Er wunderte sich, wie fremd ihm dieser Mann mit den weißen, gescheitelten Haaren war, mit dem elegant geschnittenen, in der Mitte geteilten Bart und der rosigen Färbung des Gesichts.
Herr Wahnschaffe behandelte ihn mit großer Höflichkeit. Er erkundigte sich nach den Beziehungen, die Christian in England angeknüpft, und versah die kargen Antworten des Sohnes mit lehrhaften Bemerkungen über Personen und Verhältnisse. »Es ist gut, wenn wir Deutsche dort drüben Boden gewinnen,« sagte er, »es ist nützlich und notwendig.«
Er sprach über die drohenden politischen Wolken und äußerte sich mißbilligend über die Haltung Deutschlands beim Abschluß des Marokkovertrags. Da Christian hiezu teilnahmslos und unwissend schwieg, wurde er sichtlich kühler, nahm die Zeitung und begann zu lesen.
Wie fremd er mir ist, dachte Christian und suchte einen Vorwand, aufzustehen und fortzugehen. Da trat Wolfgang an den Tisch und sprach von den Ergebnissen des Rennens in Baden-Baden. Seine Stimme war Christian nicht angenehm, und er ging weg.
Es geschah, daß er mit Judith in der Bibliothek saß und sie ihn neckend über Lätizia zur Rede stellte. Lätizia und Crammon traten plaudernd herein. Felix Imhof gesellte sich zu ihnen, Lätizia nahm ein Buch, und man merkte, daß sie bemüht war, nicht in die Richtung zu blicken, wo Christian war. Dann verließen alle drei den Raum wieder. Judith sagte: »Sie begeht vielleicht eine Dummheit.« Und sie lauschte erblassend, weil sie ein Kompliment aufgefangen hatte, das Imhof Lätizia gemacht. »Warum bist du so still?« wandte sie sich stirnrunzelnd an den Bruder und legte die Hände gefaltet auf seine Schulter; »wir sind alle lustig und guter Dinge, aber du bist ganz verändert. Bist du denn nicht gern wieder bei uns? Ist es nicht schön zu Hause? Und wenns dir nicht gefällt, kannst du nicht jede Stunde wieder gehen? Warum bist du verstimmt?«
»Ich weiß nichts davon; ich bin nicht verstimmt,« antwortete Christian, »man kann ja nicht immer lachen.«
»Bis zu meiner Hochzeit wirst du doch bleiben,« fuhr Judith mit hochgezogenen Brauen fort; »ich wäre dir sonst ewig gram.« Und als Christian nickte, sagte sie freundlich drängend: »Sprich doch einmal mit mir, du Unliebenswürdiger. Frag mich doch etwas.«
Christian lächelte. »Also will ich dich etwas fragen,« versetzte er; »bist du zufrieden, Judith? ist dein Herz zufrieden?«
»So mit der Tür ins Haus zu fallen,« lachte Judith; »du warst nie so plump.« Kopf und Leib vorgebeugt, die Ellbogen auf den Knien, spreizte sie die Finger aus und sagte: »Wir Wahnschaffes können nicht zufrieden sein. Es ist alles so wenig, was man hat, es ist so viel, was man nicht hat. Ich fürchte, es wird eine rechte Fru Ilsebill aus mir. Oder ich fürcht es nicht, nein; ich freue mich darauf, den Fischer immer wieder zum Fisch an die See zu schicken, immer wieder. Da weiß man doch dann, was er wagt.«
Christian betrachtete seine schöne Schwester, und er hörte ihre verwegenen Worte. Alles erschien ihm verwegen an ihr. Die Gebärde, die Worte, der helle Kehlton der Stimme und der Glanz ihrer Augen. Es fiel ihm ein, daß er eines Abends neben Eva Sorel gesessen war, so nahe, wie er jetzt neben Judith saß. Er hatte mit stummem Entzücken ihre Hände angesehen, da hatte sie die linke Hand gegen das Licht gehalten, und obgleich die Durchleuchtung des rosig glühenden Fleisches die vollendete Form noch edler hervortreten ließ, hatte man doch die dunklen Schatten des Knochengefüges darin bemerkt. Und Eva hatte gesagt: »Sieh, Eidolon, der Kern weiß nichts von Schönheit.«
Christian stand auf und fragte, beinah traurig: »Wenn du weißt, was er wagt, weißt du darum schon, was du gewinnst?«
Judith blickte verwundert zu ihm empor, und ihr Gesicht verfinsterte sich.
10
Es geschah dann, daß er ins Zimmer seiner Mutter kam und sie nicht darin fand. Er näherte sich der Tür, die zu ihrem Schlafgemach führte, und pochte. Als keine Antwort erfolgte, öffnete er. Sie war auch in diesem Zimmer nicht. Sich umschauend, gewahrte er ein braunes Seidenkleid, mit Spitzen geschmückt, das Frau Richberta gehörte und das über einem Rohrmodell hing. Einen Augenblick hatte er den Eindruck, als stehe die Mutter vor ihm, jedoch ohne Kopf.
Er verfiel in Sinnen, und sein Gedanke war, genau wie dem Vater gegenüber: wie fremd ist sie mir. Das Kleid, das nur Hülle über einem Rohrgeflecht war, wurde ihm zu einem Bild der Mutter, an welchem er sie besser erkannte als am lebendigen Leib.
Das Undurchdringliche und Unaufschließbare; die starre Haltung, die hoffnungslose Miene, das trübe Auge, die brüchige Stimme ohne Hall, das Wesen ohne Freude. Sie, in deren Haus sich alle vergnügten, deren ganzes Tun und Sein anscheinend nur darauf abzielte, andern die Gelegenheit zum Vergnügen zu bereiten, ermangelte ganz und gar der Freude.
Aber sie hatte die schönsten Perlen, die es in Europa gab, und jedermann wußte, würdigte und rühmte dies.
Die Selbsttäuschung Christians ging so weit, daß er im Begriffe war, das Kleid über dem Gestell anzureden, vertraulicher vielleicht, als er je die Mutter angeredet hatte.
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