bin ein schon recht bejahrter Mann. Die Natur meiner seit dreißig Jahren ausgeübten Berufstätigkeit hat mich in ungewöhnlich enge Berührung mit einer, wie mir scheint, interessanten und etwas merkwürdigen Gattung von Menschen gebracht, über die aber bisher, soviel ich weiß, noch nie geschrieben worden ist – ich meine die Aktenkopisten oder Schreiber. Ich habe sehr viele von ihnen gekannt, beruflich und privat, und wenn ich wollte, könnte ich mancherlei Lebensgeschichten erzählen, über die gutmütige Herren vielleicht lächeln und empfindsame Seelen weinen würden. Doch ich übergehe die Biographien aller anderen Schreiber für ein paar Abschnitte aus dem Leben Bartlebys, der ein Schreiber war, und der seltsamste, den ich je gesehen oder von dem ich je gehört habe. Während es sich mit anderen Aktenkopisten so verhält, daß ich ihr ganzes Leben schildern könnte, ist bei Bartleby nichts dergleichen möglich. Für eine vollständige und befriedigende Lebensbeschreibung dieses Mannes gibt es, glaube ich, keine Unterlagen. Das ist ein nicht gutzumachender Verlust für die Literatur. Bartleby gehörte zu den Menschen, über die sich nichts ermitteln läßt, es sei denn aus den Originalquellen, und die sind in seinem Falle sehr dürftig. Was meine eigenen, verwunderten Augen an Bartleby beobachteten, ist alles, was ich von ihm weiß, mit Ausnahme allerdings eines einzigen, vagen Berichts, der im Schlußteil folgen wird.
Ehe ich den Schreiber vorstelle, wie er zuerst vor mir erschien, ist es angebracht, daß ich einige Worte über mich selbst, meine Employés, meinen Beruf, meine Kanzlei und die Umgebung im ganzen sage; denn eine solche Beschreibung ist für ein hinreichendes Verständnis der Hauptperson, die in kurzem geschildert werden soll, unerläßlich.
Imprimis: Ich bin ein Mann, der von Jugend auf zutiefst von der Überzeugung durchdrungen ist, daß die bequemste Lebensweise die beste darstellt. Obwohl ich einem Berufe angehöre, dessen manchmal sogar bis zur Turbulenz gehende Tatkraft und Anspannung sprichwörtlich sind, habe ich es daher nie geduldet, daß etwas Derartiges in meinen Frieden eindrang. Ich bin einer jener ehrgeizlosen Rechtsanwälte, der niemals das Wort an Geschworene richtet oder auf irgendeine Weise den Beifall der Öffentlichkeit auf sich zieht, sondern ich mache, in der kühlen Stille einer behaglichen Zufluchtsstätte, recht einträglich Geschäfte mit den Wertpapieren und Pfandbriefen und Besitzurkunden reicher Leute. Alle, die mich kennen, halten mich für einen in hohem Maße umsichtigen Menschen. Der verblichene John Jacob Astor, eine Persönlichkeit, die wenig zu poetischem Überschwang neigte, erklärte ohne Zögern, mein größter Vorzug sei Vorsicht, der nächste Planmäßigkeit. Ich sage es nicht aus Eitelkeit, sondern berichte es nur als Tatsache, daß der verblichene John Jacob Astor meine Dienste nicht ungenutzt ließ – ein Name, den ich, zugegeben, gerne wiederhole, denn er hat einen vollen und gerundeten Ton und klingt wie Barrengold. Ich will freimütig hinzufügen, daß ich für die gute Meinung des verblichenen John Jacob Astor nicht unempfänglich war.
Eine Weile vor dem Zeitpunkt, an dem diese kleine Geschichte beginnt, hatte meine Tätigkeit beträchtlich zugenommen. Mir war das gute alte, im Staate New York jetzt aufgehobene Amt eines Beisitzers am Chancery übertragen worden. Es war kein sehr anstrengendes, doch ein sehr erfreulich einträgliches Amt. Ich verliere selten meine Ruhe; noch viel seltener ergehe ich mich in gefährlicher Entrüstung über Ungehörigkeiten und Beleidigungen; doch man muß mir gestatten, hier einmal heftig zu werden und zu erklären, daß ich die jähe und gewaltsame Abschaffung des Beisitzeramtes am Chancery durch die neue Verfassung für einen – – übereilten Schritt halte; denn ich hatte auf einen lebenslangen Genuß der Einkünfte gerechnet, während ich sie nun lediglich ein paar kurze Jahre bezog. Doch das nur nebenbei.
Meine Kanzlei lag in einem oberen Geschoß des Hauses Wall-Street Nr. ... An dem einen Ende blickte sie auf die weiße Wand des Inneren eines geräumigen, von einem Oberlicht überdeckten Schachtes, der das Gebäude von oben bis unten durchdrang. Diese Aussicht hätte man eher für langweilig denn für reizvoll halten können, da ihr fehlte, was die Landschaftsmaler »Leben« nennen. Doch wenn dem so war, dann bot die Aussicht von dem anderen Ende meiner Kanzlei zumindest eine Abwechslung, wenn nicht mehr. In jener Richtung gewährten meine Fenster eine ungehinderte Sicht auf eine hochragende Backsteinmauer, die vom Alter und immerwährenden Schatten geschwärzt war, und es erforderte kein Fernglas, um ihre verborgenen Schönheiten zu entdekken, denn zum Nutzen aller kurzsichtigen Betrachter war sie nicht weiter als zehn Fuß von meinen Fensterscheiben entfernt in die Höhe getrieben.
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