Sodann machte er in Begleitung seiner beiden Hausdamen eine Promenade in den Prater.

Fräulein Aglaja ging rechts von ihm, Fräulein Konstantine links, beide waren sonntäglich, wenn auch nach einer veralteten Mode, gekleidet, und ihre Gesichter waren die glücklichsten, die man sehen konnte.

 

Christiansruh

 

1

Die Vierzig seien eine kritische Zeit für einen Mann, fand Crammon; da halte er inneres Gericht; er ziehe die Summe seines Daseins und finde Rechenfehler über Rechenfehler.

Die moralischen Beschwerden beeinflußten seine Haltung und Führung nur wenig. Der Lebensappetit wuchs, und das Alleinsein war ihm noch lästiger als früher. Es kam, wenn er allein war, etwas über ihn, was er die Melancholie des halbierten Zustands nannte.

In Paris wurde er von diesem Schicksal betroffen. Er hatte sich mit Felix Imhof und Franz Lothar von Westernach verabredet. Beide ließen ihn im Stich. Imhof war durch eins seiner Börsen- und Gründergeschäfte in Frankfurt zurückgehalten worden und hatte telegraphiert, er wolle später kommen. Franz Lothar war mit seinem Bruder Konrad und dem Grafen Prosper Madruzzi in der Schweiz geblieben.

Aus Verdruß brachte Crammon fast den größten Teil des Tages im Bett zu. Entweder las er unwürdige Schmöker, oder er maulte laut vor sich hin. Aus Verdruß ließ er sich vierzehn Paar Stiefel machen bei den drei oder vier Meistern der Zunft, die nur für Auserwählte arbeiten und ohne bedeutende Empfehlung sich zu keinem neuen Kunden entschließen.

Er hätte den September bei der Familie Wahnschaffe auf deren Gut im Odenwald verbringen sollen. Den jungen Wolfgang Wahnschaffe hatte er im letzten Sommer während des Tennisturniers in Homburg kennengelernt und seine Einladung angenommen. Aus Verdruß über die beiden Treulosen sagte er ab.

Eines Abends traf er auf dem Montmartre den Maler Weikhardt, den er aus München kannte. Sie gingen eine Weile miteinander, und Weikhardt ermunterte Crammon, ihn in ein nahegelegenes Saaltheater zu begleiten, es trete dort, seit einer Woche etwa, eine blutjunge Tänzerin auf; mehrere seiner französischen Kollegen hätten ihm dringend geraten, hinzugehen.

Crammon war einverstanden.

Weikhardt führte ihn durch ein Gewirr verdächtiger Gäßchen zu einem Haus, das nicht minder verdächtig aussah. Es war das Theater Sapajou. Ein phantastisch gekleideter Knabe öffnete ihnen die Tür eines mäßig großen, halbverdunkelten Raums mit purpurroten Wänden und einer Holzgalerie. Ungefähr fünfzig Menschen, meist Maler und Literaten mit ihren Frauen, saßen einer winzigen Bühne gegenüber. Die Vorstellung hatte schon begonnen.

Zwei Geigen und eine Klarinette machten Musik.

Und Crammon sah Eva Sorel tanzen.

 

2

 

Nun grollte er Franz Lothar und Felix Imhof nicht mehr; er war froh, daß sie nicht da waren.

Er fürchtete sich, einem seiner vielen Pariser Bekannten zu begegnen, und schlich mit gesenkten Augen durch die Straßen. Es war ihm widerwärtig, zu denken, daß er mit ihnen von Eva Sorel hätte reden müssen und daß sie dann eine gleichgültige oder neugierige Miene zeigen würden, ohne zu fühlen, was er fühlte.

Den Maler Weikhardt mied er, denn sein Anblick riß ihn aus der Illusion, daß er, Crammon, Eva Sorel entdeckt habe und daß sie vorläufig nur in seinem Bewußtsein als das Wunder lebte, das er in ihr sah.

Er ging umher wie ein verkannter Reicher und bekümmert wie ein Geizhals, der seinen Schatz von Dieben belauert weiß. Alle, die ein geschwätziges Entzücken aus dem Theater Sapajou in die Welt hinaustrugen, waren Diebe in seinen Augen, denn sie drohten die Schar der Dummen und Banalen hinter sich her zu ziehen, die das Große in den Staub schleifen, indem sie es zur Mode machen.

Es war sein Traum, die Tänzerin auf eine verlassene Insel im Ozean zu entführen. Er hätte sich dann begnügt, sie anzubeten, ohne ihr mit einem Wunsch zu nahen.

So wie er für Lorm, den Schauspieler, Beifall verlangt hatte, haßte er den Beifall, den die Tänzerin gewann. Nicht weil sie ein Weib war, nicht aus Männereifersucht. Er betrachtete sie gar nicht wie ein Weib. Sie war ihm als Wesen die Erfüllung dunkler Ahnungen und Gesichte; sie war das Leichte im Gegensatz zum Schweren, das in ihm und allen andern lastete; das Schwebende im Gegensatz zum Kriechenden, das Geheimnis im Gegensatz zum Wissen, die Figur im Gegensatz zum Wirrsal.

Er sagte: »Dieses berühmte zwanzigste Jahrhundert, so jung es ist, geht mir auf die Nerven, die Menschheit wälzt sich wie ein häßlicher, plumper Wurm über die Erde. Sie will von ihrer Wurmhaftigkeit befreit werden, und in ihrer Sehnsucht nach Entpuppung entsteht in ihr die Lust zu hüpfen. Es ist der Gipfel barbarischer Komik.«

Das Leben, das er führte, war ihm als herausfordernde Störung seiner schweißtriefenden Mitmenschen wohl bewußt. Er schwärmte von Zeiten, in denen die herrschende Klasse wirklich geherrscht, wo ein geistlicher Fürst unter den Angestellten seines Hofstaats einen Kapaunenstopfer gehabt und irgendein unbedeutender Reichsgraf eine Armee besoldet hatte, die aus einem General, sechs Obersten, vier Trommlern und zwei Gemeinen bestand.

Daß ihn die Tänzerin aus der Zeit riß, ganz anders noch als der Komödiant, das war es, was er ihr dankte.

Er schuf sich ein Idol, denn es kamen die Jahre, wo er dessen bedurfte, ein satter Gieriger, lüstern nach Vogelflug.

 

3

 

Eva Sorel hatte eine Gesellschafterin und Behüterin, Susanne Rappard; einen häßlichen Irrwisch, schwarz gekleidet und zerstreut. Sie war aus der unbekannten Vergangenheit Evas mit aufgetaucht, und sie rieb sich noch die Finsternis aus den Augen, als sich für die achtzehnjährige Eva die Lichtbahn öffnete. Sie spielte vortrefflich Klavier und war dadurch die Helferin Evas bei deren Übungen.

Crammon hatte ihr einige Artigkeiten erwiesen, und der Ton, mit dem er über ihre Herrin sprach, gewann ihm ihre Sympathie. Sie bewog Eva, ihn zu empfangen. »Bringen Sie ihr Blumen,« raunte sie ihm zu, »das mag sie gern.«

Eva und Susanne Rappard bewohnten zwei Zimmer in einem kleinen Hotel. Crammon brachte Rosen in solcher Menge, daß die muffigen Korridore stundenlang voll Duft waren.

Eintretend gewahrte er Eva vor dem Spiegel, auf einem Armstuhl.