Den Flammenschein hatten sie schon von weitem bemerkt und ihre Pferde zur Eile getrieben. Von den umliegenden Dörfern strömten Scharen von Menschen herzu; Hilfe konnte jedoch nicht mehr geleistet werden, die Scheune war in einem Zeitraum von fünf Minuten niedergebrannt, und alle darin Eingesperrten, mit Ausnahme von fünf oder sechs, hatten den Tod gefunden.

Unter den Opfern befanden sich auch die Komtesse Irene, ihre Schwester und ihr Bruder. Wie schrecklich dies auch war, für Franz Lothar fügte es dem Schrecken des Ganzen nur wenig hinzu. Das Bild der Trümmerstätte, der Anblick der rauchenden Leichen, der Geruch davon, Geruch von Blut und versengten Haaren und verbrannten Kleidern, die glatthäutigen, gefleckten Dorfhunde, die gierig knurrend um den heißen Herd voll gekochten Fleisches schlichen, die medusisch entstellten Züge der Erstickten, die unter den Körpern der Verkohlten unversehrt lagen, der stumme und der laute Schmerz der Mütter, Väter und Brüder, die syrmische Nacht mit Qualm bis an den gestirnten Himmel, das alles schlug ihn nieder wie mit Knütteln, und eine schwarze Verzweiflung nistete sich unlöslich in seinem Gemüte ein.

Daß er sich endlich hatte aussprechen können, war Erleichterung. Er saß am Fenster und blickte ins Dunkel hinaus.

Crammon, Gewölk auf der zerfurchten Stirn, sagte: »Sie können nur mit der Peitsche im Zaum gehalten werden. Was ich bedaure, ist die Abschaffung der Folter. Unsre milde Gesetzgebung soll der Teufel holen.« Damit ging er hin und küßte Franz Lothar auf die Backe.

Christian hatte eine Empfindung von Kälte und Starrheit im Rücken.

Für den nächsten Morgen war die Abreise bestimmt. Crammon trat ins Zimmer zu Christian, der so in Gedanken verloren war, daß er den Gruß des Freundes nicht erwiderte. »Was treibst du, Mensch!« rief Crammon aus und musterte ihn; »hast du in den Spiegel geschaut?«

Christian war in diesen Tagen ohne seinen Diener, sonst hätte der Mißgriff nicht geschehen können: er trug zu einem lichtgrauen Anzug einen Schlips von derselben Farbe.

»Ich bin sehr zerstreut heute,« sagte Christian mit halbem Lächeln und band den Schlips wieder auf, um ihn durch einen andern zu ersetzen. Er brauchte hierzu dreimal soviel Zeit wie gewöhnlich. Crammon schritt ungeduldig auf und ab.

 

8

 

Sobald Christian seinen gegenwärtigen Zustand überdenken wollte, ergriff ihn Verwirrung.

Es war in seiner Brust ein leerer Raum, in den von außen nichts einströmen konnte; er war von einem zu engen Panzer umschnürt, der ihn an freier Beweglichkeit hinderte. Er trachtete danach, den leeren Raum zu füllen und den Panzer zu sprengen.

Seine Mutter sagte besorgt: »Du hast ein hageres Gesicht bekommen, Christian; fehlt dir etwas?« Er versicherte, daß ihm nicht das geringste fehle. Aber sie war nicht beruhigt. »Was ist mit Christian los?« erkundigte sie sich bei Crammon, »er ist so still und blaß.«

Crammon antwortete: »Gnädigste Frau, so ist eben seine Form. Es sind die Erlebnisse, die sein Gesicht zurechtgeschnitzt haben. Ist es nicht edler und stolzer geworden? Fürchten Sie nichts, er geht fest und verläßlich seinen Weg. Und solange ich da bin, wird ihm nichts Übles geschehen.«

Frau Richberta, im Zweifel noch und in ihrer matten Art gerührt, reichte ihm die Hand.

Crammon sagte zu Christian: »Die Gräfin hat einen Fang gemacht. Ein überseeisches Exemplar; so mußte es kommen.«

»Gefällt dir der Mann?« fragte Christian unsicher.

»Da sei Gott vor, daß ich Schlechtes von ihm denken sollte,« entgegnete Crammon heuchlerisch; »er ist von so weit her und geht wieder so weit fort, daß er mir unbedingt sympathisch ist. Nimmt er das Kind, die Lätizia, mit, so begleiten sie meine Segenswünsche. Ob es ihr zum Heil gereichen wird, darüber kann ich mir den Kopf nicht zerbrechen. So große Entfernungen haben auf jeden Fall etwas Kalmierendes. Argentinien, Rio de la Plata, ich bitte dich; es sind so unbekannte Gegenden, daß sie für mich ebensogut auf dem Mond liegen könnten.«

Christian lachte, aber dabei zerfloß die vor ihm stehende Gestalt Crammons zu einem Nebel, und was er noch hatte sagen wollen, unterdrückte er.

Dreiundzwanzig Fremdenzimmer waren besetzt; Leute kamen an, Leute reisten ab. Kaum hatte man ein Gesicht festgehalten, so entschwand es wieder. Damen und Herren, die sich gestern kennengelernt hatten, bewegten sich heute mit freier Vertraulichkeit gegeneinander und sagten sich am nächsten Tag Lebewohl für immer. Ein Herr von Wedderkampf, Geschäftsfreund des Herrn Wahnschaffe, hatte seine vier Töchter im Gefolge. Das Fräulein von Einsiedel traf Anstalten, den ganzen Winter zu bleiben, da ihre Eltern im Scheidungsprozeß lagen. Wolfgang, der die Ferien zu Hause verlebte, hatte drei Studienfreunde mitgebracht.

Diese alle waren gehobener Laune, schmiedeten umständliche Pläne, sich die Zeit zu vertreiben, schrieben Briefe, empfingen Briefe, tafelten, liebelten, musizierten, waren aufgeregt und neugierig, witzig und vergnügungssüchtig, spannen ihre Geschäfte von draußen weiter und gaben sich den Anschein der Freundlichkeit, der Harmlosigkeit und der Sorglosigkeit.

Livrierte Diener liefen treppauf, treppab, Glockensignale ertönten, Automobile tuteten, Tische wurden gedeckt, Lampen strahlten, Geschmeide funkelte, hinter jener Tür wurde geschäkert, hinter dieser medisiert, in der Halle mit den schönen Marmorsäulen saßen lächelnde Paare; es war eine Welt, die sich wohl unterschied von den modernen Zufallszirkeln an Orten, wo man zahlt; voll verbindlichen Lebens, voll von heimlichen Einverständnissen und geselligen Reizen.

Lätizia war mit ihrer Tante für eine Woche nach München gefahren. Erst am dritten Tag nach Christians Ankunft kehrte sie zurück. Christian war froh, sie zu sehen. Aber er konnte sich nicht zu einem Gespräch mit ihr entschließen.

 

9

 

Eines Morgens saß er mit seinem Vater beim Frühstück.