Er fragte sich, ob dieser Zug des Leidens neu sei oder ob er ihn früher bloß nicht wahrgenommen habe. Als Becker das Wort an ihn richtete, antwortete er verlegen und ungeschickt.

»Madame Sorel geht im Frühjahr nach Petersburg,« sagte Iwan Michailowitsch; »sie hat einen Vertrag unterzeichnet, der sie für drei Monate an das Kaiserliche Theater verpflichtet.«

Christian gab Befriedigung zu erkennen. »Bleiben Sie lange hier?« erkundigte er sich höflich.

»Ich weiß es nicht,« war die Antwort, »ich warte auf eine Nachricht und fahre dann zu meinen Freunden in die Schweiz.«

»Mein letztes Gespräch mit Madame Sorel drehte sich ausschließlich um Sie,« fuhr er fort und sah Christian aus seinen tiefliegenden Augen aufmerksam an.

»Um mich? Ah ...« machte Christian mit konventionellem Lächeln.

»Sie bestand darauf, daß ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen solle. Sie sagte, es läge ihr daran. Einen Grund nannte sie nicht. Sie nennt ja niemals Gründe. Sie verlangte auch, daß ich ihr Bericht erstatte. Dabei habe ich nicht einmal einen Auftrag für Sie. Sie sagte nur immer: Es hängt etwas für mich davon ab und für ihn vielleicht sehr viel. Sie sehen, ich bin ein willenloses Werkzeug. Ich hoffe, daß Sie mir wegen der Belästigung nicht zürnen.«

»Durchaus nicht,« erwiderte Christian beengt. »Ich kann mir freilich nicht denken, was ihr vorschwebt.« Verwundert fügte er hinzu: »Sie ist sehr eigenartig.«

»Ja, sehr!« Iwan Becker lächelte, wobei die Feuchtigkeit seiner dicken Lippen unangenehm bemerkbar wurde. »Sie ist ein enthusiastischer Mensch. Eine Frau von bedeutender Anlage. Sie hat große Macht über andre Menschen, und sie ist entschlossen, sich dieser Macht zu bedienen.«

Eine Pause entstand.

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« fragte Christian konventionell.

Becker sah ihn an. »Nein,« antwortete er kalt, »ich wüßte nicht.« Er wandte den Blick gegen das Fenster, vor dem man Fabrikschlöte sah, Rauch und trübe Luft, welche Schnee verkündete. Über seine Knie war eine Decke gebreitet, da der Raum nicht geheizt war; unter der Decke war seine verkrüppelte rechte Hand versteckt. Eine Bewegung des Beins verschob die Decke, und die Hand kam zum Vorschein. Christian wußte, was es damit für eine Bewandtnis hatte: Crammon hatte ihm von seiner Begegnung und dem Gespräch mit Becker erzählt, damals in Paris schon. Er hatte es mit Gleichgültigkeit vernommen und, wo er konnte, es vermieden, sein Augenmerk auf diese Hand zu richten.

Er betrachtete sie jetzt; er stand auf, und mit einer Gebärde von Freiheit und Versicherung, die selbst Becker, der ihn doch nur oberflächlich kannte, an ihm in Erstaunen setzte, reichte er seine Hand dar. Iwan Michailowitsch gab ihm die Linke; Christian hielt sie und drückte sie stark und lange. Dann ging er, ohne ein Wort zu sprechen.

 

18

 

Aber am andern Tag kam er wieder.

Iwan Michailowitsch erzählte ihm die Geschichte seines Lebens. Er bot ihm in einfacher Weise Gastfreundschaft, kochte Tee, und sogar die Stube war geheizt. Er erzählte abgerissen, mit halbgeschlossenen Augen und krankhaftem, kränklichem Lächeln, ohne rechten Zusammenhang, bald aus seiner Jugend, bald aus den Spätjahren. Es war immer dasselbe: Unterdrückung, Not, Verfolgung, Leiden; Leiden ohne Zahl. Zermalmte Herzen, wohin man ging und sah, vernichtetes Glück, zerstörte Schicksale. Die Eltern in Armut umgekommen, die Geschwister verschollen, die Freunde im Krieg gefallen oder in der Verbannung gestorben; ein Leben ohne Halt, ohne Licht, ohne Ruhe, ohne Aufblick; eine Welt voll Haß und Bosheit, Grausamkeit und Finsternis.

Christian saß und lauschte bis in die späte Nacht.

Sie trafen sich im Kaffeehaus, in einem häßlichen Lokal, das zu betreten Christian vordem nicht vermocht hätte, und saßen bis in die späte Nacht. Oft schweigend, in einem Schweigen, das Christian quälte und bis zu einem kaum erträglichen Grad spannte. Aber seine Miene war sanft.

Sie gingen miteinander am Fluß, durch Straßen und Anlagen, im Schnee. Iwan Michailowitsch sprach von Puschkin, von Belinski, von Bakunin und Herzen, vom Zaren Alexander dem Ersten und der Legende seiner Entrückung, von den Bauern, dem dumpfen, armen Volke.