Sie dachte an Blumen und Sterne, an Bilder und Träume. Sie dachte, wie er es gesagt, an Vögel, die aus der Luft fallen und sterben, und an ein Reh, das erschossen vor ihren Füßen lag. Sie dachte an Wege, die sie gehen würde, an Fahrten auf dem Meer, an Schmuck und an köstliche Gewänder. Aber es hatte kein Bindendes für sie, es löste sich alles wieder zu Stücken. Es riß in ihrem Innern eine Kette, und sie hatte das Bedürfnis, sich hinzulegen und einige Zeit zu weinen. Nicht lange; wenn dann das Weinen vorüber war, konnte es sein, daß sie sich wieder auf den morgigen Tag freute und auf Stephan Gunderam und auf die Hochzeit mit ihm.
»Gute Nacht, Christian,« sagte sie und bot ihm die Hand wie nach harmlosem Plaudern. Die Gegenstände im Zimmer hatten ein andres Aussehen. Auf dem Tisch stand eine geschliffene Schale mit Herbstzeitlosen; die weißen Stengel glichen den Fühlarmen eines Polypen. Die Nacht vor den Fenstern war nicht mehr dieselbe Nacht wie vordem. Man war auf eine eigne Art ganz frei, auf eine trotzige und rachsüchtige Art.
Christian war überrascht von ihrer Haltung und Gebärde. War sie als Mädchen zu ihm gekommen, so ging sie fort als Frau, ohne daß er sie angerührt hatte. »Ich will nachdenken,« sagte sie und nickte ihm mit einem großen, dunklen Blick zu, »ich wills verstehen lernen.«
So ging sie; ging in ihr reiches, armes, abenteuerliches, schweres, tändelndes Leben hinein.
Christian lauschte ihrem Schritt, der hinter der geschlossenen Tür schnell verklang. Er stand regungslos, mit tief gesenktem Kopf. Es war, auch für ihn, nicht mehr dieselbe Nacht wie vordem. Ungeachtet seines Gehorsams gegen die Stimme nagte der Zweifel an ihm, ob, was er getan, recht oder unrecht war, gut oder schlecht.
17
Eines Tages erhielt Christian einen Brief, der die Unterschrift von Iwan Michailowitsch Becker trug. Becker teilte ihm mit, daß er sich vorübergehend in Frankfurt aufhalte und daß eine gemeinsame Freundin ihm nahegelegt habe, Christian Wahnschaffe zu besuchen. Dies unterlasse er aber aus erwogenen Gründen. Wenn Christian Wahnschaffes Gesinnung derart sei, wie die gemeinsame Freundin vorauszusetzen scheine, möge er um eine Abendstunde zu ihm kommen.
Der Name Evas war nicht genannt; er sprach nur von der gemeinsamen Freundin; zweimal. Straße und Haus, wo Becker wohnte, waren angegeben.
Christians erste Regung war, der Aufforderung nicht zu folgen. Er sagte sich, daß er mit Iwan Becker nichts zu schaffen habe. Der Russe war ihm unsympathisch gewesen; seine Beziehung zu Eva Sorel hatte er mißbilligt und hochmütig übersehen. Sooft er sich seines häßlichen Gesichts, seines schleichenden Ganges, seiner stummen, düsteren Gegenwart erinnerte, überkam ihn ein Unbehagen. Was konnte er jetzt von ihm wollen? Weshalb dieser Ruf, in dem Drohendes war?
Nachdem er vergeblich versucht hatte, sich des Nachdenkens hierüber zu entschlagen, zeigte er Crammon den Brief, in der geheimen Erwartung, daß Crammon ihm widerraten werde, zu Becker zu gehen. Crammon las, zuckte die Achseln, sagte aber nichts. Crammon war in übler Laune, Crammon war verletzt; er spürte seit einiger Zeit schon, daß ihn Christian von seinem Vertrauen ausschloß. Außerdem dachte er an Eva Sorel mehr, als seiner Seelenruhe förderlich war. Er machte Fräulein von Einsiedel den Hof; das Fräulein war nicht taub gegen sein Werben, aber dieser Erfolg konnte Crammon das Gleichgewicht nicht zurückgeben, und der Brief riß die Wunde von neuem auf.
Mit Entschluß beendete Christian sein Schwanken und machte sich auf den Weg zu Becker. Das Haus lag in der Vorstadt; er mußte vier Stiegen einer Mietskaserne erklimmen. Er bemühte sich, nirgends anzustreifen, nicht an der Mauer, nicht am Geländer. Als er vor der Tür die Glocke zog, war sein Gesicht blaß von Beklommenheit und Widerwillen.
Wie leidend er aussieht, dachte Christian, als er in dem armselig möblierten Zimmer Iwan Becker gegenübersaß.
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