Er wußte nichts zu antworten.
Crammon nahm einen faustgroßen Pfirsich von einem Teller und biß hinein. Der Saft träufelte ihm aus den Mundwinkeln.
»Es wird nichts andres übrigbleiben, ich werde selbst nach Cordova gehen müssen,« sagte er und seufzte bekümmert.
6
Wolfgang Wahnschaffe erzählte unterwegs von seinen Angehörigen; von Judith, seiner Schwester, von seinem älteren Bruder Christian; von seiner Mutter, die die schönsten Perlen in Europa besaß; »in ihrem Schmuck sieht sie aus wie eine indische Göttin,« sagte er; von seinem Vater, den er einen liebenswürdigen Mann mit Hintergründen nannte.
Crammon hätte gern Einleuchtenderes erfahren über das Leben und die Vorgeschichte einer dieser reichgewordenen Bürgerfamilien, die der alten Aristokratie den Rang abliefen. Es interessierte ihn als ein Stück Neuland, eine Welt, die noch in Knospen stand und die zu fürchten war.
Sein schlaues Fragen brachte ihn nicht weiter, aber etwas andres kam zutage. Da war ein Bruder, dem der Bruder im Wege war; versteckte Bitterkeit über unbegreifliche Bevorzugung; Zweifel, Kritik und Spott; ein Wort der Mutter, das sie zu einem Fremden gesprochen: »Sie kennen meinen Sohn Christian nicht, das Schönste, was unser Herrgott je erschaffen hat?«
Billig, fand Wolfgang, billig, ein Pferd im Stall zu rühmen, das man nicht zum Derby schickt, weil man es für zu edel und kostbar dazu hält. Warum denn billig? fragte Crammon, belustigt von dem feudalen Gleichnis, warum Stall, warum Derby, was er damit sagen wolle?
Nun, damit sei ein Bursche gemeint, der noch nichts bewiesen, nichts geleistet habe mit seinen dreiundzwanzig Jahren; dürftig durchs Examen geschlüpft sei; kein Lumen, in keiner Beziehung. Ausgezeichnet gewachsen, das müsse ihm der Neid lassen; elegant im Auftreten, ein Gesicht wie Milch und Blut, wie man so sage; von bestrickendem Wesen, ohne allen Zweifel, so bestrickend, daß kein Mann und kein Weib ihm widerstehen könne; aber kalt wie eine Hundeschnauze und glatt wie ein Fisch; und maßlos verwöhnt, maßlos hochmütig, als ob die ganze Welt eigens für ihn gemacht sei.
»Sie werden ihm schon auch hereinfallen,« schloß Wolfgang; »alle fallen herein.« Das klang beinahe nach Haß.
Es war ein regnerischer Oktoberabend, als sie in Waldleiningen eintrafen. Das Haus war voller Gäste.
7
Schneller als er selbst gedacht haben mochte, erfüllte sich Wolfgangs Vorhersage: schon am dritten Tage waren Crammon und Christian Wahnschaffe ein Herz und eine Seele; die Gespräche, die sie führten, hatten einen Ton der Vertraulichkeit, als kennten sie sich seit Jahren. Der Altersunterschied von beinahe zwei Dezennien schien einfach nicht vorhanden.
Crammon erinnerte Wolfgang lachend an seine Prophezeiung und fügte hinzu: »Ich wünsche, daß mir nie Übleres verkündet und das Angenehme stets so prompt verwirklicht wird.« Bei diesen Worten spuckte er zuerst nach rechts, dann nach links; er war abergläubisch wie ein altes Weib.
Wolfgang machte ein Gesicht, als wolle er sagen: ich war darauf gefaßt; konnte es anders kommen?
Crammon hatte in Christian ein verzärteltes Muttersöhnchen zu sehen erwartet; statt dessen sah er einen durch und durch gesunden, blonden jungen Athleten, der ihn um anderthalb Kopflängen überragte, sich seiner Kraft und Schönheit ohne eine Spur von Eitelkeit bewußt war und von froher Laune strahlte. Es erwies sich als wahr: alle machten ihm den Hof, von seiner Mutter an bis zum letzten Stallburschen, aber er nahm es hin wie schönes Wetter, unbefangen, ganz leicht, verbindlich, ohne sich zu binden.
Crammon liebte Jünglinge, wenn sie so elastisch waren wie Pantherkatzen und ihre Heiterkeit die Stimmung der übrigen Menschen verwandelte wie ein köstliches Aroma die Luft einer Krankenstube. Sie erschienen ihm als hochbegnadete Wesen, denen man alles aus dem Weg zu räumen hat, was ihre segensreiche Mission hemmen könnte, und denen er nicht zu imponieren, sondern von denen er zu lernen bemüht war.
Nur in England und bei Engländern hatte er diese Achtung vor der Jugend, vor dem werdenden Mann gefunden, die ihm längst Grundsatz und Lebensregel war. Er sagte sich, daß das Klima eines gepflegten Verständnisses für ein solches Menschenwesen das geeignetste wäre, und schmiedete insgeheim seine Pläne. Er dachte an eine Kavalierstour im Stil des achtzehnten Jahrhunderts, bei der er die Rolle des Mentors zu übernehmen hätte.
Indessen unterhielt er sich mit Christian über die Jagd, das Forellenfischen, über die verschiedenen Arten der Zubereitung von Wildbret, über die Vorzüge der einen Jahreszeit vor der andern, über die zahlreichen Reize des weiblichen Geschlechts und über lächerliche Eigenschaften gemeinsamer Bekannten; immer mit tiefsinniger Miene und erschöpfender Gründlichkeit.
Sooft er Christian betrachtete, mußte er denken: was für Augen, was für Zähne, was für Kiefer, was für Beine! Da hat die Natur ihr edelstes Material hergegeben, ebenso auf Dauer wie auf Wohlgefälligkeit berechnet; ein Meister hat die einzelnen Partien zusammengesetzt; wäre man ein schlechter Kerl, man könnte platzen vor Neid.
Bei einem Auftritt, der ihn entzückte, trieb es ihn, sein Entzücken den andern Zuschauern mitzuteilen. Der Vorfall trug sich im Hof zu, wo sich früh am Morgen die Jagdgesellschaft versammelt hatte. Die Hunde sollten gekoppelt werden, Christian stand allein in der Mitte von dreiundzwanzig Rüden, die mit ohrenbetäubendem Gebell und Gekläff um ihn herum und an ihm emporsprangen; er schwang die kurzstielige Peitsche und ließ sie über ihre Köpfe sausen; die Tiere wurden immer wilder, der zudringlichsten mußte er sich mit den Ellbogen erwehren, der Förster wollte ihm zu Hilfe kommen und schrie in die tobende Schar hinein, Christian winkte ihn lachend zurück, sein verstellter Zorn, alle seine Bewegungen reizten die Hunde; einer, dessen Maul von Schaum troff, schnappte nach ihm, hing mit den Zähnen an seiner Schulter, da schrien die Herumstehenden auf, am lautesten Judith; Christian aber stieß einen kurzen, scharfen Pfiff durch die Zähne, seine Arme sanken, sein Blick hielt zwei, drei der Tiere fest, und alle hörten plötzlich auf zu lärmen, nur die vordersten gaben ein demütiges Gewinsel von sich.
Frau Wahnschaffe trat blassen Gesichts zu ihrem Sohn und fragte, ob er verletzt sei. Er war nicht verletzt; die Joppe zeigte einen langen Riß, das war alles.
»Er muß irgendwie gefeit sein,« sagte am Abend nach dem Souper Frau Wahnschaffe zu Crammon, mit dem sie sich in eine stille Ecke zurückgezogen hatte; »das ist mein einziger Trost, denn seine Tollkühnheit macht mir manchmal Angst. Sie nehmen ja Interesse an ihm, ich habe es mit Vergnügen bemerkt, Herr von Crammon. Lenken Sie ihn doch ein wenig in die Bahn der Vernunft.«
Sie sprach mit hohler Stimme und unbeweglichem Gesicht; ihre Augen blickten starr an den Menschen vorüber. Sie kannte keine Sorgen, hatte sie nie kennengelernt; vielleicht hatte sie auch über die Sorgen andrer niemals nachgedacht; trotzdem hatte noch kein Mensch diese Frau lächeln gesehen; die vollständige Regungslosigkeit, die in ihrem Dasein herrschte, hatte die Bewegungen der Seele auf einen toten Punkt gebracht. Nur in dem Gedanken an Christian bekam ihr Wesen einen Hauch von Wärme; nur wenn sie von ihm sprechen konnte, wurde sie beredt.
Crammon antwortete: »Gnädigste Frau, einen Burschen wie Ihren Christian überläßt man am besten seinem Stern, da ist er in sicherer Hut.«
Frau Wahnschaffe nickte, obwohl ihr das Saloppe an Crammons Ausdrucksweise mißfiel. Sie erzählte, daß Christian, als er noch ein Knabe gewesen, einst zu den Holzfällern in den Forst gegangen sei. Eine mächtige Tanne sei angehauen worden, die Knechte liefen zurück zum Ende des Seils, und wie der Baum schon wankte, gewahrten sie den Knaben. Sie schrien ihm entsetzt zu, sie versuchten dem Fall des Baumes eine andre Richtung zu geben, es war jedoch zu spät, und während einige aus Leibeskräften am Strick zerrten und in ihrem Schreck wie von Sinnen warm, rannten ein paar mit aufgehobenen und deutenden Armen in den Kreis der Gefahr, ihnen voran der Aufseher. Ruhig stand der Knabe da, ahnungslos sah er in die Höhe; den Aufseher traf der stürzende Stamm und zerschmetterte ihn; um Christian hingegen legten sich sanft die Zweige, wie wenn sie ihn nur streicheln wollten, und als die Tanne auf der Erde lag, stand er inmitten der Krone, als hätte er sich hineingestellt, unberührt und ohne Staunen. Die es mitangesehen, sagten, es sei um eines Haares Breite gegangen.
Crammon wurde aber das Bild nicht los, dessen Zeuge er selbst gewesen: den übermütigen Peitschenschwinger unter der entfesselten Hundemeute. Mich dünkt, überlegte er, den Finger an der Nase, ich kann es mir schenken, die jungen Eseltreiber in Cordova lachen zu sehen.
8
Es gab eine Weinstube im Schloß zu Waldleiningen, worin sich gemütlich kneipen ließ. Dort tranken Crammon und Christian eines Abends Bruderschaft. Und als sie die Flasche Liebfrauenmilch geleert hatten, sagte Crammon, es sei eine schöne Nacht, man könnte noch ein wenig im Park spazierengehen. Christian wars zufrieden.
Sie gingen im Mondschein über die Kieswege; Busch und Baum schwammen in silbrigem Duft.
»Nebelglanz und Herbstesfäden, alles, wie's im Buch steht,« sagte Crammon.
»In welchem Buch?« erkundigte sich Christian.
»Na, im Gedichtbuch, mein ich.«
»Liest du denn Gedichte?« fragte Christian neugierig.
»Hin und wieder mal,« antwortete Crammon, »wenn mirs in der Prosa nicht mehr gefällt. Da zahl ich dann dem Weltgeist meine Schulden ab.«
Sie setzten sich auf eine Bank unter eine mächtige Platane. Christian schaute eine Weile schweigend vor sich hin, dann richtete er unvermittelt die Frage an Crammon: »Sag mal, Bernhard, was ist das eigentlich, wovon die meisten Leute so viel Aufhebens machen: der Ernst des Lebens –?«
Crammon lachte leise vor sich hin.
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