Er sprach von den ungezählten Märtyrern verwehten Namens, Männern und Frauen, deren Tun und Leiden ans Herz der Menschheit pochte und deren Blut, so drückte er sich aus, wie die Röte den Aufgang der Sonne, den Anbruch neuer Zeit verkündete.
Christian verschwand vom Hause, und niemand wußte, wohin er ging.
Einmal sagte Iwan Michailowitsch: »Man hat mir berichtet, daß ein Arbeiter einen Mordanfall auf Ihren Vater gemacht hat. Der Mann ist gestern zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden.«
»Ja, es ist wahr,« antwortete Christian; »wie war nur sein Name? Ich habe den Namen vergessen.«
Es erwies sich, daß der Mann weder Schmidt noch Müller hieß, sondern Roderich Kroll. Iwan Michailowitsch wußte den Namen. »Eine Frau und fünf kleine Kinder sind da, leben im größten Elend,« sagte er. »Haben Sie einmal eine Viertelminute lang versucht, sich vorzustellen, was es bedeutet: im Elend leben? Haben Sie Phantasie genug, sich nur eine Viertelminute eines solchen Daseins auszumalen? Haben Sie einmal das Gesicht eines Menschen, der hungert, angesehen? Da ist ein Weib, fünf Kinder hat sie geboren; liebt ihre Kinder genau so, wie Ihre Mutter Sie und Ihre Geschwister liebt. Schön; die Schubladen sind leer; der Herd ist kalt; die Betten sind ins Pfandhaus gewandert; die Kleider und Schuhe sind zerrissen. Die Kinder, jedes ist ein Mensch wie Sie und ich, jedes hat genau dieselbe Anwartschaft auf Zufriedenheit, auf Brot, auf ruhigen Schlaf und auf gesunde Luft wie Sie und Herr von Crammon und zahllose andre, die gar nie darüber nachdenken, daß sie im Besitz all dieser Dinge sind. Schön; nicht nur, daß man sich anstellt, als sehe und wisse man nichts davon; nicht nur, daß man es unbequem findet, wenn man daran erinnert wird; sondern man verlangt auch von diesen Wesen, daß sie still sein sollen, daß sie ihren Hunger, ihre Notdurft, die Kälte, die Krankheit, den Raub an ihrem Besitz und die freche Ungerechtigkeit als etwas Selbstverständliches und Unvermeidliches hinnehmen und ertragen sollen. Haben Sie das schon einmal überlegt?«
»Ich habe es, scheint mir, noch nie überlegt,« erwiderte Christian leise.
»Dieser Mann,« fuhr Iwan Michailowitsch fort, »dieser Roderich Kroll, wurde, soviel ich erfahren habe, planmäßig zum Äußersten getrieben. Er war gläubiger Anhänger der sozialistischen Theorien und sogar den Leuten seiner eignen Partei wegen seiner extremen Anschauungen und der heftigen Propaganda dafür ein wenig zur Last. Man hat ihm den Boden unter den Füßen abgegraben. Man hat ihn durch die kleinlichsten Ränke erbittert und zum Äußersten gedrängt. Man wollte ihn unschädlich machen und zum Schweigen bringen. Aber sagen Sie mir: gibt es ein Extrem auf dieser Seite, das so unbillig, so herausfordernd, so verwerflich sein könnte, wie es das Extrem auf der andern Seite, der Übermut, der Luxus, die Schwelgerei, die Fühllosigkeit und sinnlose Verschwendung an jedem Tag und zu jeder Stunde wirklich ist? Nicht einmal den Namen des Menschen haben Sie gewußt!«
Christian blieb stehen. Der Wind blies ihm den Schnee ins Gesicht und näßte Stirn und Wangen. »Was soll ich tun, Iwan Michailowitsch?« fragte er langsam.
Auch Iwan Michailowitsch blieb stehen. »Was soll ich tun!« rief er. »So fragen alle. So fragte auch Fürst Jakowlew Grusin, einer unsrer Großherren, Adelsmarschall im Nowgoroder Kreis. Nachdem er seine Bauern ausgesogen, seine Pächter geplündert, seine Beamten nach Sibirien gebracht, nachdem er Mädchen geschändet, Frauen verführt, seine eignen Söhne zur Verzweiflung getrieben, sein Leben lang gefressen, gesoffen, gehurt und Verbrechen auf Verbrechen gehäuft hatte, ging er in seinem vierundsiebzigsten Jahr ins Kloster und schrie Tag und Tag aus seiner Zelle: Was soll ich tun? Herrgott und du, mein Heiland, was soll ich tun? Da konnte ihm natürlich niemand antworten. Und so hörte ich auch einen andern vor sich hin fragen, dessen Seele aber rein und weiß war. Er schritt zum Tode, ein Siebzehnjähriger; neun Mann, Gewehr bei Fuß, standen im Festungsgraben; er taumelte heran, und seine unschuldige Seele fragte laut: Was soll ich tun, Vater im Himmel, was soll ich tun?«
Iwan Michailowitsch ging weiter; Christian folgte ihm. »Wir Armen, wir entsetzlich Armen,« sagte Iwan Becker, »was sollen wir tun?«
19
Judiths Hochzeit sollte mit großem Pomp gefeiert werden.
Schon zum Polterabend waren mehr als zweihundert auswärtige Gäste geladen; die Auffahrt der Wagen und Automobile nahm kein Ende.
Es kamen die Kohlen- und Eisenbarone der ganzen Provinz; hohe Militärs und Verwaltungsbeamte mit ihren Damen; die Spitzen des Frankfurter Patriziats und der Finanz; Mitglieder des Darmstädter und Karlsruher Hofs und weither gereiste Fremde. Ein Tenor aus Berlin, eine berühmte Liedersängerin, ein Wiener Komiker, ein Zauberkünstler und ein Taschenspieler waren engagiert worden, um für die Unterhaltung zu sorgen.
Die im Speisesaal hufeisenförmig aufgestellte, von Gold, Silber und geschliffenem Glas strahlende Tafel hatte dreihundertdreißig Gedecke.
In der marmornen Wandelhalle und ihren Nebenräumen wogte die festliche Menge. Bei den Toiletten der Damen herrschte Gelb und Rosa vor, die jungen Mädchen waren zumeist in Weiß. Nackte Schultern leuchteten hinter Perlen- und Diamantengefunkel; das strenge Schwarz und Weiß an Männern dämmte energisch das Schwimmende des Farbenbildes.
Christian ging mit Randolph von Stettner auf und ab, einem jungen Offizier, der bei den Bonner Husaren stand. Sie waren Freunde aus der Knabenzeit her, hatten sich ein paar Jahre nicht gesehen und tauschten Erinnerungen aus. Randolph von Stettner sagte, daß er in seinem Beruf nicht sonderlich glücklich sei; er hätte lieber studiert; seine große Neigung war die Chemie, als Soldat fühlte er sich nicht an seinem Platze. »Aber es nützt nichts, wider den Stachel zu löken,« schloß er seufzend, »man muß in die Kette beißen und still sein.«
Christians Blick fiel auf Lätizia, die inmitten eines dichtgedrängten Kreises von Herren stand. Auf ihrer Stirn war Vergessen; sie wußte nichts vom vorigen Tag und nichts vom morgigen.
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