In meiner angespannten Gemütsverfassung hatte ich mir gewissermaßen eingebildet, der ganze Broadway nehme an meiner Aufregung teil und debattiere über dieselbe Frage mit mir. Ich ging weiter und war sehr froh, daß der Straßenlärm meine zeitweilige Geistesabwesenheit verborgen hatte.
Wie ich es beabsichtigt hatte, war ich früher als sonst vor der Tür meiner Kanzlei. Ich lauschte einen Augenblick. Alles war still. Er mußte fort sein. Ich betätigte den Knauf. Die Tür war verschlossen. Ja, mein Vorgehen hatte wunderbar gewirkt; er mußte tatsächlich verschwunden sein. Doch eine gewisse Traurigkeit vermischte sich damit – es war mir fast leid um meinen glänzenden Erfolg. Ich tastete unter der Fußmatte nach dem Schlüssel, den Bartleby dort für mich hatte hinterlegen sollen, als ich zufällig mit dem Knie gegen eine Türfüllung stieß, was einen Laut hervorrief, wie wenn Einlaß verlangt würde, und als Antwort drang eine Stimme von drinnen zu mir: »Noch nicht; ich bin beschäftigt.«
Es war Bartleby.
Ich war wie vom Blitz getroffen. Einen Augenblick stand ich da wie der Mann, welcher, die Pfeife im Mund, vor langer Zeit in Virginia an einem wolkenlosen Nachmittag von einem Sommerblitz erschlagen wurde; an seinem eigenen, warmen, offenen Fenster wurde er erschlagen, und in den verträumten Nachmittag hinausgelehnt, blieb er dort stehen, bis jemand ihn anrührte, da fiel er um.
»Nicht fort!« murmelte ich schließlich. Doch wieder gehorchte ich jener seltsamen Gewalt, die der unergründbare Schreiber auf mich ausübte, jener Gewalt, der ich mich, trotz all meines Ärgers, nicht völlig entziehen konnte, und ich ging langsam die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus. Während ich um den Häuserblock ging, erwog ich, was ich in dieser unerhört schwierigen Lage als nächstes tun sollte. Den Mann mit handgreiflicher Gewalt hinauswerfen konnte ich nicht; ihn fortzujagen, indem ich ihn mit Schimpfnamen belegte, wäre nicht angemessen; die Polizei herbeizurufen war ein unangenehmer Gedanke; und doch, ihn sich seines leichenhaften Triumphes über mich freuen zu lassen – auch das war mir nicht möglich. Was war da zu tun? Oder gab es, wenn nichts getan werden konnte, noch etwas anderes, was ich in dieser Angelegenheit voraussetzen konnte? Ja, wie ich zuerst vorblickend vorausgesetzt hatte, daß Bartleby ginge, so könnte ich jetzt rückblickend voraussetzen, daß er gegangen war. Bei folgerichtigem Handeln nach dieser Voraussetzung könnte ich sehr eilig meine Kanzlei betreten, vorgeben, Bartleby gar nicht zu sehen, und geradewegs auf ihn zugehen, als wäre er Luft. Ein solches Vorgehen würde in hohem Grade den Eindruck eines gutsitzenden Stoßes machen. Es war kaum möglich, daß Bartleby einer solchen Nutzanwendung der Lehre von den Voraussetzungen standhalten könnte. Aber nach nochmaliger Überlegung erschien mir der Erfolg des Planes recht zweifelhaft. Ich beschloß, mit ihm noch einmal über die Angelegenheit zu sprechen.
»Bartleby«, sagte ich beim Betreten der Kanzlei mit einem Ausdruck ruhiger Strenge, »ich bin ernstlich verstimmt. Ich bin schmerzlich berührt, Bartleby. Ich hatte eine bessere Meinung von Ihnen. Ich hatte Sie für einen so gebildeten Menschen gehalten, daß in einer heiklen Lage ein leiser Wink genügen würde – kurzum, eine Voraussetzung. Doch anscheinend hab’ ich mich getäuscht. Nanu«, fügte ich ehrlich überrascht hinzu, »Sie haben ja noch nicht einmal das Geld angerührt!«, und dabei wies ich auf die Scheine, die noch genau dort lagen, wo ich sie am Abend vorher zurückgelassen hatte.
Er gab keine Antwort.
»Wollen Sie mich verlassen oder nicht?« fragte ich nun in plötzlichem Zorn und trat dicht an ihn heran.
»Ich möchte Sie lieber nicht verlassen«, erwiderte er mit leichter Betonung des nicht.
»Was in aller Welt haben Sie für ein Recht, hierzubleiben? Zahlen Sie Miete? Zahlen Sie meine Steuern? Oder gehören diese Räumlichkeiten Ihnen?«
Er gab keine Antwort.
»Sind Sie bereit, jetzt wieder zu schreiben? Sind Ihre Augen wiederhergestellt? Könnten Sie heute morgen ein kleines Schriftstück für mich kopieren? oder mir helfen, ein paar Zeilen durchzusehen? oder hinüber zum Postamt gehen? Mit einem Wort, wollen Sie überhaupt etwas tun, um Ihrer Weigerung, die Kanzlei zu verlassen, einen schönen Anstrich zu geben?«
Er zog sich stumm in seine Einsiedelei zurück.
Ich war jetzt in einem derartigen Zustand gereizten Grolls, daß ich es nur für klug hielt, mich im Augenblick vor weiteren Äußerungen zurückzuhalten. Bartleby und ich waren allein. Ich erinnerte mich an die Tragödie des unglücklichen Adams und des noch unglücklicheren Colt in dem einsamen Büro des letzteren; und wie der arme Colt, den Adams furchtbar erzürnte und der sich unklugerweise in rasende Erregung bringen ließ, unversehens zu seiner verhängnisvollen Tat getrieben wurde – einer Tat, die gewiß kein Mensch mehr beklagen konnte als der Täter selbst. Oft war mir beim Nachdenken über den Fall der Gedanke gekommen, daß der Streit anders ausgegangen wäre, hätte er sich auf der öffentlichen Straße oder in einem Privathaus zugetragen. Der Umstand, daß sie allein in einem einsamen Büro waren, in einem oberen Geschoß eines Gebäudes, dem gänzlich die Weihe menschlich stimmender häuslicher Assoziationen fehlte, in einem Büro ohne Teppich sicherlich, von verstaubtem, schäbigem Aussehen – das muß sehr dazu beigetragen haben, die gereizte Verzweiflung des unglücklichen Colt noch zu steigern.
Doch als sich dieser alte Adam des Grolls in mir erhob und mich gegenüber Bartleby versuchte, packte ich ihn und warf ihn nieder. Wie? Nun, einfach indem ich mir das göttliche Wort ins Gedächtnis rief: »Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr liebet einander.« Ja, das war es, was mich rettete.
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