Susanne fürchtete ihn.
Es war eine Nacht im Dezember, der Schnee lag vor den Fenstern, da hatte Iwan Michailowitsch Becker acht Stunden lang in dem kleinen Zimmer, wo die italienischen Teppiche hingen, mit Eva Sorel gesprochen. Im Zimmer daneben ging Susanne fröstelnd auf und ab, gewärtig, einen Hilferuf der Herrin zu vernehmen; sie hatte einen alten Schal um die Schultern geworfen, von Zeit zu Zeit zog sie eine Krachmandel aus der Tasche, zerbiß sie und spuckte die Schale in den Kamin.
In dieser Nacht ging Eva nicht schlafen, auch nicht, als der Russe sie verlassen hatte. Sie trat ins Schlafgemach, ließ ihre Haare aus Reif und Kämmen fallen, so daß sie Haupt und Leib umhüllten, während sie auf einem niederen Sessel saß und das glühende Gesicht zwischen den flachen Händen hielt. Susanne, die gekommen war, um ihr beim Entkleiden zu helfen, kauerte neben ihr auf dem Boden und wartete auf ein Wort.
Endlich brach die junge Herrin das Schweigen. »Lies mir den dreiunddreißigsten Gesang der Hölle vor,« bat sie.
Susanne holte zwei Kerzen und das Buch. Die Kerzen stellte sie auf den Teppich, das Buch legte sie auf Evas Knie, und so las sie eintönig und klagend, aber mit klarer Stimme, die gegen den Schluß, dort namentlich, wo von den erstarrten und gefrorenen Tränen die Rede ist, sicherer und gehobener wurde.
»Lo pianto stesso li pianger non lascia; / E'l duol che truova 'n sugli occhi rintroppo / Si volve in entro a far crescer l'ambascia: / Che le lagrime prime fanno groppo / E, sicome visiere di cristallo /Riempion sotto 'l ciglio tutto 'l coppo« /.
Als sie fertig war, erschrak sie vor der leuchtenden Nässe in Evas Augen.
Eva erhob sich, beugte den Kopf in den Nacken zurück, und mit geschlossenen Augen sagte sie: »Die Verdammnis will ich tanzen. Die Verdammnis in der Hölle und die Erlösung.«
Da schlang Susanne die Arme um Evas Knie und preßte die Wange an die bronzegelbe Seide des Gewands. »Du kannst alles, was du willst,« murmelte sie liebkosend.
Seit dieser Nacht erfüllte sie ein drängenderes Feuer, und ihr Tanz hatte Linien, wo die Schönheit an den Schmerz grenzt. Es gab verzückte Propheten, die behaupteten, sie tanze das neue Jahrhundert, den Untergang der alten Ideen, die kommende Revolution.
2
Als Crammon sie wiedersah, zwang ihn die erlesene Bestimmtheit der großen Dame, mit der sie auftrat, zu schweigender Anerkennung. Und wieder begann das unruhige Brennen in seiner Brust.
Er sprach mit ihr von Christian Wahnschaffe; eines Abends brachte er ihn mit. In Christians Gesicht war Strahlendes; Adda Castillo hatte es mit ihrer Leidenschaft durchtränkt. Eva spürte den Hauch einer andern Frau an ihm; ihre Miene verriet spöttische Neugier. Ein paar Sekunden lang standen der Jüngling und die Tänzerin einander gegenüber wie zwei Statuen auf Postamenten.
Ob er mirs jemals danken wird, was ich da für ihn getan habe, dachte Crammon. Er reichte Susanne den Arm und ging mit ihr im Bildersaal auf und ab.
»Hoffentlich ist er ein Prinz, Ihr blonder deutscher Freund,« sagte Susanne sorgenvoll.
»Ein Prinz, der inkognito dieses Jammertal bereist,« antwortete Crammon. »Ihr habt euch prächtig verändert,« fuhr er, sich umblickend fort und blähte die Nasenflügel, »ich bin zufrieden mit euch. Ihr seid klug und versteht euch auf das Weltgetriebe.«
Susanne blieb stehen und erzählte von dem, was sie beunruhigte. Sie erzählte von Iwan Michailowitsch Becker. Wie er von Zeit zu Zeit komme und stundenlang währende Gespräche mit Eva führe; wie sie jedesmal danach die Nacht außer Bett zubringe, auf keine Frage antworte und mit glänzenden Augen starr vor sich hinschaue. Wer wolle dem wunderbaren Kind eine Laune verwehren? Diese aber könne einen gefährlichen Weg nehmen; eine so zart schwingende Seele dürfe nicht von den täppischen Händen eines hergelaufenen Finsterlings roh mit Gewichten beschwert werden. »Was raten Sie zu tun, Herr von Crammon?« schloß Susanne.
»Ich werde nachdenken,« sagte Crammon, sein glattes Kinn reibend, »ich werde nachdenken.« Er setzte sich in eine Ecke, stützte den Kopf in die Hand und dachte nach.
Eva plauderte mit Christian. Bisweilen lachte sie über seine Bemerkungen, bisweilen schien sie fremd berührt und staunte. Auch wo sie des besseren Urteils sicher war, staunte sie und wollte lernen. Mit Wohlgefallen betrachtete sie seine Gestalt, und einmal bat sie ihn, er möge ihr einen Gegenstand holen, der auf dem Tische lag, eine Dose aus Onyx, gefüllt mit Halbedelsteinen. Sie wollte sehen, wie er ging und sich bewegte, wie er nach der Dose griff und sie ihr gab. Sie schüttete die Steine in ihren Schoß und spielte mit ihnen, ließ sie durch die Finger gleiten und sagte lächelnd zu Christian, er hätte ein Tänzer werden sollen.
Er erwiderte naiv, er tanze im allgemeinen nicht gern, aber mit ihr zu tanzen, würde ihn reizen. Da lachte sie wieder belustigt, versprach ihm jedoch, sie wolle mit ihm tanzen. Zwischen ihren Fingern blitzten die Steine, und ein Zucken ihres Mundes verriet Unmut und Stolz, aber auch Mitleid mit diesem Unwissenden.
Als sie lachte, wurde Christian verlegen, und als sie schwieg, fürchtete er sich vor ihren Gedanken. Er hatte in naher Stunde eine Verabredung mit Adda Castillo, er versäumte die Zeit, trotzdem er eine eifersüchtige Szene zu fürchten hatte. Eva erschien ihm so unbekannt als erforschenswert, alles an ihr, Ton, Gebärde, Antlitz und Wort erschien ihm so völlig neu, daß er sich nicht loszureißen vermochte und seine dunkelblauen Augen mit einer Art von Dringlichkeit an ihr hingen. Auch als ihre Freunde kamen, Cardillac, Wiguniewski, der Marquis d'Autichamps, blieb er.
Eva aber hatte einen Namen für ihn gefunden.
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