Ja. Hier kann ich mir billig eine köstliche Zufriedenheit mit dem eigenen Ich verschaffen. Bartleby freundschaftlich zu behandeln, ihm in seiner seltsamen Eigenwilligkeit mit Geduld zu begegnen wird mich wenig oder nichts kosten, wohingegen ich in meiner Seele etwas ansammle, was sich schließlich als eine süße Speise für mein Gewissen erweisen wird. Doch diese Stimmung hielt nicht unverändert in mir an. Manchmal reizte mich Bartlebys Passivität. Ich fühlte mich sonderbar angestachelt, bei ihm auf erneuten Widerstand zu stoßen, ihm einen Zornesfunken zu entlocken, der meinem eigenen entsprach. Doch ich hätte wahrhaftig ebensogut versuchen können, mit den Fingerknöcheln aus einem Stück Windsor-Seife Feuer zu schlagen. Doch eines Nachmittags überwältigte mich der böse Trieb, und es ergab sich der folgende kleine Auftritt:

»Bartleby«, sagte ich, »wenn die Schriftstücke alle abgeschrieben sind, will ich sie mit Ihnen vergleichen.«

»Ich möchte lieber nicht.«

»Wie? Sie beabsichtigen doch wohl nicht, an Ihrer störrischen Laune festzuhalten?«

Keine Antwort.

Ich stieß die Flügeltür neben mir auf und rief, zu Turkey und Nippers gewandt, aus:

»Bartleby sagt schon wieder, daß er seine Schriftstükke nicht durchsehen will. Was meinen Sie dazu, Turkey?«

Es sei daran erinnert, daß es Nachmittag war. Turkey saß da und glühte wie ein Messingkessel, sein kahler Schädel dampfte, seine Hände fuhren zwischen seinen tintenbeklecksten Schriftstücken herum.

»Was ich dazu meine?« brüllte Turkey; »ich meine, daß ich gleich hinter den Wandschirm gehe und ihm die Augen blau schlage!«

Damit erhob sich Turkey und brachte die Arme in Boxerstellung. Er wollte gerade losrennen, um sein Versprechen wahr zu machen, als ich ihn zurückhielt, erschrocken über die Wirkung, die das unbedachte Wachrufen von Turkeys nachmittäglicher Streitlust hatte.

»Setzen Sie sich, Turkey«, sagte ich, »und hören Sie, was Nippers zu sagen hat! Was meinen Sie dazu, Nippers? Wäre ich nicht berechtigt, Bartleby auf der Stelle zu entlassen?«

»Verzeihen Sie, es kommt Ihnen zu, das zu entscheiden, Sir. Ich finde sein Verhalten ganz ungewöhnlich und, was Turkey und mich betrifft, sogar ungerecht. Aber vielleicht ist es nur eine vorübergehende Laune.«

»Ach«, rief ich aus, »da haben Sie ja Ihre Ansicht merkwürdig geändert – jetzt sprechen Sie so freundlich von ihm!«

»Alles das Bier!« schrie Turkey; »Freundlichkeit kommt vom Bier – Nippers und ich haben heute zusammen zu Mittag gegessen. Sie sehen ja, wie freundlich ich bin, Sir. Soll ich hingehen und ihm die Augen blau schlagen?«

»Vermutlich beziehen Sie sich auf Bartleby. Nein, nicht heute, Turkey«, erwiderte ich; »bitte, nehmen Sie die Fäuste weg.«

Ich schloß die Tür und trat wieder auf Bartleby zu. Ich spürte in verstärktem Maße den Antrieb, der mich in mein Verhängnis lockte. Ich brannte darauf, daß er sich mir abermals widersetzte. Ich erinnerte mich, daß Bartleby nie die Kanzlei verließ.

»Bartleby«, sagte ich, »Ginger Nut ist nicht da; gehen Sie bitte eben zum Postamt hinüber (es war ein Weg von nur drei Minuten), und sehen Sie nach, ob für mich etwas da ist.«

»Ich möchte lieber nicht.«

»Sie wollen nicht?«

»Ich möchte nicht.«

Ich wankte zu meinem Pult und saß da in tiefem Nachdenken. Meine blinde Hartnäckigkeit stellte sich wieder ein. Gab es noch etwas anderes, wodurch ich es erreichen konnte, von diesem mageren, mittellosen Wicht – meinem bezahlten Angestellten – schimpflich zurückgewiesen zu werden? Was, an völlig Vernünftigem, gibt es noch, das zu tun er mit Sicherheit ablehnen wird?

»Bartleby!«

Keine Antwort.

»Bartleby!« Diesmal mit lauterer Stimme.

Keine Antwort.

»Bartleby!« brüllte ich.

Genau wie ein Geist, in Übereinstimmung mit den Gesetzen magischer Beschwörung, erschien er beim dritten Anruf am Eingang seiner Einsiedelei.

»Gehen Sie nach nebenan und sagen Sie Nippers, daß er zu mir kommen soll!«

»Ich möchte nicht«, sagte er ehrerbietig und langsam und verschwand sachte.

»Schon gut, Bartleby«, sagte ich in einem ruhigen, gelassen strengen, beherrschten Tone, der die unabänderliche Absicht einer schrecklichen Vergeltung in naher Zukunft andeutete. Im Augenblick war ich auch halb zu etwas Derartigem entschlossen. Da es aber auf die Stunde des Abendessens zuging, hielt ich es, im ganzen gesehen, für das beste, meinen Hut aufzusetzen und für diesen Tag nach Hause zu gehen, gequält von Sorge und innerer Unruhe.

Soll ich es gestehen? Die ganze Angelegenheit endete damit, daß es bald eine feststehende Tatsache in meiner Kanzlei wurde, daß ein blasser junger Schreiber, namens Bartleby, dort ein Pult hatte; daß er zum üblichen Satz von vier Cent je Folioseite (einhundert Wörter) Abschriften für mich anfertigte, er aber dauernd davon befreit war, die von ihm geleistete Arbeit durchzusehen, welche Aufgabe Turkey und Nippers übertragen wurde, zweifellos in Anerkennung ihres größeren Scharfsinns; überdies besagter Bartleby nie und unter keinen Umständen auch nur auf den geringfügigsten Botengang geschickt werden sollte und daß es sich, sogar wenn man ihn dringend darum bäte, etwas Derartiges zu übernehmen, von selbst verstand, daß er es lieber nicht tun, mit anderen Worten, daß er es klipp und klar ablehnen würde.

Mit den dahingehenden Tagen söhnte ich mich beträchtlich mit Bartleby aus. Seine Stetigkeit, seine Freiheit von allem Müßiggang, sein unablässiger Fleiß (außer wenn es ihm beliebte, sich hinter seinem Wandschirm im Stehen einer Träumerei hinzugeben), seine überaus stille Art, sein unter allen Umständen gleichbleibendes Benehmen machten ihn zu einer wertvollen Erwerbung. Ein Hauptvorzug bestand darin: Er war immer da – der erste am Morgen, ununterbrochen den ganzen Tag, und der letzte am Abend. Ich setzte ein merkwürdiges Vertrauen in seine Ehrlichkeit. Meine wertvollsten Schriftstücke hielt ich in seinen Händen für völlig sicher. Manchmal konnte ich es allerdings beim besten Willen nicht vermeiden, daß ich seinetwegen einen plötzlichen Wutanfall bekam. Denn es war äußerst schwierig, sich die ganze Zeit die seltsamen Eigentümlichkeiten, Vorrechte und unerhörten Freiheiten gegenwärtig zu halten, die von seiten Bartlebys die stillschweigenden Bedingungen dafür waren, daß er in meiner Kanzlei blieb. Hin und wieder forderte ich im Eifer, eine dringliche Sache schnell zu erledigen, versehentlich Bartleby in einem knappen, hastigen Tone auf, sagen wir, seinen Finger auf den Anfang des Knotens eines roten Bandes zu halten, mit dem ich Schriftstücke zusammenschnüren wollte.